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Eindosierung von Medikamenten bei ADHS

Inhaltsverzeichnis

Eindosierung von Medikamenten bei ADHS

Wie alle Darstellungen zu Medikamenten bei ADxS.org sind auch diese Informationen allein aus dem wissenschaftlichen Blickwinkel zusammengestellt. Sie dienen nicht zur Selbstmedikation, sondern dazu, gut informiert mit dem behandelnden Arzt sprechen zu können und dessen Anweisungen zu verstehen.
Jede konkrete Behandlung muss die Weisungen des behandelnden Arztes für den jeweiligen Einzelfall beachten.

Eine optimale Medikation bei ADHS erfordert häufig eine sehr individuelle und feinstufige Eindosierung und Anpassung. Eine rein schematische Medikation ist bei ADHS nicht möglich.
Die Einstellung der optimalen Dosierung von Medikamenten bei ADHS hängt von der Art der Medikamente ab.

1. Wahl des Wirkstoffs

Siehe hierzu unter Wahl des Medikaments bei ADHS oder ADHS mit Komorbidität

2. Eindosierung von Stimulanzien

2.1. Grundlagen der Eindosierung von Stimulanzien

Grundsätzlich ist eine Aufdosierung, die mit niedrigen Dosen beginnt und diese flexibel und individuell erhöht, gegenüber einer Gabe fixer Dosen deutlich im Vorteil.1 Dies ist bereits seit den 70er-Jahren bekannt2 und wird durch eine neue, umfangreiche Metastudie3 bestätigt. Auch Studien verwenden eine langsame Eindosierung, um Nebenwirkungen zu vermeiden.4
Bei MPH wie bei AMP steigt zusammen mit der Dosishöhe einerseits die Wirksamkeit und andererseits die Wahrscheinlichkeit des Absetzens aufgrund von Nebenwirkungen. In Studien mit fixer Dosierung nahm der zusätzliche Wirksamkeitsnutzen ab 30 mg MPH oder 20 mg AMP ab.

Mehr ist nicht besser. Für jeden Betroffenen muss die individuell passende Dosis mit optimaler Symptomverbesserung und geringen Nebenwirkungen durch Versuch und Irrtum gesucht werden.5

Dass die in der Praxis deutlich weniger geeignete Vorgehensweise mit festen Dosen teilweise immer noch anzutreffen ist, scheint auch daraus zu resultieren, dass die FDA für die Medikamentenzulassung Studien mit fixen Dosen fordert. Diese Zulassungsstudien zielen allerdings nicht auf die klinische Praxisanwendung.
Zur Bestimmung der unteren Grenze des therapeutischen Bereichs sind Studiendesigns sinnvoller, in denen verschiedene Patientengruppen jeweils Dosen erhalten, die zu einer zuvor definierten Blutkonzentrationsbereich des Arzneistoffs führen.6 Als positives Beispiel wurde die Clozapin-Studie von VanderZwaag et al genannt.7 Aufgrund der logistischen Aufwands und der daraus resultierenden Kosten werden zur Ermittlung der unteren Grenze des therapeutischen Referenzbereichs Studien mit fixer Dosis bevorzugt.

Die Leitlinien in Deutschland und USA arbeiten nicht mit fixen Dosen, sondern sehen eine Aufdosierung vor.
Nach unserer Erfahrung empfiehlt sich eine Vorgehensweise, die noch etwas langsamer vorgeht, als dort vorgesehen ist.

Leitlinienempfehlungen zur Aufdosierung

In der deutschen S3-Leitlinie 2018 heißt es:
“Ziel ist eine möglichst niedrige Dosierung zu implementieren. Dies wird auch das Problem der unerwünschten Wirkungen (…) reduzieren bzw. vermeiden. Unter diesen Bedingungen kann ausgehend von einer niedrigen Einstiegsdosis die Dosis graduell so lange erhöht werden, bis keine weitere klinisch signifikante Verbesserung der Symptomatik (z.B. auf der Ebene der Kernsymptome, aber auch im Sinne einer Änderung von Problemverhalten) zu erreichen ist und die unerwünschten Wirkungen tolerabel bleiben.”8

In der Leitlinie 2009 hieß es:“Bei Stimulanzien: Keine strenge Korrelation zwischen Körpergewicht und notwendiger Dosis!(Evidenzgrad IIa). Immer individuelle Titration. Die angegebenen mg/kg KG sind Durchschnittswerte und können individuell unter- oder überschritten werden.”9

MPH:
Während die Leitlinien bei MPH eine Eindosierung in 10 mg-Titrationsschritten von halbtagesretardiertem MPH vorsehen, halten wir mit Kühle halb so hohe Titrationsstufen für sinnvoll - auch wenn diese die Geduld mancher Betroffener herausfordert. Hierfür kann unretardiertes MPH (2,5 mg / Einzeldosis) oder retardiertes MPH (5 mg / Einzeldosis, was aufgrund der doppelten Wirkdauer 2 nacheinander genommenen Dosen von 2,5 mg unretardiertem MPH entspricht) verwendet werden.

AMP:
Beim in Deutschland für Erwachsene häufig verschriebenen Elvanse ist die kleinste Dosis für Kinder 20 mg und - bis 2023 - für Erwachsene 30 mg, ab 2023 auch 20 mg. Hier begegnete uns noch häufiger als bei MPH, dass diese kleinste Kapseldosis für einen relevanten Anteil der Betroffenen bereits zu viel war. Wir kennen eine nennenswerte Anzahl Erwachsener, die - teils deutlich - weniger als 20 mg / Dosis benötigen und eine weitere nennenswerte Anzahl, deren benötigte Dosis zwischen diesen 10 mg - Schritten liegt und die mit der niedrigeren Kapsel unter und der höheren Kapsel überdosiert sind. Viele davon haben durch ein - entgegen der Herstellerinformation im Beipackzettel - durchgeführtes Teilen der Kapseln die für die passende Dosierung gefunden. Dass der Hersteller in 2023 die bisher für Erwachsene angebotenen Dosen von 30, 50 und 70 mg um 20, 40 und 60 mg ergänzt hat, deckt sich mit unseren Erfahrungen und könnte für manche - aber kaum für alle - Betroffene die Notwendigkeit eines nicht zulassungskonformen Kapsel-Teilens obsolet machen.

Ärzte können im Rahmen individueller Heilversuche von den Angaben der Hersteller abweichen.
Für Betroffene maßgeblich ist ganz ausdrücklich die vom jeweiligen Arzt verschriebene Anwendungsweise.
Die hier mitgeteilten Erfahrungen dienen zur Information und zur Besprechung mit dem verschreibenden Arzt.

Die amerikanische “Clinical Practice Guideline for the Diagnosis, Evaluation, and Treatment of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Children and Adolescents” der American Academy of Pediatrics von 2019 empfiehlt, dass MPH mit einer niedrigen Dosis begonnen werden sollte, insbesondere bei Kindern, da sie das Medikament langsamer verstoffwechseln und unterschiedlich darauf ansprechen. Die Dosis sollte dann in 7-Tages-Schritten (in dringenden Fällen in 3-Tages-Schritten) stufenweise erhöht werden, um eine Zieldosis mit optimaler Wirksamkeit und minimalen Nebenwirkungen zu erreichen.10 Dosierungsstufen nennt diese Leitlinie nicht.

Siehe auch die Darstellung verschiedener internationaler Leitlinien zur Eindosierung von MPH, die durchgängig einen Beginn mit niedriger Dosis und überwiegend eine wöchentliche Titration nach individuellem Ansprechen empfehlen.

Beipackzettel von OROS-MPH (Concerta, einem Ganztages-Retard-MPH) in den USA und Japan empfehlen für Kinder und Jugendliche mit ADHS eine Startdosis von 18 mg/Tag und eine Aufdosierung in Schritten von 9 oder 18 mg. Diese Empfehlungen stammen in erster Linie aus klinischen Studien.1112
In den USA ist Start mit einer höheres Tagesdosis zwar häufiger und eine Aufdosierung seltener als z.B. in Japan, jedoch ist solch ein Vorgehen in den USA keineswegs klinischer Standard.13

2.1.1. Unretardierte oder retardierte Stimulanzien

Eine MPH-Eindosierung kann mit unretardiertem MPH oder retardierten Wirkstoffen erfolgen.
Die Eindosierung mit unretardiertem MPH ist häufig. Eine Eindosierung mit retardiertem MPH wird ebenso vertreten.14
In Anbetracht der positiven Erfahrungen von ADHS-betroffenen Erwachsenen mit ADHS erwarten wir, dass sich Elvanse in Europa mittelfristig auch zur Eindosierung von Erwachsenen durchsetzen dürfte. In den USA ist eine Eindosierung mit lang wirksamen Amphetaminsalzen häufig (Adderall XR).

2.1.2. Höhe der Erstdosis

Grundsätzlich muss die passende Dosis für jeden Betroffenen individuell ermittelt werden. Daher sind Studien, die statistisch die “optimale” Dosis von Stimulanzien ermitteln, für die individuelle Behandlung nur bedingt hilfreich.
Stimulanzien wirken dosisabhängig.15

  • niedrige Dosen aktivieren selektiv die Noradrenalin- und Dopamin-Neurotransmission im PFC (Arbeitsgedächtnis, Exekutivfunktionen, Inhibition, Emotionsregulation)
  • höhere Dosen erhöhen den Efflux von Dopamin und Noradrenalin im gesamten Gehirn und adressieren damit auch das Striatum (Antrieb, Motivation). Aufmerksamkeitsprobleme entstehen bei ADHS maßgeblich durch einen Selbstmotivierbarkeitsmangel (weshalb Aufmerksamkeit für intrinsisch interessante Dinge funktionieren, für intrinsisch uninteressante Dinge dagegen nicht). Da Stimulanzien in höheren Dosen auch im Striatum Dopamin und Noradrenalin erhöhen, erhöhen sie dann auch Antrieb und Aufmerksamkeit. Atomoxetin, das Dopamin lediglich im PFC erhöht, hat diese Wirkung nicht.

Im Allgemeinen werden Stimulanzien mit den niedrigsten verfügbaren Dosen eindosiert (2,5 mg unretardiertes MPH udrch telung von öheren Tabletten, 5 mg bei MPH-Halbtages-Retard-Präparaten , 18 mg bei Concerta, 5 mg bei Adderall XR-Kapseln etc.). In der Folge wird die Dosis in gleichen Schritten erhöht, bis der optimale Nutzen erreicht ist. Bei der Dosis mit der optimalen Symptomverbesserung berichten die meisten erwachsenen ADHS-Betroffenen nur wenige Nebenwirkungen außer einer leichten und vorübergehenden Appetitlosigkeit.5

  • niedrige Einstiegsdosis (2,5 mg unretardiertes MPH / Einzeldosis oder Äquivalent bei anderen Medikamenten)1617 oder 5 mg halbtagesretardiertes MPH18
  • mindestens 5 Tage / Dosisstufe
  • Aufdosierungsschritte max. 2,5 mg unret. MPH / Einzeldosis
  • optimale Dosis ist sehr individuell1617
  • Auswirkung langsamer Eindosierung:
    • vermindert Nebenwirkungen
    • verhindert Überspringen der passenden Dosis aufgrund der teilweise sehr schmalen therapeutischen Bandbreite1617
      In Deutschland wurde 2004 eine Eindosierung mit 5 mg unretardiertem MPH für Schulkinder empfohlen. 19 Dies war zu jener Zeit die kleinste verfügbare MPH-Dosis. Erst zwei Jahre später erfolgte die erste Zulassung eines 5 mg Halbtagesretard-Präparates (Medikinet retard 5 mg).

Das Äquivalent von 5 mg unretardiertem MPH bei Elvanse sind 10 mg. Bei einer Eindosierung in 2,5 mg-Schritten unretardiert oder 5 mg retardiert sind das entsprechende Äquivalent 5 mg Elvanse-Schritte.2021 Eine weitere Umrechungstabelle, insbesondere für amerikanische Präparate, findet sich bei Stutzman et al.22

Es gibt Berichte von Betroffenen über Eindosierungsnebenwirkungen auch bei niedrigen Startdosen. Die Häufigkeit ist unbekannt, ebenso, ob diese nicht auch (oder gar: erst recht) bei einer Eindosierung mit höheren Startdosen aufgetreten wären.
Eindosierungsnebenwirkungen sind bei Stimulanzien grundsätzlich ungefährlicher als Überdosierungsfolgen und können sich durch kontrolliertes Aufdosieren bessern, weshalb wir gleichwohl eine geringere Initialdosis für sinnvoller halten.
Betroffene, die grundsätzlich robust gegenüber Medikamenten reagieren, könnten auch mit höheren Startdosen (wie z.B. den in der Fachinformation empfohlenen 30 mg Elvanse bei Erwachsenen oder 10 mg Medikinet retard) zurechtkommen. Sie sollten jedoch in Betracht ziehen, dass auch 30 mg Elvanse bereits über der optimalen Zieldosis liegen können und bei entsprechenden Anzeichen eine niedrigere Dosierung in Betracht ziehen.
Bei der Medikamentenwirkungsdauerumfrage von ADxS (Stand 19.12.23) haben von 223 Elvanse-Nutzern 13 % eine optimale Dosis unterhalb von 30 mg angegeben und 11,7 % eine optimale Dosis von 20 mg oder weniger. 1,8 % gaben 10 mg oder weniger an. Die 11,7 % mit 20 mg oder weniger hatten ein Durchschnittsgewicht von 71 kg und ein Durchschnittsalter von 40 Jahren.

Betroffene, die eine bekannte erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Medikamenten haben, sollten mit niedrigen Startdosen beginnen. Hier ist es allerdings wichtig, dass diesen bewusst ist, dass

  • eine konstante und konsequente Aufdosierung alle 5 bis 7 Tage bis zur vom Arzt vorgegebenen Zieldosis zwingend notwendig ist, um den Nutzen von Stimulanzien beurteilen zu können (und ein vorheriges “aussteigen” oft weniger eine Medikamentenunverträglichkeit als vielmehr die Ungeduld des Betroffenen dokumentiert) und
  • etwa doch auftretende Eindosierungsnebenwirkungen sich bei höheren Dosierungsstufen verringern können.

Bei besonderes (medikamenten-)ängstlichen Betroffenen ist zu überlegen, ob ein Hineinspringen in die Zieldosis nicht zu bevorzugen ist, weil die bei jeder Erhöhung der Dosis neu auftretenden Sorgen um mögliche Nebenwirkungen das Risiko von Plazebo-Nebenwirkungen erhöhen könnten.

Letztendlich ist es wie bei der Frage, ob man bei dem Weg durch einen dichten Wald links oder rechtsherum um einen Baum geht. Manchmal ist links davon ein Dornengebüsch, manchmal rechts davon ein Graben - und manchmal sogar beides. Beide Wege können ans Ziel führen, aber man sollte die Tücken des jeweiligen Weges kennen.

2.1.3. Eindosierungsstufen: Kleine Stufen besser als große Stufen

Die Behandlung von ADHS bei Kindern beginnt ausgehend von einer niedrigen Dosis unter langsamer Dosissteigerung

Unserer Ansicht nach ist eine kleinschrittigere Aufdosierung gegenüber der derzeit üblichen Aufdosierung im 10 mg / Halbtagesretard-MPH-Dosis-Schritten deutlich im Vorteil, woraus sich die nachfolgenden Eindosierungsempfehlungen ableiten. Die üblicherweise empfohlene Stufenlänge von 7 Tagen kann damit auf 4 bis 5 Tage verkürzt werden, sodass sich die Gesamtgeschwindigkeit der Aufdosierung nur wenig ändert.

Für den Beginn mit einer niedrigen Dosis unter niedriger Dosissteigerung auch Mutschler.23
“Unerwünschte Nebenwirkungen sind vor allem zu Beginn der Behandlung zu erwarten, weswegen die Dosierung schrittweise erhöht werden sollte.”24
Zwar erlitten rund drei Viertel der mit MPH eindosierten Betroffenen keinerlei Nebenwirkungen25 - trotzdem sollte diese Quote durch langsame Titration verringert werden.

Eine langsame Titration der ADHS-Medikamente in kleinen Dosisstufen hat verschiedene Zwecke:

  • niedrige Stimulanziendosen wirken andere und auf andere Gehirnregionen als hohe Dosen
    • niedrig dosiertes MPH wirkt nur noradrenerg, erst höher dosiertes MPH wirkt auch dopaminerg. Mehr hierzu unter Wirkungsweise von Methylphenidat im Beitrag MPH Teil 1: Wirkstoffe, Wirkung, Responding.
    • niedrig dosiertes D-Amphetamin (von 0,5 bis 1 mg / kg bei Ratten, was ca. 0,2 bis 0,6 mg / kg bei Menschen entspricht), verringert die (Hyper-)aktivität, während höhere Dosen den Antrieb erhöhen26
    • Noradrenalin und Dopamin haben sehr eng verwandte Rollen bei der Verbesserung von ADHS-Symptomen. Was bei einem Betroffenen besser wirkt, muss individuell ausgetestet werden
    • Auch bei starker Symptomatik kann individuell eine sehr geringe Dosis passend sein.27 Huberman berichtet einen Einzelfall einer optimalen Tagesdosis von 2,5 mg Adderall (Frau mit 150 kg).28 0,3 mg/kg zeigten bei Kindern mit ADHS eine größere Leistungsverbesserung in Lernaufgaben als 1 mg/kg, 1 mg/kg zeigten besseres soziale Bewertung durch Lehrer und weniger Sitzunruhe bei hyperaktiven Kindern, aber eine schlechtere Lernleistung als Placebo.29 Wir kennen mehrere Betroffene, für die eine Einzeldosis von 1,25 mg unretardiertem MPH optimal ist.
  • das vorsichtige Gewöhnen des Körpers an den Wirkstoff zur Vermeidung von Nebenwirkungen, die zu einem vermeidbaren Absetzen der ADHS-Medikamente führen könnten.3031
  • Eine zu hohe Dosierung führt zu einem Wiederauftreten der bei der passenden Dosierung vermiedenen ADHS-Symptome (Inverted-U).32
  • Unerwünschte Nebenwirkungen steigen jenseits der optimalen Dosis deutlich an.33

Uns liegen jedoch auch einzelne Berichte Betroffener vor, bei denen niedrige Dosisstufen starke Nebenwirkungen verursachten, die bei höheren Dosen verschwanden. Wir wissen allerdings nicht, ob die Nebenwirkungen von der niedrigen Dosis oder aus der Erstdosierung an sich resultierten.

Langsames Aufdosieren bei anderen Medikamentenklassen und bei ADHS-Medikamenten

Langsames Aufdosieren ist bei vielen (anderen) Medikamentenklassen hilfreich,3435363738394041424344454647484950515253545556 während eine Gleichwertigkeit von schneller zu langsamer Aufdosierung575859 oder Nachteile einer langsameren Aufdosierung60 über das spätere Einsetzen der vollen Wirkung hinaus in Studien sehr viel seltener berichtet werden.
Auffällig ist, dass ein langsames Eindosierung bei geriatrischer Medikation einen besonderen Stellenwert zu haben scheint. Möglicherweise ist die Erfahrung der klinischen Praxis zu Stimulanzien noch aus der Zeit geprägt, als vorwiegend Kinder behandelt wurden. Unsere überwiegend von erwachsenen Betroffenen geprägten Erfahrungen mit Erwachsenen zeigen jedenfalls, dass eine langsame Aufdosierung von Stimulanzien vorteilhaft ist.

Erstaunlicherweise konnten wir zu Stimulanzien bei ADHS keinerlei Studien zur Auswirkung einer kleinstufigeren Eindosierung von Stimulanzien auf Nebenwirkungen oder die Bestimmung der optimalen Dosis finden, obwohl unsere Erfahrungen ebenso wie die anderer303127 hierzu recht deutlich sind.
Eine Studie zur Nutzung von MPH bei Altersdepression berichtet von Vorteilen einer langsamen Aufdosierung.61
Zwar existieren Studien zu ADHS, bei denen MPH titriert wurde.62 Diese scheinen jedoch eher auf die maximale Wirksamkeit als auf eine Vermeidung von Nebenwirkungen abgestellt zu haben. Zudem berichten nicht alle Studien über die Dosierungsschritte.63
Studien zur langsamen oder schnellen Aufdosierung von ADHS-Medikamenten betrafen lediglich Atomoxetin, wobei eine langsamere Titration Nebenwirkungen reduzierte.64
Möglicherweise wird die ADHS-phänotypische Ungeduld der Betroffenen ein Hindernis für eine langsame Eindosierung wahrgenommen.
Da keine Nachteile einer langsamen Aufdosierung von ADHS-Medikamenten berichtet werden, sollte unserer Ansicht nach vor allem das Risiko vermieden werden, dass ein ADHS-Medikament zu Unrecht aufgrund einer vermeintlichen Unverträglichkeit abgesetzt wird, weil dies das Leben eines Betroffenen massiv beeinträchtigen würde.

2.1.4. Geschwindigkeit der Eindosierungsstufen: 5 bis 7 Tage / Stufe

Rein wirktechnisch betrachtet könnte das Auftitrieren schnell erfolgen, da Stimulanzien sofort wirksam sind, sobald sie das Gehirn erreichen. Klinisch gesehen könnte die Dosis täglich erhöht werden, da alle Wirkungen und Nebenwirkungen einer unretardierten Dosis 1 Stunde nach der Einnahme sichtbar werden. Lässt die Dosis nach, gibt es keinen weiteren oder akkumulierten Nutzen.5
Etliche Argumente sprechen unserer Ansicht nach jedoch gegen deutlich gegen eine tägliche Aufdosierung:

  • Die Wirkung retardierter Medikamente muss über den Tagesverlauf beobachtet werden
  • Die Wahrnehmung der Wirkung erfolgt nicht durch den Arzt, sondern durch die Betroffenen selbst
  • Betroffene haben keine Erfahrung und wissen daher nicht, worauf sie achten müssen
  • Betroffene können Placeboeffekte erleiden, die stark von der subjektiven Einstellung zum Medikament abhängen, und die erst nach etlichen Tagen von der tatsächlichen Wirkung unterschieden werden können
  • Individuelle Tageseinflüsse können die Ergebnisse verfälschen
  • Bei Frauen ist der aktuelle Zyklusstand zu berücksichtigen
  • je länger ein Medikament wirkt (Retardierung, Prodrug), desto länger sollten die Stufens ein. Bei Lisdexamfetamin wird der Steady State offenbar an Tag 5 erreicht.65 Daraus folgt, dass bei der Eindosierung von Lisdexamfetamin (Elvanse) Dosistitrationen nicht unterhalb eines Wochenrhythmus erfolgen sollten.
  • Dosisschritte von mehreren Wochen verbessern die Eindosierung jedoch nicht und verlängern lediglich die Dauer bis zur passenden Dosierung. Sie überfordern meist lediglich unnötig die bei ADHS-Betroffenen ohnehin beschränkte Geduld.

Daher raten wir von 1-Tages-Dosisschritten dringend ab. Dies gilt auch bei stationärer Eindosierung, wenn auch die Dauer der Stufen dort reduziert werden kann.

Wir empfehlen Betroffenen, tägliche Aufzeichnungen über die Einnahme, die Symptome und die Nebenwirkungen zu führen (z.B. mittels der Eindosierungshilfetabelle aus dem ADHS-Forum von AdxS.org), diese jedoch nie tagesweise zu bewerten, sondern stets einen 3-Tages-Schnitt zu bilden. Daraus folgt, dass eine Stufe 3 bis 419 (wir meinen; oder 5 bis 7 Tage) benötigt, um eine Bewertung zuzulassen.
Die von manchen Ärzten praktizierten Stufendauer von 1 Monat halten wir für wenig sinnvoll. Sie bringt keinerlei Vorteil und ist möglicherweise nur erforderlich, um zu großschrittige Eindosierungsstufen auszugleichen.

Ein deutsches Eindosierungsschema für Schulkinder mittels unretardiertem MPH sah vor:19 Diese Empfehlung stammt jedoch aus 2004, als 5 mg unretardiertes MPH die kleinste verfügbare MPH-Dosis darstellte und es die heutigen erprobten Retardpräparate noch nicht gab. Erst zwei Jahre später erfolgte die erste Zulassung eines 5 mg Halbtagesretard-Präparates (Medikinet retard 5 mg, 2006).)

Dauer Morgens Mittags
3 Tage 5 mg -
4 Tage 10 mg -
Arztgespräch zur Beurteilung
5 - 8 Tage 10 mg 5 mg
weitere individuelle Dosistitration in 5 - 8 Tage-Schritten

Die meisten Kinder benötigen 10 - 20 mg vormittags und 5 bis 10 mg am frühen Nachmittag.
Bei Bedarf auch 3 Dosen Morgens / Spätvormittags / Nachmittags.

2.1.5. Zieldosierung

Die für einen Betroffenen optimale Dosierung eines an sich passenden Wirkstoffes und Präparates muss in zwei Dimensionen individuell ermittelt werden:66

  • Einzeldosishöhe
  • Tagesdosenanzahl

In Anbetracht der unzureichenden Flexibiltät der deutschen Zulassungskriterien führt dies dazu, dass häufig eine Off-Label-Anwendung erforderlich ist.
Dies ist für Betroffene wie für Ärzte unbefriedigend und in Anbetracht der weltweit eindeutigen Erfahrungen von ADHS-Experten und der Studienlage eine nur schwer erträgliche Beeinträchtigung der optimalen Versorgung der Betroffenen.

2.1.5.1. Zielfaktor 1: Höhe der Einzeldosis

Die “optimal Dosis” sollte unserer Auffassung nach die niedrigste Dosis sein, die eine optimale therapeutische Wirkung verursacht. Manche Leitlinien empfehlen stattdessen die Dosierung, ab der sich keine weitere Verbesserung ergibt.33 Letzteres übersieht unseres Erachtens, dass zwei Dosen eine gleich gute Wirkung haben können. Vor dem Hintergrund, dass rund 30 % der Betroffenen ihre Medikation innerhalb von 12 Monaten und rund 50 % innerhalb von 2 bis 3 Jahren wieder abbrachen67, bei Kindern und Jugendlichen sogar noch mehr,6869, sollte auf möglichst niedrige Nebenwirkungen Wert gelegt werden.

Da sich ausgeprägte individuelle Unterschiede in Bezug auf das Dosis-Wirkungs-Muster finden, muss die optimale Dosis individuell ermittelt werden. Dabei geht die Kunst der Behandlung mit MPH (und Stimulanzien insgesamt) deutlich über eine bloße “Feinabstimmung der Dosierung” hinaus.33

2.1.5.1.1. Dosierung nicht pauschal oder nach Körpergewicht

Die optimale Zieldosis ist bei ADHS sehr individuell und nicht pauschal ermittelbar.

Die Fehlannahme, Stimulanzien seien im Verhältnis zum Körpergewicht zu dosieren, wird erfreulicherweise inzwischen seltener verbreitet.
Da individuell unterschiedlich zwischen 11 % und 43 % des eingenommenen Methylphenidats im Blut ankommen, macht eine Pauschalierung nach Gewicht keinen Sinn.5
Es mag ein statistisches Mittel geben, welche Dosierung bei welchem Körpergewicht häufiger passend sein könnte. Da die individuellen Schwankungen jedoch so groß sind, ist jede Eindosierung eine individuelle Angelegenheit. Ein pauschales Abstellen auf einen statistischen Mittelwert wäre ein Behandlungsfehler.

Es wird gleichwohl berichtet, dass bei Adipositas häufiger die Maximaldosis von 1 mg/kg benötigt werde.70

2.1.5.1.2. Optimale Einzeldosis kann unter niedrigster Standarddosis oder über Standard-Obergrenze liegen

Bestimmte Gruppen brauchen häufig niedrigere Zieldosis als üblich. Häufig genannt werden hier:

  • unaufmerksamer Subtyp
  • komorbides ASS
  • Erwachsene benötigen häufig geringere Dosierungen als Jugendliche oder Kinder.

Das schließt jedoch nicht aus, dass Betroffene aus diesen Gruppen sehr hohe Dosen benötigen können.
In Einzelfällen kann die optimale MPH- oder AMP-Dosis unterhalb von 5 mg / Tag liegen.
Huberman berichtet einen Einzelfall einer optimalen Tagesdosis von 2,5 mg Adderall bei einer Frau mit 150 kg Körpergewicht und erforderliche Tagesdosen von 180 bzw. 210 mg Adderall bei zwei Schwestern mit 60 und 70 kg Körpergewicht.28 Auch wir kennen einzelne Fälle, bei denen erst extrem hohe Dosen Elvanse (mehrere hundert mg / Tag und 50 mg als erforderliche Schlafmedikation nachts) eine angemessene Wirkung und erhebliche Verbesserung erzielten. Später stellte sich einer dieser Fälle als eine chronische Vergiftung mit Stickoxiden in der Atemluft bzw. eine besondere Empfindlichkeit hierauf heraus. Derart hohe Dosen dürfen nur bei engmaschiger Betreuung durch einen erfahrenen Arzt angewendet werden. Vor Selbstversuchen muss sehr dringend gewarnt werden.

Bei der Medikamentenwirkungsdauerumfrage von ADxS (Stand 19.12.23) haben von 223 erwachsenen Elvanse-Nutzern 13 % eine optimale Dosis unterhalb von 30 mg angegeben und 11,7 % eine optimale Dosis von 20 mg oder weniger. 1,8 % gaben 10 mg oder weniger an. Die 11,7 % mit 20 mg oder weniger hatten ein Durchschnittsgewicht von 71 kg und ein Durchschnittsalter von 40 Jahren.

Die optimale Dosishöhe kann die Standardhöchstdosis überschreiten (insb. Schnellverstoffwechsler). Dies gilt für Methylphenidat ebenso wie für Amphetaminmedikamente.66
Bei MPH liegt Standardhöchstdosis bei 60 mg / Kinder oder Jugendliche / Tag und bei 80 mg / Erwachsene / Tag
Eine Dosierungsobergrenze von 1 mg / kg MPH ist im Regelfall ein guter Anhaltspunkt zur Vermeidung von erhöhten Nebenwirkungen. In Einzelfällen (bei entsprechend schneller Verstoffwechselung) werden jedoch auch deutlich höhere Dosierungen benötigt und vertragen.
Faraone und Biederman berichteten als Erfahrungswert für unretardiertes MPH bei Erwachsenen 3 bis 5 Gaben zu je 10 bis 20 mg. Als Höchstdosis einer Einzelgabe MPH IR nannten sie dabei 30 mg.71

Es ist nachdrücklich davor zu warnen, das erste Eintreten einer Verbesserung bereits als Marke für eine passende Dosishöhe oder willkürliche Dosen als Zieldosen misszuverstehen.72 Es sollte so lange geduldig weiter gesteigert werden, bis zwei aufeinander folgende Dosen Verschlechterungen gezeigt haben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine höhere Dosis schlechter wirkt als die nächstniedrigere Dosis, während die noch eine Stufe höhere Dosis wieder eine deutliche Verbesserung erbringt.

2.1.5.1.3. Maximaldosis

Häufig wird eine Maximaldosis von 1 mg/kg Körpergewicht oder 60 mg / Tag für Kinder und 80 mg / Tag für Erwachsene genannt. Es gibt jedoch keine wissenschaftliche Evidenz für diese Höchstdosen. Die Nennung dieser Werte stammt überwiegend von den Herstellern, die damit naturgemäß auch Eventualrisiken vermeiden wollen, um Haftungsrisiken zu verringern.

Als Faustregel gilt, dass Patienten keine MPH-Dosen von mehr als 150 mg/Tag erhalten sollten.7374

Eine Krankenhauseinweisung aufgrund einer möglichen Überdosierung bei Kindern ist ab 3 mg/kg angezeigt,75 Der Laborwarnwert liegt bei 50 ng/ml.76

Offenkundig ist, dass einzelne Betroffene deutlich höhere Tagesdosen als 60 oder 80 mg benötigen. Richtig ist, dass in diesen Fällen ein engmaschigeres Monitoring sinnvoll ist. Eine pauschale Ablehnung einer für eine angemessene Wirkung erforderlichen Dosierung von bis zu 150 mg / Tag ist jedenfalls nicht gerechtfertigt.

2.1.5.2. Zielfaktor 2: Ganztagesabdeckung / Anzahl der Einzeldosen
2.1.5.2.1. Ganztagesabdeckung als Ziel

Ziel sollte eine Ganztagesabdeckung sein7778798081, also eine Abdeckung von 12 bis 16 Stunden.8281
Die benötigte Dauer der Medikamentenabdeckung über den Tag wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst.5
Hier sind hier zu unterscheiden:

  • Aufmerksamkeits- und Organisationssymptome (Medikation nach Bedarf vertretbar, sofern der Betroffene dies bevorzugt)
    • Länge des Schul- oder Arbeitstages
    • Fordernde Situationen außerhalb der Arbeit (Veranstaltungen, soziale Events)
  • Impulsivität und Emotionale Dysregulation (Ganztagesabdeckung 24/7 erforderlich; ggf. Kombination mit ATX / Guanfacin)
    • Bedarf einer Medikation zur erträglichen Gestaltung des sozialen Lebens

ADHS endet jedenfalls nicht nach der Schule.

  • eine Behandlung sollte nicht nur eine Schulfähigkeit herstellen
  • Hausaufgaben, Sozialleben und Familienleben leiden unter ADHS ganz erheblich
  • unmedikamentiertes ADHS geht mit einem deutlich erhöhten Unfallrisiko einher, das sich in einer um 9 Jahre verringerten Lebenswertwartung niederschlägt. Dies nicht zu behandeln ist objektiv nicht vertretbar. Siehe hierzu im Kapitel Folgen von ADHS.
2.1.5.2.2. Anzahl der für Ganztagesabdeckung erforderlichen Einzeldosen

Die für eine Tagesabdeckung erforderliche Anzahl der Einzeldosen eines an sich passenden Wirkstoffs und Präparates muss individuell ermittelt werden.66 Bei MPH besteht kein Zusammenhänge zwischen Dosishöhe und Wirkdauer einer Einzeldosis83, während bei Lisdexamfetamin eine höhere Einzeldosis auch die Wirkdauer der Einzeldosis verlängert.

Wird eine Tagesabdeckung mit einer Einzeldosis eines Präparates nicht erreicht:

  • Mehrfacheinnahme über Tag verteilt (bis hin zu 3 Halbtagesretard-Präparate-Dosen)
  • Retardierte Präparate lassen sich auch durch unretardierte ergänzen
  • Eine Ganztagesabdeckung kann die Kombination von retardierten und unretardierten Stimulanzien erfordern.84

Die Befürchtung, dass stimulierende Medikamente den Schlaf beeinträchtigen würden, ist nur selten begründet.5 In der Regel verbessern Stimulanzien die Schlafqualität von ADHS-Betroffenen. Mehr hierzu unter Behandlung von Schlafproblemen bei ADHS

2.1.5.2.3. Individuelle Wirkdauer einer Einzeldosis kann stark verkürzt / verlängert sein
2.1.5.2.3.1. Herstellerangaben

Herstellerangaben zur Wirkdauer (in der Praxis selten erreicht)1617

  • unretardiertes MPH wirkt 2,5 - 3,5 Stunden / Einzeldosis
    • 4 bis 5 Einzeldosen
    • auf Dauer und insb. bei Kindern kaum umsetzbar
    • zum Eindosieren ist unretardiertes MPH dennoch vorteilhaft, da am feinsten regulierbar
  • halbtages-retardiertes MPH wirkt im Schnitt 5 - 6 Stunden / Einzeldosis
    • 2 Dosen + ggf. unretardiertes MPH zur Restabdeckung81
    • Zweite Dosis idR 50 % bis 75 % der ersten Dosis
  • ganztages-retardiertes MPH wirkt im Schnitt 10 - 12 Stunden
  • Attentin (unretardiertes AMP) wirkt im Schnitt 5 - 6 Stunden
    • 2 Dosen und ggf. unretardiertes MPH zur Restabdeckung
    • Zweite Dosis idR 50 % bis 75 % der ersten Dosis
  • Lisdexamfetamin (Elvanse) wirkt bis zu ca. 10 - 12 Stunden (Achtung: in der Praxis häufig sehr viel kürzer!)
    • 1 Dosis und ggf. unretardiertes MPH zur Restabdeckung
    • Amphetaminmedikamente benötigen bis zum steady state 3 bis 5 Tage
  • Guanfacin
    • Spiegelmedikament, 1 x täglich
  • Atomoxetin
    • Spiegelmedikament, 1 x täglich
2.1.5.2.3.2. Verlängerte Wirkung (eher selten)

Eher selten begegnen uns Betroffene, die ein deutlich längere Wirkung eines Einzeldosis eines ADHS-Medikaments haben, als herstellerseitig angegeben.
Dies zeigt sich zuweilen in einer adäquaten Wirkung einer Dosishöhe am ersten und ggf. noch zweiten Tage der Einnahme. An Folgetagen ergeben sich bei gleichbleibender Dosierung Überdosierungssymptome. Sofern Amphetaminmedikamente betroffen sind, sollte in diesem Zusammenhang sollte auch der Steady-State aufgrund der recht langen Halbwertszeit berücksichtigt werden.

2.1.5.2.3.3. Verkürzte Wirkung (recht häufig)

Häufiger sind dagegen Betroffene, bei denen eine Einzeldosis deutlich kürzer wirkt als vom Hersteller angegeben.
Nach unserer Erfahrung sind rund 15 – 20 % der Betroffenen Schnellverstoffwechsler mit einer verkürzten Einzeldosiswirkdauer

  • Schnellverstoffwechsler benötigen oft mehrere Dosen / Tag anstatt höhere Einzeldosen
  • bei ca. 50 % der Betroffenen ist die Wirkdauer von Stimulanzien bei nur 50 % der Herstellerangabe
  • meist Superschnellverstoffwechsler (schnellmetabilisierende CYP- oder CES1-Genvariante)
  • mehrfache Dosierung auch von Ganztragesretards am Tag
  • Kombinationsmedikation für Feineinstellung / bei schwierigen Fällen
  • insbesondere:
    • 50 % ATX zur Ganztagesbehandlung der emotionalen Dysregulation
    • 50 % MPH oder AMP, da meist bessere Wirkung auf Antrieb / Konzentration
  • Reboundbehandlung
  • Rebound besonders häufig bei MPH
  • Abhilfe:
    • Zweite Dosis so rechtzeitig nehmen, dass diese einsetzt, bevor erste Dosis in Rebound ausläuft
    • unretardiertes MPH kurz vor Ende der letzten Dosis
      • 1/4 bis 1/3 dessen, was einer Behandlungsdosis am Tage entspräche
      • Beispiel: 20 mg halbtages-retardiertes MPH entspricht 2 x 10 mg unretardiertes MPH. Hier also 2,5 bis 3,5 mg unretardiertes MPH 30 min vor Ende der letzten retardierten Dosis.

Das Phänomen der verkürzten Einzeldosiswirkdauer findet sich bei Elvanse deutlich häufiger als bei MPH:

  • Anders als bei MPH berichtet bei Elvanse eine deutlich höhere Anzahl Betroffener von deutlich kürzerer Wirkdauer als die vom Hersteller angegebenen 12 bis 14 Stunden. Viele davon konnten eine optimale Tagesabdeckung durch mehrere Einzeldosen erreichen. Mehr hierzu unter Amphetaminmedikamente bei ADHS: Wirkungsprofil (zeitlich) / Wirkdauer
  • Einzelne Betroffene berichten, dass intensiver Sport die Wirkdauer von Stimulanzien um bis zu 40 % verkürzen kann.85
  • Innerhalb einer Person wirken höhere Dosen von Amphetamin länger5
    • Da Amphetamin über die Nieren ausgeschieden wird, spielt neben der Gesamtdosis auch der renale Blutfluss eine zwar geringe, aber messbare Rolle für die Wirkungsdauer
    • Eine weitere Folge davon ist, dass sich der Amphetamin-Blutspiegel langsamer verändert und weniger anfällig für Rebound ist als bei Methylphenidat
2.1.5.2.4. Aufklärung über Wirkdauer der verschriebenen Dosen

Betroffene müssen bei der Eindosierung ausdrücklich auf die typische Wirkdauer einer Einzeldosis des jeweiligen Präparats hingewiesen werden. Dies ist nicht nur ethisch geboten, sondern auch medizinisch und therapeutisch erforderlich.
Wir erhalten immer wieder Berichte von Betroffenen, die im Glauben gelassen wurden, dass eine Einmaldosis unretardierten oder halbtagesretardierten MPHs (z.B. Ritalin adult) über den ganzen Tag wirken würde, anstatt auf die übliche Wirkzeit von 2,5 – 3 Stunden (unretardiert) bzw. 5-6 Stunden (Halbtagesretard) hinzuweisen. Dies führt naturgemäß zu fehlerhaften Rückmeldungen an den Arzt, wenn berichtet wird, dass die Symptomatik unverändert sei, weil in Unkenntnis der begrenzten Wirkdauer irrtümlich über den Zeitraum am Nachmittag oder Abend außerhalb der Wirkung berichtet wird.

2.1.6. Dosierungsanpassungen

  • Das Empfinden, dass eine sehr gute Wirkung nach der ersten Einstellung nach einigen Tagen bis Wochen nachlässt, ist oft nicht auf eine veränderte Wirkung, sondern auf ein verändertes Empfinden der Betroffenen zurückzuführen. In der sogenannten Honeymoonphase unmittelbar nach Erreichen einer wirksamen Dosis wird der Unterschied zum defizitären Zustand davor als besonders positives Erlebnis wahrgenommen. Ein solches Gefühl einer besonderen Verbesserung ist naturgemäß vergänglich, wie das Hochgefühl eines Fußballfans nach gewonnener Meisterschaft sich binnen Tagen normalisiert, obwohl die ganze Saison mitgezittert wurde. Hier ist genau zu prüfen, ob wirklich ein höherer Dosierungsbedarf besteht. Dabei können Fremdbeurteilungen hilfreich sein.
  • Es kann passieren, dass nach einigen Monaten einmalig eine Nachjustierung erforderlich ist. Dies stellt keinen Gewöhnungseffekt dar.
  • Einmal im Jahr sollte ein Auslassversuch erfolgen, um zu überprüfen, ob das Verhalten ohne Medikamente weiterhin ADHS-Symptome aufweist.
  • ADHS-Betroffene zeigen 75 % der möglichen ADHS-Symptome häufig, Nichtbetroffene 12 bis 25 %. Ziel der optimalen Dosierung ist daher nicht eine völlige Symptomfreiheit, sondern eine Reduzierung der Symptome auf ein gesundes Maß. Ein Versuch, solange höher zu dosieren, bis sämtliche Symptome komplett beseitigt wären, würde zwangsläufig in einer Überdosierung enden.

2.1.7. Bedarfsabhängige Einnahme

Je größer die Eigensteuerungsfähigkeit ist, desto eher können Betroffene Stimulanzien bedarfsabhängig einnehmen. Während für Kinder ein starres Einnahmeschema in der Regel der sicherere Weg ist, können Erwachsene nach Abschluss der Eindosierung eher tageweise entscheiden, ob und in welcher Dosis sie die ihnen verschriebenen Stimulanzien einnehmen (innerhalb des mit dem Arzt abgestimmten Einnahmekorridors). Manche Betroffene können damit gut regulieren, wenn besondere Aufgaben (z.B. abendliche Veranstaltungen) eine zusätzliche Abenddosis oder die einzige Dosis eines ansonsten medikamentenfreien (weil anforderungsfreien) Wochenendtages (Einkäufe am Samstagnachmittag oder im Urlaub) erfordern. Der Leitsatz lautet „Ich steuere mein ADHS, nicht mein ADHS steuert mich“. 70
Während der Eindosierung dürfen Erwachsene nicht vom vorgegebenen Schema abweichen. Wir erleben immer wieder, dass die Impulsivität und Ungeduld der Betroffenen zu Wechseln der Dosis oder der Einnahme innerhalb von 2 oder 3 Tagen führt. Das ist jedoch vornehmlich ein Zeichen der Störung. Stimulanzien benötigen mehrere Tage gleicher Dosis, um eine stabile Selbstwahrnehmung zu ermöglichen.
Bei Frauen sind die Tage vor der Menstruation häufig mit einem erhöhten Stimulanzienbedarf verbunden. Siehe hierzu unten unter Zyklusabhängige Symptomschwankungen bei Frauen.

2.1.8. Präparate- und Wirkstoffwechsel

Präparate- oder Wirkstoffwechsel können aufgrund ungünstiger Nebenwirkungsreaktionen oder aufgrund von Nonresponding (ausbleibende Wirkung) erforderlich oder hilfreich sein.

Zeigt eine Medikamentengabe keine Wirkung (Nonresponding), sollte insbesondere bei MPH zunächst auf ein anderes MPH-Präparat gewechselt werden. Erstaunlich häufig reagieren Betroffene auf ein MPH-Präparat negativ oder mit zu starken Nebenwirkungen und auf ein anderes MPH-Präparat positiv, während es anderen genau andersherum ergehen kann. Eine große Studie fand bei 85 % der Methylphenidatempfänger einen Wechsel des Präparates.86

Zeigt ein Wirkstoff insgesamt (unabhängig vom Präparat) keine Wirkung (Nonresponding), sollte zunächst ein anderer Wirkstoff versucht werden.
Rund 30 % aller Betroffenen reagieren nicht auf MPH, ebenso reagieren rund 20 % nicht auf AMP (Nonresponder). Das Nonresponding betrifft jedoch nur selten beide Wirkstoffe zugleich, sodass 90 % der Betroffenen entweder auf MPH oder auf AMP reagieren. 40 % bis 50 % der MPH-Nonresponder reagieren auf Atomoxetin.

Es wird berichtet, dass die häufig sehr individuelle optimale Stimulanziendosis bei MPH und AMP unterschiedlich sein kann. Ein Betroffener kann für eine angemessene Wirkung eine relativ hohe Dosis MPH oder eine relativ niedrige Dosis AMP benötigen. Daher ist bei einem Wechsel des Wirkstoffs ein erneutes individuelles Auftitrieren erforderlich.70 In der Folge wären die bekannten Umrechnungstabellen bei einem Wirkstoffwechsel mit Vorsicht zu betrachten.

2.1.8.1. Nonresponding: Wirkstoffwechsel
  • MPH: 30 % Nonresponder
    • bei Nichtwirkung von MPH:
      • Magensäure checken
      • Wirkstoff wechseln
  • AMP: 20 % Nonresponder

Über 40 % der Betroffenen hilft bei Nonresponding ein Präparatewechsel in den ersten 3 Monaten87
Bei einem Wirkstoffwechsel zwischen MPH und AMP aufgrund Nonresponding verbleiben nur noch ca. 10 bis 15 %, die Nonresponder für beide Stimulanzienarten sind1617

REVIEW zu Handlungsoptionen bei therapieresistentem ADHS: Cortese et al.88

  • Stimulanzien optimieren
  • alternative Monotherapien versuchen
  • Nicht-Stimulanzien versuchen
  • kombinierte Pharmakotherapie
    • Eine Kombination von Stimulanzien mit Nichtstimulanzien ist einer Monotherapie mit nur einer Wirkstoffgruppe überlegen
  • Off-Label-Medikamente verwenden, die nachweislich bei ADHS helfen
  • komorbide Erkrankungen behandeln
2.1.8.2. Nebenwirkungen: Präparate- oder Wirkstoffwechsel

Zur Vermeidung von Nebenwirkungen siehe zunächst unten unter “Nebenwirkungen vermeiden”.

  • MPH
    • bei unangemessenen Nebenwirkungen:
      • prüfen: wurden die Empfehlungen unter “Nebenwirkungen vermeiden” beachtet, insbesondere Koffein komplett weggelassen?
      • Überdosierung?
      • Bedarf sehr geringer Dosierung?
      • bei grundsätzlichem Responding von MPH;
        • erst Präparat wechseln
          • erstaunlich individuelle Nebenwirkungsreaktionen
            • Person A verträgt Präparat A nicht und B prima, Person B genau umgekehrt: nicht vorhersagbar
          • Präparate-Alternativen z.B.:
            • unretardiert
            • Medikinet retard / Adult
            • Ritalin LA / Adult
            • Concerta
            • Kinecteen
        • dann Wirkstoff wechseln
          • Reihenfolgenempfehlung siehe oben unter Wahl des Wirkstoffs
  • AMP
    • bei unangemessenen Nebenwirkungen:
      • prüfen: wurden die Empfehlungen unter “Nebenwirkungen vermeiden” beachtet, insbesondere Koffein komplett weggelassen?
      • Überdosierung?
      • Bedarf sehr geringer Dosierung?
      • bei grundsätzlichem Responding von AMP:
        • erst Präparat wechseln
          • erstaunlich individuelle Nebenwirkungsreaktionen
            • Person A verträgt Präparat A nicht und B prima, Person B genau umgekehrt: nicht vorhersagbar
          • Präparate-Alternativen z.B.:
            • Lsdexamfetamin (Elvanse)
            • unretardiert (Attentin)
            • Amphetaminsaft (von Apotheke herzustellen)
            • USA: hohe Anzahl weiterer zugelassener Präparate
        • dann Wirkstoff wechseln
          • Reihenfolgenempfehlung siehe oben unter Wahl des Wirkstoffs
2.1.8.3. Umrechnungstabellen für den Wechsel zwischen Stimulanzien

Eine Umrechnungstabelle von Dexamphetamin zu Elvanse findet sich bei ADHSpedia.89

Bei einem Präparate- oder Wirkstoffwechsel aufgrund von Nebenwirkungen ist die Umrechnungstabelle von Kühle sehr hilfreich (deutsch). Diese vermittelt einen Anhaltspunkt, welche Dosis einer anderen Stimulanzienart der Dosis eines bisher genommenen Medikaments entspricht. Hilfreich ist auch die Umrechnungstabelle von UpToDate (englisch).90

Eine umfassende Umrechnungstabelle für amerikanische Stimulanzien-Präparate samt Empfehlungen für den Ablauf der Umstellung findet sich bei Stutzman et al.22

2.1.9. Toleranzentwicklung gegenüber Stimulanzien / Gewöhnungseffekte

Siehe hierzu ausführlich unter Medikamente: Toleranzentwicklung

2.1.10. Absetzen von Stimulanzien

Stimulanzien wie Methylphenidat oder Amphetaminmedikamente wirken unmittelbar und dosisabhängig. Sie können in aller Regel sofort und ohne Nebenwirkungen abgesetzt werden. Im Vergleich zu den - teils sehr schweren - Nebenwirkungen, die Betroffene immer wieder vom - insbesondere zu schnellen - Absetzen von Antidepressiva berichten, kann pauschal gesagt werden, dass bei Stimulanzien keinerlei Absetzproblematik besteht. Die Betroffenen leiden dann allerdings am Wiederauftreten der ADHS-Symptome, was subjektiv auch als Absetznebenwirkung fehlinterpretiert werden kann.
Es gibt allerdings Betroffenenberichte von Absetzerscheinungen bei Amphetaminmedikamenten, in Einzelfällen sogar von bis zu 14 Tagen. Bei einer Minderheit der Betroffenen scheinen diese tatsächlich über die unangenehme Erfahrung des Wiederauftretens der ADHS-Symptome hinauszugehen. Gegebenenfalls wäre dem mit einem langsamen Ausdosieren zu begegnen.
Entzugserscheinungen wurden uns in einem Einzelfall beim Absetzen von einer 10-fachen Überdosierung von Elvanse berichtet (50 mg; Patient benötigte lediglich 5 mg).

2.2. Eindosierung mit unretardiertem MPH

Unretardiertes MPH ermöglicht einerseits eine bessere Kontrolle über die Symptomverbesserung, andererseits erfordert dies aufgrund der höheren Anzahl an Einzeldosen / Tag eine zuverlässigere Patientenmitwirkung. Daher kann sich bei Kindern und ganz besonders bei jüngeren Kindern eine Eindosierung mit retardierten Medikamenten empfehlen.

Gemäß der deutschen S3-Leitlinie 2018 kann z.B. aus folgenden Gründen unretardiertes MPH erwogen werden:8
• genauere Dosisanpassung während der initialen Titrierungsphase der Medikation
• erforderliche höhere Flexibilität in den Dosierungsschemata

Nach unserer Erfahrung empfiehlt sich:

  • Mit einer einmaligen sehr geringen Dosierung starten (2,5 mg unretardiertes MPH) und davon erst mal ganz bewusst keinerlei Wirkung erwarten.
    • Da halbtages-retardiertes MPH ab 5 mg erhältlich ist, kann anstatt 2 Dosen unretardiertem MPH auch eine 5 mg-Dosis retardiertes MPH genommen werden (übliche Wirkdauer ca. 5-6 Stunden)
  • Nach 4 bis 7 Tagen 2,5 mg unretardiert zweimal am Tag
  • Weitere Steigerung der Anzahl der Einzeldosen alle 4 bis 7 Tage bis zur Abdeckung des Tages.
    Da unretardiertes MPH nur 2,5 bis 3 Stunden wirkt, sind für eine Tagesabdeckung 3 bis 5 Einzeldosen erforderlich. Mit nur zwei Dosen bliebe fast der gesamte Tag unmedikamentiert. Dies könnte die Beurteilung durch Betroffene oder Dritte völlig verfälschen, insbesondere wenn sie über das begrenzte Wirkzeitfenster (und den zu erwartenden Rebound) nicht aufgeklärt wurden. Vor allem aber würde es die Symptomatik und damit die Belastung des Betroffenen nicht ausreichend verringern.
  • Einzeldosen auf 5 mg steigern (retardiert auf 10 mg/Einzeldosis)
    • Dabei je Dosierungsschritt immer nur eine Einzeldosis erhöhen und dabei von der ersten Dosis an vorgehen (z.B.: 2,5 / 2,5 / 2,5 auf 5 / 2,5 / 2,5 auf 5 / 5 / 2,5 etc.)
  • Danach alle 4 bis 7 Tage die Dosierung um maximal 2,5 mg / Einzeldosis unretardiertes MPH steigern.
    Dosissprünge von 5 mg unretardiertem MPH / Einzeldosis (oder 10 mg / Einzeldosis Halbtagesretard, wie es z.B. die Medikinet-Fachinformationen empfehlen), halten wir für nachteilig
    • Zweck: Das langsame Hochdosieren vermeidet, dass die optimale Dosis übersprungen wird.
      Nicht viele, aber ein durchaus nennenswerter Teil der Betroffenen hat nach unserer Erfahrung ein sehr schmales Fenster für eine optimale Dosierung von deutlich unter 5 mg, sodass 2,5 mg weniger / Einzeldosis nicht ausreichend und 2,5 mg mehr bereits erste Überdosierungsphänomene auslösen können. Ebenso: Dreher.30 Es dürfte bislang recht häufig eine Unverträglichkeit angenommen worden sein, die in Wirklichkeit auf unpassende Dosierungen zurückzuführen war.
      Da so kleinteilige Eindosierungsstufen den anderen Betroffenen nicht schaden (sondern im Gegenteil Eindosierungsnebenwirkungen vermeiden helfen),91 sollten Dosierungsschritte in 2,5-mg-Schritten (bezogen auf eine unretardierte MPH-Einzeldosis) der Goldstandard sein. So auch Kühle.92 In dieselbe Richtung weist eine große Metastudie.62
      Andere Quellen empfehlen einen Start mit 1-2 Einzeldosen zu 5 mg und eine wöchentliche Steigerung der Einzeldosis in 5 mg-Schritten.93 Aus den genannten Gründen halten wir diese Dosissprünge bereits für zu groß.
      Für Betroffene, bei denen bereits extrem kleine Dosisunterschiede entscheidend sind, bietet eine Apotheke in der Schweiz MPH-Tropfen an. Ein Tropfen enthält 0,35 mg MPH. Es wird in Chargen hergestellt und mittels E216 und E218 konserviert.94 Eine Betroffene berichtet, dass ein Auflösen von unretardiertem MPH in Alkohol in so exakter Menge, dass diese per Tropfen abgemessen werden konnten, ein vergleichbares Ergebnis zeigte.
  • Betroffene und (eingeweiht) beobachtende Dritte aufklären über
    • die übliche Wirkdauer des jeweiligen Präparats
    • die Möglichkeit einer individuell kürzeren oder längeren Wirkdauer
    • über den zu erwartenden Rebound
      Die Kenntnis der üblichen Wirkungsdauer, dass diese individuell variieren kann, ist für die Beobachtung der Wirkung und ihres Endes ebenso wichtig wie dafür, dass die letzte Dosis so rechtzeitig vor dem zu Bett genommen werden kann, dass die Wirkung mindestens eine Stunde vorher abgeklungen ist. Bei einigen Betroffenen (wir vermuten, eher bei ADHS-I als bei ADHS-HI) kann eine verringerte Dosis (1/5 bis 1/2 einer optimierten Einzeldosis) in unretardierter Form beim Einschlafen helfen. Auch hierbei gilt: Gabe als Einschlafhilfe mit sehr geringen Dosen (1/10 der Tageseinzeldosis) antesten. Dabei sind retardierte Tagesdosen auf die unretardierte Wirkzeit umzurechnen. (Beispiel: 20 mg retardiert bei 5-6 Stunden Wirkzeit entsprechen 10 mg unretardiert bei 2,5-3 Stunden Wirkzeit).
  • Die Dosierung so lange steigern, bis eine sehr zufriedenstellende Wirkung erreicht ist.
    • Bei der Mehrzahl, aber nicht bei allen Betroffenen bewirkt eine höhere Dosis eine bessere Symptomreduktion.95
  • Bei einer Tagesdosis von 20, 40, 60 mg MPH sollte jeweils ein Feedbackgespräch mit dem behandelnden Arzt erfolgen.
  • Zusätzlich empfiehlt sich die Führung eines Tagebuches (siehe unten). Manche Ärzte erwarten eine wöchentliche Übermittlung des Tagebuchs, z.B. per Mail. Dies kann helfen, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen.
  • Nach Erreichen der vermeintlich optimalen Dosis noch 2 weitere Steigerungen vornehmen, um festzustellen, dass jetzt eine negative Symptomatik dazukommt.
    Zweck:
    Es wird sichergestellt, dass nicht nur eine Verbesserung der Symptomatik, sondern die optimale Dosis ermittelt wird. Weiterhin erfährt der Betroffene, wie es sich anfühlt, wenn eine leicht zu hohe Dosierung besteht. Dies ist wichtig, damit der Betroffene ein Gefühl dafür entwickelt, was die optimale Dosierung ist, um gegebenenfalls weitere Dosisverringerungen anregen zu können.
  • Es ist möglich, dass in bestimmten Dosierungsstufen unterhalb der optimalen Dosis Nebenwirkungen auftreten, die bei höheren Dosierungsstufen wieder verschwinden. Insbesondere eine innere Zittrigkeit (wie eine Tasse Kaffee zu viel) kann sich innerhalb von 2 bis 3 Tagen nach einer Dosiserhöhung wieder geben. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Anpassung des noradrenergen Systems. Uns haben mehrere Betroffene berichtet, dass bei der nächsten oder übernächsten Dosisstufe dieses innere Zittern nicht mehr auftrat. Wird es deutlicher oder besteht es dauerhaft, ist es ein Zeichen von Überdosierung
  • Eine “Zombie”-Symptomatik deutet entweder auf Überdosierung oder auf eine demaskierte Depression hin.
  • Die Herstellerangaben zur typischen Wirkdauer betreffen nur Personen mit Standard-Genvarianten der Metabolisierungs-Gene. Viele Betroffene haben jedoch Abweichungen im jeweils relevanten Metabolisierungs-Gen (MPH: CES1-Gen; AMP, Atomoxetin, Bupropion: CYP2D6-Gen; Guanfacin: CYP3A4-Gen.) Bei über CYP 450-Enzyme treten Genvarianten des POR-Gens hinzu, die ihrerseits die Wirksamkeit der CYP-Enzyme beeinflussen, sodass die CYP-Genvariante alleine noch nicht aussagekräftig ist. Mehr hierzu unter CYP2D6 Metabolisierungsenzym, CYP3A4 Metabolisierungsenzym, CES1 Metabolisierungsenzym. Hinzu treten weitere pharmakologische Einflüsse, die die Wirkdauer beeinflussen. Mehr hierzu unter Wirkung und Wirkdauer von ADHS-Medikamenten
  • Die Abweichungen sind so häufig, dass die typische Wirkdauer nicht vorausgesetzt werden darf. Sie muss bei jedem Betroffenen einzeln überprüft werden.
    • Eine Einzeldosis Elvanse wirkt bei 2/3 der Betroffenen lediglich maximal 5 bis 7 Stunden. Der vom Hersteller angegebene typische Wert von 12 Stunden wird demnach bei der Mehrheit der Betroffenen bei weitem nicht erreicht.
    • Bei Schnellverstoffwechslern (ca. 15 – 20 % der Betroffenen) wirkt unretardiertes MPH nur ca. 1 bis 1,25 Stunden anstatt der üblichen 2,5 – 3 Stunden, Medikinet oder Ritalin adult nur rund 3 Stunden anstatt der üblichen 5-6 Stunden und Elvanse 5-7 Stunden anstatt der üblichen 10-12 Stunden. Die uns bekannten Schnellverstoffwechsler berichteten, dass sie entsprechend häufigere Einnahmen und entsprechend höhere Tagesdosierungen ohne jegliche Nebenwirkungen gut vertrugen. Dennoch ist bei der hier erforderlichen Erhöhung der Anzahl der Dosen / Tag und der daraus folgenden möglichen Überschreitung der allgemeinen Maximaldosisempfehlungen sicherlich eine engmaschigere Überwachung erforderlich.
    • Eine zu schnelle Verstoffwechselung kann gegebenenfalls durch Kreuzwirkung mit Inhibitoren des jeweiligen Metabolisierungsenzyms begegnet werden. Beispielsweise berichteten mehrere Betroffene, bei denen Elvanse (das via CYP2D6 metabolisiert wird) viel zu kurz oder gar nicht wirkte, eine befriedigende Wirkung und Wirkdauer nach einer Kombination mit Bupropion, das die CYP2D6-Expression verringert.

2.3. Übergang zu retardiertem MPH / AMP

Nach der erfolgten Einstellung mit unretardiertem MPH sollte die Anzahl der Einzeldosen / Tag durch Verwendung von Retardpräparaten verringert werden, da eine Gabe der andernfalls 4 bis 6 erforderlichen Einzeldosen unretardiertes MPH am Tag98 für Kinder und Jugendliche kaum durchhaltbar sind. Die Medikamenten-Einnahme-Compliance nimmt proportional zur erforderlichen Einnahmehäufigkeit ab. Da ADHS-Betroffene notorisch desorganisiert und vergesslich sind, stellt jede zusätzliche Dosis eine weitere Gelegenheit dar, die Einnahme zu vergessen. Darüber hinaus sind die Peinlichkeit und die Hänseleien, die Jugendliche erleben, wenn sie ihre Medikamente bei der Schulkrankenschwester abholen müssen, mit die häufigsten Gründe für den Abbruch einer medikamentösen Behandlung.5 Eine einzelne einzunehmende Dosis am Tag verbessert die Compliance.99
Für Erwachsene ist unretardiertes MPH in Deutschland nicht zugelassen und nur off-label verschreibbar.

Ob unretardiertes oder retardiertes MPH besser funktioniert, ist individuell unterschiedlich. In einer 1 Jahres-Studie bevorzugte etwa die Hälfte der Betroffenen unretardiertes MPH, die andere OROS-MPH.100 In der Regel können Betroffene besser beurteilen, mit welchem Medikamententyp sie besser zurechtkommen, als der Arzt. Daher sollte die Erfahrung des Betroffenen berücksichtigt werden.

Bei retardiertem MPH werden mittels pharmakologischer Methoden mehrere Dosen hintereinander freigesetzt.
Aufgrund der erheblichen individuellen Wirkdauerunterschiede ist es (wenn auch selten) möglich, dass die erste Dosis so schnell verstoffwechselt wird, dass bis zum Wirkeintritt der zweiten Dosis eine Wirklücke entsteht. Dies kann durch versetzte Einnahme von mehreren (ggf. reduzierten) Dosen vermieden werden. Wenn beispielsweise 20 mg retardiertes MPH ein Wirkprofil von 2 Stunden Wirkung + 30 Minuten Wirkloch + 2 Stunden Wirkung zeigen, wäre eine Option, zwei retardierte Dosen von 10 mg im Versatz von 30 Minuten zu geben.

Für Menschen, die morgens Schwierigkeiten haben, etwas zu essen, sind Medikinet adult und Medikinet retard ungeeignet, da diese ihre retardierte Wirkung nur bei vorheriger Nahrungsaufnahme entfalten. Hier sollte Ritalin adult, Ritalin LA oder ein OROS-Präparat wie Concerta in Betracht gezogen werden.

2.4. Eindosierung von AMP

Zusätzlich zu den oben genannten allgemeinen Informationen zur Eindosierung von Stimulanzien und zur Findung der geeigneten Startdosis gilt:

2.4.1. Elvanse (Lisdexamfetamin)

  • Da bei Erwachsenen Amphetaminmedikamente das Mittel erster Wahl sind (höchste Effektstärke und geringste Nebenwirkungen unter allen ADHS-Medikamenten) wäre eine direkte Eindosierung mit Elvanse sinnvoll.
  • Elvanse adult ist in Deutschland in Kapseln von 30, 50 und 70 mg verfügbar (2023 wurden auch 20, 40 und 60 mg zugelassen, sind aber Stand 04/2024 noch nicht erhältlich), Elvanse (ohne “adult”), das vollkommen bioidentisch ist, ist in Größen von 20, 30, 40, 50, 60 und 70 mg verfügbar. Anders als in den USA sind 10 mg-Kapseln in Europa nicht erhältlich. Für Elvanse und Elvanse adult wurde inzwischen eine einheitliche Zulassung erlangt.
  • 30 mg zur Eindosierung beinhalten unserer Erfahrung nach ein erhebliches Risiko einer Überdosierung und erhöhen das Risiko von Eindosierungsnebenwirkungen.
    Wir kennen etliche Betroffene, bei denen der optimale Dosierungsbereich von Elvanse unterhalb eines Spielraums von 5 mg / Einzeldosis liegt. 5 mg weniger sind zu wenig, 5 mg mehr sind überdosiert. Wir kennen zudem einzelne Betroffene, die mit 3 mg Elvanse / Tag optimal dosiert sind. Daher halten wir Eindosierungsstufen von 5 mg für optimal, was einem Äquivalent von 2,5 mg unretardiertem MPH oder 5 mg retardiertem MPH entspricht.20 Siehe hierzu auch oben unter Eindosierung von unretardiertem MPH.
  • Obwohl der Beipackzettel von Elvanse ein Aufteilen der Kapselinhalte nicht erlaubt, ist dies nach langjähriger Erfahrung einer Vielzahl an Betroffenen für die Eindosierung wie auch für die Findung der optimalen Dosis ein gut gangbarer Weg. Berichte über Wirkungsschwankungen aufgrund einer ungleichen Verteilung des Wirkstoffs kennen wir nicht. Eine feingliedrige Dosierung kann durch Auflösen des Kapselinhalts in Wasser und dem Aufteilen mittels einer Spritze nahezu milligrammgenau erfolgen. So auch Kühle in der Äquivalenztabelle.20 Eine etwas gröbere Methode ist die Aufteilung von Kapseln in gleich große Häufchen mittels einer Rasierklinge auf einer Glasfläche.
  • In Wasser aufgelöstes Elvanse hält sich im Kühlschrank einige Tage. Trocken auf einer Glasplatte aufgeteilte Elvansehäufchen halten sich bei Zimmertemperatur mehrere Tage. Die Haltbarkeit kann durch luftdichtes Abdecken mit Lebensmittel-Frischhaltefolie noch weiter abgesichert werden. Dies ist jedoch in der Regel nicht erforderlich. Die Aufbewahrung muss stets vor Kindern geschützt sein.
  • Elvanse benötigt aufgrund der langen Halbwertszeit 3 bis 5 Tage bis zur Erreichung des Steady-State.65 Nach Einnahmepausen kann es in den ersten Tagen zu unangenehmen Nebeneffekten kommen, die aber schnell vergehen.

Dieses Video erläutert die Aufteilung von Elvanse-Kapseln in kleine Dosierungsschritte.

3. Eindosierung von Nichtstimulanzien

Nichtstimulanzien sind bei der Behandlung von ADHS dritte Wahl nach den Stimulanzien AMP und MPH.
Kliniker berichten, dass Nichtstimulanzien manchmal nach 9 bis 18 Monaten ihre Wirkung verlieren und dann ein Wechsel auf ein anderes Nichtstimulanz erforderlich wird.5 Studien mit so langen Beobachtungszeiträumen gibt es nicht.

3.1. Eindosierung von Atomoxetin

Nach der Studienlage64 wie auch nach unserer Erfahrung hat eine langsame Aufdosierung auch bei Atomoxetin den Vorteil einer geringeren Nebenwirkungsentwicklung. Während eine durch den Hersteller unterstützte Studie kein klares Bild zeigt101 berichten andere Studien von einem selteneren Abbruch der Einnahme aufgrund von Nebenwirkungen bei langsamer Eindosierung, obwohl die Nebenwirkungsquote vergleichbar war.102
Teilweise wird empfohlen, anstatt mit 40 mg / Tag, mit einer Dosis von 10 mg bei Frauen oder 18 mg bei Männern und einer Dosissteigerung alle 14 Tage70 oder mit 18 bis 25 mg initial zu beginnen.24
Atomoxetin ist als nicht teilbare Kapseln und als teilbare Tabletten erhältlich.

Bei dauerhafter Einnahme liegt die empfohlene Tagesdosis bei 1,2 mg/kg, die maximale Tagesdosis bei 100 mg.70
Die Einnahme von ATX erfolgt in der Regel morgens. Bei Müdigkeit als Nebenwirkung kann ATX auch abends eingenommen werden.24
Sofern Betroffene bei einer Tagesdosis von Atomoxetin Nebenwirkungen erleiden, ist nach Angabe der Fachinformation zu Strattera eine Aufteilung auf zwei halbierte Dosen morgens und abends möglich.103

Die ersten Wirkungen können nach 2 bis 3 Tagen sichtbar werden. Atomoxetin benötigt bis zum vollen Wirkeintritt 8 bis 10 Wochen.5

Anders als bei Stimulanzien ist bei Atomoxetin eine durchgehende Einnahme wichtig.70

Beim Ausdosieren ist unserer Auffassung nach - wie bei allen Antidepressiva-ähnlichen Medikamenten - eine langsame Vorgehensweise sehr zu empfehlen. Anderer Auffassung: Prasad et. al.64 Uns liegen jedoch mehrere Berichte von Depression als Nebenwirkung einer schnellen Absetzung von Atomoxetin vor.

Da Atomoxetin Blutdruck und Herzrate erhöhen kann, sollten diese überwacht werden.5

3.2. Eindosierung von Guanfacin

Guanfacin scheint in den ersten 2 Wochen der Einnahme Noradrenalin zu verringern. Erst danach scheint durch eine Downregulation von Rezeptoren Noradrenalin erhöht zu werden.
Daraus sollte folgen, dass es wie bei Antidepressiva mehrere Wochen benötigt, bevor eine Wirkung eintritt.104

Aufgrund der blutdrucksenkenden Wirkung von Guanfacin muss es beim Ausdosieren langsam ausgeschlichen werden, um Blutdruckprobleme zu vermeiden.72

3.3. Eindosierung weiterer Nichtstimulanzien

Auch bei anderen Nichtstimulanzien wie Bupropion, Imipramin oder Desimipramin kann es bis zum vollen Wirkeintritt 8 bis 10 Wochen dauern.5

Bei der Eindosierung von THC-haltigen Medikamenten wird eine Startdosis von 1 bis 2,5 mg THC/Tag empfohlen. Die Dosis sollte langsam gesteigert werden, um 1 bis 2,5 mg alle 3 bis 5 Tage. Die durchschnittliche Tagesdosis liegt bei 10 bis 20 mg THC.105

3.4. Serotoninwiederaufnahmehemmer

Die Einnahme von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern ist immer individuell mit dem Arzt abzustimmen. Serotoninwiederaufnahmehemmer sind zur Behandlung von (komorbiden) Depressionen geeignet.
Bezüglich ADHS könnte eine Behandlung allenfalls von Impulsivität bei ADHS-HI durch minimale Dosen sinnvoll sein (z.B. 2 bis 5 mg Escitalopram), was nach unserer Erfahrung unmittelbar zu wirken scheint und offenbar nicht über Rezeptor-Down- oder Upregulation vermittelt wird.
Im Übrigen sind serotonerge Medikamente in Bezug auf ADHS selbst und insbesondere bei ADHS-I nicht sinnvoll.

3.5. Pegelmedikamente langsam ausschleichen

Pegelmedikamente müssen langsam eindosiert und langsam ausgeschlichen werden.
Bei Serotoninwiederaufnahmehemmern kann dies bis über ein halbes Jahr dauern, um Nebenwirkungen zu vermeiden.

4. Eindosierung beobachten und dokumentieren

4.1. Selbstbeobachtung: Eindosierungstagebuch führen (z.B. ADxS-Eindosierungshilfetabelle)

Download ADxS-Eindosierungshilfetabelle: Eindosierungshilfetabelle im ADHS-Forum von ADxS.org

In der Eindosierungszeit sollte ein Tagebuch geführt werden, das jeden Tag das Befinden protokolliert. Dieses sollte enthalten:

  • Tagesbewertung für jedes relevante Symptom
  • Präparat
    • nicht nur Wirkstoff
    • Bei Generika auch Hersteller
  • Dosis
  • Einnahmezeitpunkt(e)
  • weitere eingenommene Medikamente (Art, Dosis, Zeitpunkt(e))
  • Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme (Art, Menge)
  • Nikotinkonsum (Kaffee bei ADHS-Medikamenten-Eindosierung immer komplett weglassen)
  • Monatszyklus bei Mädchen / Frauen
    Mehr hierzu unter Geschlechtsunterschiede bei ADHS
  • Sport
  • Besondere Belastungen (emotionale wie körperliche, z.B. Streits, Erkrankungen, Allergien etc.)

Wichtig: die Bewertung der Wirkung des Medikaments und der Dosierung soll nie anhand einzelner Tage erfolgen, sondern immer erst im Nachhinein anhand eines Durchschnitts von 3 bis 4 Tagen. Andernfalls werden irrelevante und zufällige Korrelationen überbewertet.

4.2. Fremdbeobachtung

Da nicht alle Betroffene eine tatsächlich entstehende positive Wirkung zeitnah selbst wahrnehmen (insbesondere komorbides autistische Traits können dies erschweren) ist ein ergänzende Fremdbeobachtung ratsam.

Eine Fremdbeobachtung sollte durch einen eingeweihten Familienangehörigen oder Partner erfolgen und ebenfalls mittels eines Eindosierungstagebuchs wie z.B. der ADxS-Eindosierungshilfetabelle dokumentiert werden.

Daneben ist es hilfreich, unauffällig nicht in die Medikamenteneinnahme eingeweihte Dritten über von diesen bemerkte Veränderungen zu befragen.
Solche Rückmeldungen sind besonders wertvoll und aussagekräftig, wenn diese Dritten nicht wissen, dass Medikamente eingenommen werden. Andernfalls würde stets die Einstellung zu und Erwartung an dieser Dritter zu Medikamenten unterbewusst in die Bewertung einfließen und das Ergebnis verändern würde.
Um einen Bias bei der Beurteilung der Wirkung durch Lehrer oder andere Bezugspersonen zu vermeiden, ist es daher vorteilhaft, diese zunächst nicht über die Einnahme zu informieren. Berichten diese dann gleichwohl innerhalb der ersten Wochen eine signifikante Veränderung des Verhaltens, ist diese unvoreingenommene Beobachtung sehr viel aussagekräftiger.

Die Kombination einer dauerhaften Fremdbeobachtung durch einen eingeweihten Familienangehörigen (der möglichst nur von der Medikation an sich, aber nichts von Dosisveränderungen, Wirkstoffwechseln oder Auslassungen weiß) und unbefangenen Dritten, die auch die Tatsache der Medikation insgesamt nicht kennen, können sehr wertvolle Hinweise über die Wirkung geben.

Berichte machen nur Sinn, wenn die Wirkdauer der Medikation lang genug ist. Eine einzige unretardierte MPH-Tablette morgens kann keine Veränderungen bewirken, die über die 2,5 bis 4 Stunden Wirkzeit hinausgehen.

Bei kleineren Kindern kann es sehr helfen, diesen selbst nicht zu erzählen, dass sie nun Medikamente bekommen, sondern diese in der Eindosierungsphase als Vitamine zu bezeichnen. Nach einigen Wochen können Gespräche mit den ebenfalls nicht eingeweihten Lehrern aufschlussreich sein, ob diese Veränderungen bemerkt haben.

4.3. Messung der Medikationswirkung

Verschiedene Versuche, die Eindosierung von Medikamenten bei ADHS anhand von Blutwerten zu kontrollieren, haben bisher wenig Erfolge gezeigt.
In Bezug auf ATX wurde berichtet, dass Blutspiegelmessungen keine hilfreichen Werte ergaben.
Da Stimulanzien bekanntermaßen nicht gewichtsabhängig zu dosieren sind, und individuell sehr unterschiedliche Dosen für eine angemessene Wirkung erforerdlich sind, ist für uns nicht ganz nachvollziehbar plausibel, welchen Nutzen eine Blutspiegelmessung haben kann.

Einzelne Ärzte verwenden Daueraufmerksamkeitstests, um intraindividuelle Unterschiede ohne Medikation und mit verschiedenen Medikationsdosen zu ermitteln und das Responding und eine Wirkung von Stimulanzien zu kontrollieren. Da Aufmerksamkeitstests stark von der Motivation des individuellen Probanden abhängen und bei hoher intrinsischer Mitwirkungsmotivation auch bei ausgeprägtem ADHS fälschlich das Bild eines Nichtbetroffenen vermitteln können, sollten derartige Test nicht als einziges Kriterium herangezogen werden. Eine Nutzung als zusätzliches Evaluationsinstrument, insbesondere bei geschulter und stets gleichbleibende (langweiliger) Testumgebung kann dagegen hilfreich sein.

Eine Metastudie berichtet über brauchbare Ergebnisse des Qb-Test zur Messung von Medikationserfolgen bei ADHS.106
Der Qb-Test misst die Mimik des Probanden, während dieser einen Go/NoGo-Test absolviert. Ob die Ergebnisse konsistent genug sind, um Einzelfälle beurteilen zu können, bleibt abzuwarten. Zudem dürfte in der ärztlichen Praxis der erforderliche Zeitaufwand eine breitere Anwendung verhindern.

5. Nebenwirkungen vermeiden

Bei der individuell optimal symptomverbessernden Dosis (die erheblich unter den typischen Dosen liegen kann!) treten bei den wenigsten Betroffenen Nebenwirkungen auf. Die häufigsten Nebenwirkungen sind

  • Mundtrockenheit (wenige Tage)
  • leichte, vorübergehende Appetitlosigkeit

Nebenwirkungen und Effektstärke sind unterschiedlich gegeneinander abzuwägen.
Um ein 1 %-Punkt niedrigeres Risiko von Nebenwirkungen zu erreichen, waren Erwachsene mit ADHS bereit, auf Prozentpunkte der ADHS-Symptomverbesserung zu verzichten:107
0,59 Übelkeit (1 %-Punkt weniger Übelkeit war 0,59 Prozentpunkte ADHS-Symptomverschlechterung wert)
0,57 Schlaflosigkeit
0,49 Angstzustände
0,32 Nervosität
0,17 Mundtrockenheit

Seltene schwerere Nebenwirkungen (Bluthochdruck, Aggressivität oder anderes) sollten unverzüglich mit dem Arzt besprochen werden.

5.1. Besondere Herausforderung: Eindosierung bei komorbider Angst

Unserer Erfahrung nach erleben Betroffene mit einer komorbiden Angststörung oder hohen Angstwerten häufig stärkere Nebenwirkungen.
Mehr hierzu unter Behandlungsleitfäden bei spezifischen Komorbiditäten: ADHS und Angst im Beitrag Leitfaden ADHS-Behandlung.

5.2. Kein Koffein bei der Eindosierung von Stimulanzien (WICHTIG!)

Koffein sollte bei der Eindosierung von Stimulanzien ganz kompromisslos komplett weggelassen werden.
Da sich die Nebenwirkungen von Koffein und Stimulanzien aufdosieren können, können bei gemeinsamem Konsum Nebenwirkungen auftreten, die bei der Einnahme von Koffein alleine oder Stimulanzien alleine nicht auftreten.
Daher ist bei der Eindosierung von Stimulanzien Koffein komplett und konsequent wegzulassen. Dies mag Betroffenen, die ihre ADHS-Symptome zuvor mit hohem Koffeinkonsum bekämpft haben, subjektiv schwerfallen. Die Funktion der Symptomreduktion wird jedoch nun (uns sehr viel besser) durch die Stimulanzien übernommen.
Neben den genannten Überdosierungsnebenwirkungen wurden zuweilen auch andere Symptome während der Eindosierung von Stimulanzien berichtet, die beim Weglassen von Koffein schlagartig verschwanden, wie Übelkeit, Marmorhaut oder Raynaud-Syndrom.
Neben einer hohen Zittrigkeit werden auch andere Nebenwirkungen drastisch erhöht sein.
Es wurden aber auch andere Symptome berichtet, wie Herzrasen, Kreislaufprobleme, Übelkeit, Marmorhaut, Raynaud-Syndrom, die beim Weglassen von Koffein schlagartig verschwanden.
Bei zuvor starkem Koffeinkonsum können bei abruptem Absetzen 2 bis 3 Tage lang Entzugssymptome (insbesondere Kopfschmerzen) auftreten. Diese sollten nicht mit Eindosierungsnebenwirkungen der Medikamente verwechselt werden.

Rund 50 % der Betroffenen erleiden bei einer Eindosierung von Stimulanzien zu einer zuvor problemlos vertragenen Koffein-Einnahme Symptome, wie sie für eine Überdosierung (bis hin zu einer schweren Überdosierung) typisch sind. Wir kennen viele Betroffene, die dies nicht beachteten und daher irrig glaubten, Stimulanzien nicht zu vertragen. Ein neuer Versuch ohne Koffein und mit langsamer Eindosierung war dagegen häufig erfolgreich.

Bei zuvor hohem Koffeinkonsum kann es beim Absetzen für 2 bis 3 Tage zu Koffeinentzugserscheinungen kommen. Häufig ist dies Kopfschmerzen, Erschöpfung und Energieverlust, Ruhelosigkeit, Schlaflosigkeit, Kreislaufprobleme und Übelkeit, Verstopfung, Lethargie, Reizbarkeit und Unkonzentriertheit. Auch diese sollten nicht als Nebenwirkungen neu eingenommener Stimulanzien missverstanden werden.

Nach erfolgreicher Eindosierung von Stimulanzien kann Koffein wieder vorsichtig hinzugenommen werden. Der Unterschied ist, dass die Betroffenen dann wissen, dass nun etwa auftretende Nebenwirkungen nicht aus den Stimulanzien resultieren.
Wir kennen auch Berichte einzelner Betroffener, die - nach jahrelanger Einnahme von Stimulanzien - selbst auf entkoffeinierten Kaffee noch mit einer leichteren Zittrigkeit reagieren.
Manche Betroffene berichten, dass sie eine nachlassende Stimulanzienwirkung am Nachmittag durch Koffein verlängern können.

5.3. Kein gleichzeitiger Nikotinentzug

Nikotin ist ein Stimulanz und erhöht Dopamin und Noradrenalin. Starke Raucher haben dadurch eine tiefgehende Anpassung dieser Neurotransmitterhaushalte im Gehirn erfahren. Ein Rauchentzug, insbesondere von heute auf morgen, führt zu starken Anpassungsreaktionen und Entzugserscheinungen. Bei einer gleichzeitigen Eindosierung berichtete uns ein zuvor starker Raucher von sehr massiven und nicht zu tolerierenden Nebenwirkungen, die verschwanden, als er wieder rauchte.
Auch wenn Rauchen gesundheitsschädlich ist, sollte es daher nicht gleichzeitig mit einer Eindosierung beendet werden.
Zudem ist es für die Beobachtung der Medikamentenwirkung bei der Eindosierung hilfreich, diese nicht durch fremde Faktoren zu verzerren.
Anders als in Bezug auf Koffein liegen und zu Nikotin sehr viel seltener Berichte von Kreuzwirkungen vor.

Häufig verlieren die Betroffenen während oder nach der Eindosierung die Lust auf Nikotin. In vereinzelten Fällen wurden auch eine erhöhte Lust auf Nikotin berichtet.

5.4. Überdosierungsanzeichen

Überdosierungs-Anzeichen entsprechen meist denen eines übermäßigen Koffeinkonsums:5

  • Zittrigkeit
  • leichte Dysphorie
  • Nervosität
  • Herzklopfen
  • Herzrasen
  • Kopfschmerzen
  • Reizbarkeit
  • Kreislaufprobleme

Emotionsverlust (“Zombie-Modus”) kann ein Zeichen von Überdosierung sein. Mehr hierzu siehe unten in diesem Abschnitt.

Überdosierungssymptome sind schwer von Symptomen einer Unterdosierung abzugrenzen. Sollten die Symptome während des Eindosierens bei sehr niedrigen Dosen auftreten, sollte stets zunächst noch ein Versuch mit einer Erhöhung der Dosis erfolgen, unter besonderer Beobachtung der weiteren Symptomatik. Werden die Symptome eher schwächer oder verändern sie sich ganz, können es Unterdosierungssymptome sein.

5.5. Kopfschmerzen

Diese Darstellung basiert auf Simchen108 und deckt sich mit unseren Erfahrungen.

5.5.1. Unterzuckerung

Kopfschmerzen als Nebenwirkung einer Stimulanzieneinnahme sind häufig Folge eines Glucosemangels.
Stimulanzien erhöhen die Aktivität des PFC, was den Glucoseverbrauch steigert und den Blutzuckerspiegel senkt.
Symptome einer Unterzuckerung sind

  • Kopfschmerzen
  • Müdigkeit (Gähnen)
  • Blässe
  • Schwindelgefühl
  • Zittrigkeit (Zittrigkeit kann aber auch von Überdosierung oder Kreuzwirkung mit Koffein herrühren).

Abhilfe:

  • gut frühstücken / essen vor jeder Dosiseinnahme
  • Snacks für zwischendurch
  • beim Auftreten von Kopfschmerzen sofort schnell verdauliche Kohlenhydrate essen
    • Traubenzucker
    • Bananen
    • Fruchtsäfte (ohne Süßstoff)

Bei längerer Unterzuckerung bildet das Gehirn über den Milchsäurestoffwechsel saure Stoffwechselzwischenprodukte, die zu länger anhaltenden und schlechter beseitigbaren Kopfschmerzen führen.
Betroffene berichten häufiger, dass beim Nachlassen der Stimulanzienwirkung eine schnelle Nahrungsaufnahme die Konzentration wiederherstellen kann.

5.5.2. Flüssigkeitsmangel

Eine weitere häufige Ursache von Kopfschmerzen bei der Eindosierung von Stimulanzien ist eine ungenügende Flüssigkeitsaufnahme.

5.5.3. Histaminunverträglichkeit

Als dritte Ursache kommt eine Histaminüberempfindlichkeit oder Histaminintoleranz in Betracht, da alle ADHS-Medikamente (wohl bis auf Viloxazin) Histamin erhöhend wirken. Dann treten die Kopfschmerzen allerdings zusammen mit anderen typischen Symptomen einer Histaminunverträglichkeit auf.
Mehr zu den Symptomen einer Histaminintoleranz unter Histaminintoleranz, Histaminunverträglichkeit im Beitrag Differentialdiagnostik bei ADHS

5.6. Magen-Darm-Beschwerden

Stimulanzien können die Magen-Darm-Motorik erhöhen, was bei empfindlichen Betroffenen (wenn, dann eher bei Kindern) als schmerzhaft wahrgenommen werden kann.108(

Gerade höhere Dosen auf nüchternen Magen können etwa 30 Minuten nach der Einnahme ein seltsames krampfartiges Gefühl unter dem rechten Rippenbogen verursachen. Dies wird vermutlich durch einen Krampf der glatten Muskulatur des Zwölffingerdarms aufgrund des plötzlichen Anstiegs des Stimulanzienspiegels ausgelöst.5

Abhilfe:1085
Ausreichende Nahrungseinnahme vor der Medikamenteneinnahme.
Eine größerer Zeitabstand vor der Medikamenteneinnahme (eine Stunde) kann nochmals besser wirken als kein kleiner Zeitabstand (15 Minuten).

5.7. Einschlafprobleme

Viele Betroffene berichten, dass sie seit der Einnahme von Stimulanzien besser einschlafen können und einen erholsameren Schlaf haben.
Bei manchen Betroffenen können gleichwohl als Eindosierungsnebenwirkung Einschlafprobleme auftreten. Diese geben sich normalerweise innerhalb der ersten Wochen.

Abhilfe:

  • letzte Dosis so frühzeitig nehmen, dass ihre Wirkung mindestens eine Stunde vor der Schlafenszeit endet
    • dafür ist Kenntnis über die typische Wirkdauer des jeweiligen Medikaments erforderlich. Siehe hierzu unter Wirkung und Wirkdauer von ADHS-Medikamenten
    • ggf. Zeitabstand vergrößern
    • ggf. zunächst 1 bis 2 Wochen Nachmittagsdosis weglassen, nur mit einer Dosis halbtagesretardierten MPHs morgens arbeiten
  • Möglichkeit einer verlangsamten Verstoffwechselung (verlängerter Wirkdauer) berücksichtigen
  • Bei einigen Betroffenen (wir vermuten, eher bei ADHS-I als bei ADHS-HI) kann eine verringerte Dosis (1/5 bis 1/2 einer optimierten Einzeldosis) in unretardierter Form beim Einschlafen helfen
    • Gabe als Einschlafhilfe mit sehr geringen Dosen (1/10 der Tageseinzeldosis) antesten
    • retardierte Tagesdosen sind auf die kürzere Wirkzeit von unretardiertem Wirkstoff umzurechnen (Beispiel: 20 mg retardiert bei 5-6 Stunden Wirkzeit entsprechen 10 mg unretardiert bei 2,5-3 Stunden Wirkzeit).
  • OROS-MPH (Concerta) vermeiden
    • Im Vergleich zwischen zwei Studien fand sich eine höhere Quote an Einschlafprobleme bei OROS-MPH im Vergleich zu Ritalin-LA.109110

5.8. Tachykardie (Erhöhte Herzfrequenz), Blutdruckanstieg

Diese Darstellung basiert auf Simchen108 und deckt sich mit unseren Erfahrungen.

Stimulanzien regen den Sympathikus an.
MPH verändert die Herzrate nicht und erhöht den Blutdruck um 0,25. AMP und ATX erhöhen die Herzrate leicht. Etwaige kardiovaskuläre Wirkungen klingen bei den meisten Betroffenen spontan ab. 2 % der Betroffenen beendeten ihre medikamentöse Behandlung aufgrund kardiovaskulärer Wirkungen.111 Hat sich der Körper einmal gewöhnt, treten diese auch bei erneuter Einnahme nach längeren Therapiepausen nicht wieder auf.
Da die Studien nicht auf Koffein-Kreuzwirkungen achteten, könnte ein Teil der Abbrüche auf Koffein zurückzuführen sein.
Laut der American Heart Association sind fein abgestimmte Stimulanzien bei ADHS kardial neutral und benötigen keine besondere Überwachung von Kindern und Jugendlichen.112

Insbesondere Betroffene mit hohem Blutdruck scheinen durch Stimulanzien selbst bei fein abgestimmter Dosierung einen weiteren Blutdruckanstieg zu erleiden. Ist der Bluthochdruck vor Beginn der ADHS-Behandlung unter Kontrolle, können Stimulanzien verwendet werden, wobei der Blutdruck bei jeder Nachuntersuchung überwacht werden sollte.5

Bei besonders empfindlichen Betroffenen kann bei der Eindosierung ein höherer Anstieg der Herzfrequenz auftreten. Dies sollte stets sofort mit dem Arzt besprochen werden.
Abhilfe:

  • langsameres Aufdosieren
  • niedrigere Dosierung
  • Prüfung auf Kreuzwirkungen
  • Prüfen, ob Koffein komplett weggelassen wurde

5.9. Rebound

Der Rebound ist eine kurzzeitige Erhöhung der Symptome unmittelbar nach dem Ende der Wirkzeit von Stimulanzien. Er ist unangenehm, aber ungefährlich und stellt keinen Hinweis auf Probleme mit dem Medikament dar.5 Dennoch kann er in Einzelfällen so stark sein, dass die Betroffenen einen Abbruch der Medikation erwägen.
Rebound tritt nach unserem Eindruck vor allem bei unretardiertem und halbtags-retardiertem MPH auf. Der Rebound dauert ca. eine halbe Stunde.
Ganztages-Retard-Präparate zeigen einen geringeren Rebound.
Amphetamine haben ein geringeres Rebound-Risiko als Methylphenidat.5 Das langsam freisetzende Elvanse hat nach unserer Erfahrung (fast) keinen Rebound. Wir bei Elvanse ein Rebound berichtet, betrifft dies nach unserem Eindruck insbesondere Betroffene, bei denen eine Einzeldosis Elvanse verkürzt wirkt (7 Stunden oder weniger, anstatt der vom Hersteller angegebenen 12 bis 14 Stunden).

Abhilfe:

  • Rechtzeitige Einnahme der Folgedosis, sodass deren Wirkbeginn bereits zu dem Zeitpunkt eintritt, an dem der Rebound zu erwarten ist
  • Rebound nach der letzten Tagesdosis kann durch eine geringe Menge unretardiertes MPH vermieden werden
    • ca. 1/5 bis 1/2 der Menge, die einer optimalen Tageseinzeldosis entspräche (von retardierten Medikamenten ist dies umzurechnen, siehe oben unter Einschlafprobleme)
    • ca. 15 Minuten vor erwartetem Reboundeintritt

5.10. Wirkungslöcher

Bei retardierten MPH Präparaten nehmen manche Betroffene Wirkungslöcher zwischen der ersten und der zweiten Freisetzung wahr. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf eine Schnellverstoffwechslung.
Retardierte MPH-Präparate setzen mehrere Dosen MPH zeitversetzt frei. Wird die erste Freisetzung zu schnell verstoffwechselt, kann deren Wirkung bereits wieder abflauen, bevor die zweite Freisetzung einsetzt. Bei derartigen Problemen mit Wirkstoffschwankungen bei MPH kann innerhalb des MPH-Präparakte-Spektrums eine Umstellung auf ganztägig wirkende MPH-Präparate wie Concerta, Kinecteen oder (das zu Concerta bioidentische) Methylphenidathydrochlorid Neuraxpharm, die ebenfalls eine 12-Stunden-Wirkung haben. Alternativ sollte ein Wirkstoffwechsel auf Amphetaminmedikamente in Erwägung gezogen werden, da diese auf andere Weise metabolisiert werden, sodass die Chance auf eine Normalverstoffwechslung besteht.

5.11. Appetitlosigkeit / Gewichtsverlust

Stimulanzien und Desipramin sind häufig mit der Nebenwirkung eines verringerten Appetits und daraus folgend eines Gewichtsverlusts verbunden.
Meist ist dies lediglich eine Eindosierungsnebenwirkung und gibt sich im Verlauf von einigen Wochen oder Monaten.

Es sollte verstärkt Essen außerhalb der Wirkzeiten der Medikamente angeboten werden. Da viele Menschen Schwierigkeiten haben, morgens etwas zu essen (für diese ist Medikinet adult oder Medikinet retard ungeeignet), sollte auf reichliche Nahrungsaufnahme am Abend geachtet werden.

Es wurde berichtet, dass Appetitlosigkeit unter Concerta schwächer sein könne als unter anderen MPH-Präparaten.

Auch Atomoxetin ist häufig mit einem Appetitverlust verbunden, das Risiko ist jedoch geringfügig (um 12 %) niedriger als bei MPH (RR 0,82; Metastudie, k = 8, n = 1.463)113 Atomoxetin bewirkte eine Gewichtsabnahme von 0,6, Concerta von 0,9, Plazebo von 1,1. (Placebo bewirkte also eine stärkere Gewichtsabnahme als ATX und MPH).114
Das Risiko von Methylphenidat und Amphetaminmedikamenten war identisch (RR 1,01; Metastudie, k = 3, n = 414)113

Nortryptilin soll als Nebenwirkung mit einer Gewichtszunahme verbunden sein.115

Eine augmentierende Gabe niedriger Antipsychotika-Dosen könnte durch Stimulanzien ausgelöste Gewichtsabnahmen vermeiden helfen.
Während MPH häufig mit Appetitmangel einherging, zeigte Thioridazin als Nebenwirkung eine Appetitsteigerung.116 Atypische Antipsychotika sollen eine noch stärkere Wirkung in Richtung Appetitsteigerung und metabolisches Syndrom zeigen.117
Eine Kombinationsbehandlung mit Psychostimulanzien und Antipsychotika wird immer häufiger eingesetzt.118 Vereinzelt wurde auch eine gegenüber einer Stimulanzien-Monotherapie verbesserte Wirkung berichtet.117 Eine Registerstudie fand, dass 3,9 % der ADHS-betroffenen Kinder und Jugendliche, die Stimulanzien erhielten, mit atypischen Antipsychotika komedikamentiert wurden.119
Dies eröffnet die Option, durch eine Kombinationsmedikation einem zu starken Gewichtsverlust bei Stimulanzien entgegenzuwirken.

Eine weitere Option ist die Gabe von Cyproheptadin.22
Mehr hierzu unter Cyproheptadin bei ADHS

Notfalls sind Medikamentierungspausen erforderlich, um das Gewicht wieder zu erhöhen.

5.12. Emotionsverlust / Zombie-Modus: Überdosierung oder Unverträglichkeit

Bei empfindlichen Betroffene, vor allem bei ADHS-HI und ADHS-C5, kann eine Verlangsamung des Denkens und ein abgeflachter Affekt (Emotionsverarmung) auftreten (“Zombie-Syndrom”). Hier hilft eine Vermeidung einer Überdosierung oder eine Verringerung der Stimulanziendosis unter Kombinationsmedikation mit Nichtstimulanzien sein. Mehr hierzu unter Kombinationsmedikation bei ADHS

Eine Einschränkung der Emotionalität durch ADHS-Medikamente braucht keinesfalls in Kauf genommen zu werden. ADHS-Medikamente wirken dann richtig, wenn der Betroffene sich mehr wie sich selbst fühlt. Jede Form eines sich selbst als fremd Wahrnehmens oder weniger Wahrnehmens ist ein Hinweis auf eine unpassende Medikation.
Stimulanzien dämpfen das limbische System. Einige wenige Betroffene reagieren in dieser Hinsicht besonders empfindlich. Meist hilft dann ein geduldiges Austesten verschiedener Präparate und Wirkstoffe.
Häufiger ist eine Emotionseinschränkung nach unserem Eindruck die Folge einer Überdosierung. Dann sollte ein nochmaliger Neustart der Eindosierung in möglichst kleinen Eindosierungsschritten erwogen werden. Manche (wenn auch sehr wenige) Betroffene benötigen nur wenige mg eines Stimulanz über den gesamten Tag.

Die folgenden Optionen sollten erst dann in Betracht gezogen werden, wenn sichergestellt ist, dass eine Dosierungsverringerung, bei der die emotionale Beeinträchtigung gerade so eben ausbleibt, die ADHS-Symptome nicht ausreichend verbessert:

  • Atomoxetin oder Guanfacin statt Stimulanzien
    • Nichtstimulanzien
      • hemmen das limbische System nicht
      • verbessern Antrieb nicht
  • Stimulanzien-Dosisverringerung bei Komedikation von Nichtstimulanzien (Vorteil: Antrieb durch Stimulanzien bleibt, emotionale Dysregulation wird ganztägig verbessert)
    • Erwachsene: Stimulanzien und Atomoxetin
    • Kinder: Stimulanzien und Guanfacin oder Stimulanzien und Atomoxetin

5.13. Zyklusabhängige Symptomschwankungen bei Frauen

Der Dopaminhaushalt wird unter anderem durch COMT geprägt. COMT ist der wesentlichste Abbaumechanismus im PFC, während der Abbau im Striatum vor allem durch DAT gesteuert wird.
Der Abbau wird stark durch die COMT-Genvariante beeinflusst.
Eine relevanter Anteil der Frauen mit ADHS berichtet von stärkeren Symptomen in der prämenstruellen Phase. Im Falle einer Stimulanziengabe lässt sich diese mit einer zeitlich begrenzten Anhebung der Stimulanziendosis in dieser Phase verbessern. Eine Studie berichtet von guten Erfahrungen mit einer Anhebung der Stimulanziendosis um durchschnittlich 41 % in der prämenstruellen Woche.120

5.14. Schwankende Wirkung

Zuweilen berichten Betroffene, auch nach längerer stabilere Wirkung, von Wirkungsschwankungen.
Die möglichen Ursachen sind vielfältig. Mehr hierzu unter Wirkung und Wirkdauer von ADHS-Medikamenten
Beispiele:

  • hinzugetretene oder weggefallene andere Medikamente
    • bei ADHS-Medikamenten insbesondere:
      • Antizida
  • Kreuzwirkungen mit Nahrungsmitteln
    • hier gibt es viele Möglichkeiten. Ernährungstagebuch führen
    • insbesondere
      • Grapefruit
      • Vitamin C
        • Einnahme ggf. auf eine oder mehrere Stunden nach der Medikamenteneinnahme verlegen
  • Veränderungen der Magensäure
    • MPH wie AMP reagieren empfindlich auf Änderungen der Magensäure
    • ggf. Säuregehalt des Harns messen
  • Fehlerhafte Medikamentenchargen
    • selten, aber haben wir tatsächlich mehrfach erlebt
    • trat Wirkungsänderung mit Anbrechen neuer Packung auf?
  • Medikamente zu heiß gelagert
  • Anpassungsreaktionen

5.15. Überlastungssymptome

Viele Betroffene entwickeln nach dem Beginn der Medikation eine hohe Aktivität, mit der sie ihre Probleme und Aufgaben angehen.
Bei manchen Betroffenen kann dies zu einer Überlastungssymptomatik und zuweilen sogar bis hin zum Zusammenbruch führen.

Wir halten diese nicht für eine pharmakologische, sondern eine psychologische Folge der Medikation. Es ist insbesondere kein Ausdruck von Hyperaktivität oder innerer Unruhe, sondern im Gegenteil eine gegenüber der Zeit vor der Medikation deutlich erhöhte Effektivität und Arbeitsintensität.

Viele Betroffene können sich durch die Medikamente nun besser motivieren und denken deshalb, jetzt auch gleich alles schaffen zu können, was sie wollen, sollen oder zu müssen meinen .
Doch zwischen “mehr” können und “alles” können liegt ein Unterschied.

Medikamente führen zwar dazu, dass man jetzt mehr schafft, aber sie stellen eben nicht eine volle Leistungsfähigkeit her. Zwar wird häufig die Leistungsfähigkeit von Nichtbetroffenen erreicht, jedoch nicht immer und nicht bei allen. Medikamente verhelfen auch nicht zu Superkräften, mit denen nun alles zu schaffen wäre, was man schon immer können wollte.
Subjektiv ist das aber nicht wahrnehmbar. Man spürt von innen her ja nur, dass es einem jetzt besser geht. Dass das immer noch nicht alles ist, kann man ja nicht fühlen, weil man es nie kannte und nicht weiß wie es wäre, wenn man keine ADHS-Belastung mehr hätte. Hier könnte auch ein Konflikt mit einem inneren dysfunktionalen Perfektionismus zutage treten.

Gerade kurz nach der Eindosierung sollten Betroffene daher besonders darauf achten, sich nicht zu überlasten.
Mit Medikamenten muss man erst einmal die neuen eigenen Grenze kennenlernen, was jetzt möglich ist und was man sich abverlangen darf.
Medikamente können diese Grenzen verschieben, sie können sie jedoch nicht aufheben.

6. Allgemeine Hinweise

  • Zur Eindosierung sollte ca. in der ersten Woche unretardiertes MPH verwendet werden. Die kürzere Wirkdauer und die linearere Dosis-Wirkungskorrelation (ohne ein zweites Hoch bei Wirkungsbeginn der retardierten Teilmenge) erleichtert die Findung der passenden Dosis, insbesondere für ungeübte Beobachter (Betroffene wie Dritte).
  • Bei retardiertem Medikinet muss beachtet werden, dass dies zusammen mit Nahrung aufgenommen werden muss, da andernfalls die gesamte Dosis unretardiert abgegeben wird. Andere Präparate benötigen in der Regel keine Nahrungseinnahme, wobei dies in jedem Fall im Beipackzettel nachgeprüft werden muss. Bei allen lang wirkenden ADHS-Medikamente empfiehlt sich eine Einnahme zusammen mit einer Nahrungsaufnahme.
  • Koffein (Kaffee, Cola, Schwarztee, manche Grüntees, Mate, Energydrinks), dunkle Schokolade / Kakao (Theobromin) während der Eindosierung unbedingt vollständig weglassen. Viele Betroffene vertragen bei Stimulanzien-Einnahme kein Koffein oder sonstige Stimulanzien mehr, die vorher problemlos oder sogar in größeren Mengen konsumiert wurden. Koffein (Teein) und Theobromin sind Stimulanzien, die auch Noradrenalin- und Dopaminerhöhend wirken. Sie können sich mit ADHS-Medikamenten addieren. Dies kann schnell mit einer Überdosierung (innere Hibbeligkeit, innere Unruhe, Zittrigkeit) verwechselt werden.
    Nach der Eindosierung kann Koffein wieder konsumiert werden, wobei sich empfiehlt, diesen zunächst vorsichtig zu testen. Löst Koffein jetzt eine Zittrigkeit aus, ist transparent, dass dies am Koffein liegt und nicht an den Medikamenten.
  • Alkohol erhöht den MPH-Blutspiegel und muss bei einer MPH-Eindosierung komplett gemieden werden.
  • Zitrusfrüchte während der Eindosierung vermeiden. Manche Betroffene reagieren auf Zitrusfrüchte mit variierender Medikamentenwirkung. Grapefruit sollte bei jeder Medikamenteneindosierung vermieden werden.
  • Einnahme an Nachmittagen, Wochenenden und in den Ferien
    • Da ADHS keine rein schulische Problematik ist, auch wenn sie dort aufgrund der extrinsischen Anforderungen und dem durch Mangel an neurotrophen Stoffen bestehenden Lernproblemen besonders deutlich zutage tritt, ist eine durchgehende Medikation dringend zu empfehlen. Ob lediglich während der Schulzeit vormittags zu medikamentiert werden soll, hängt davon ab, ob die Betroffenen mit dieser Medikation noch in der Lage sind, ihre Hausaufgaben konzentriert und ihre sozialen Kontakte ohne emotionale Dysregulation bis zum frühen Abend hin ohne Symptomatik zu bewältigen.
    • Ein Absetzen der Medikamente an den Wochenenden oder in den Ferien sollte vermieden werden. Zum einen halten sich die Symptome nicht sehr diszipliniert an Schulzeiten und zum anderen kann eine längere Einnahmepause erfordern, dass wieder langsam eindosiert wird, um Nebenwirkungen zu vermeiden.
    • Denkbar ist es allerdings, die Dosierung in Zeiten geringerer Anforderungen etwas zu verringern (auf 2/3 oder 3/4). Hier kommt es sehr auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen an. Alle Dosierungsänderungen müssen mit dem Arzt abgestimmt werden. Ein erfahrener Arzt wird einem vertrauenswürdigen Patienten allerdings einen erheblichen Handlungsspielraum einräumen.
  • Mischen von Stimulanzien
    • Stimulanzien können kombiniert werden. Insbesondere können retardierte und unretardierte Medikamente an einem Tag genommen werden. Auch eine Kombination von AMP und MPH verursacht keine besonderen Probleme.
      In der Regel wird tagsüber eine retardierte Medikamentenform genommen werden, die optimalerweise den ganzen Tag abdeckt. Verantwortungsvolle und vertrauenswürdige Patienten können vereinzelte besondere Belastungen, z.B. einen besonders langen Abend, mittels unretardiertem MPH ergänzend abdecken.
      Die Weisungen des behandelnden Arztes sind maßgeblich!
  • Menstruationszyklus kann Medikamentenwirkung stark beeinflussen.
    • Bei Schwankungen der Medikamentenwirkung bei Frauen sollte der bei bestimmten COMT-Genvarianten mögliche erhebliche Einfluss von Östrogen beachtet werden. Eine Eindosierungshilfetabelle, die dabei unterstützt, die Menstruation und ihre Auswirkungen abzubilden, findet sich unter ADHS-Forum.ADxS.org.

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Diese Seite wurde am 20.10.2024 zuletzt aktualisiert.