ADHS wird bei Kindern deutlich häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert. Dieser Unterschied nivelliert sich bei Erwachsenen.
Während bei Jungen in der ärztlichen Praxis 5- bis 9-mal häufiger ADHS diagnostiziert wird als bei Mädchen, werden bei epidemologischen Studien (möglicherweise durch die dort genauere Untersuchung) nur 3-mal so viel Jungen wie Mädchen diagnostiziert.
Bei Erwachsenen ist das ADHS-Verhältnis dann in allen Umgebungen 1:1 ausgeglichen.
Eine große Untersuchung fand bei Kindern mit ADHS ein Geschlechterverhältnis von 1,6 : 1 (Jungen zu Mädchen). Während bei Jungen Impulsivität und bei Mädchen Unaufmerksamkeit häufiger auftrat, war Hyperaktivität gleich häufig vertreten.
Ob die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einzelner Symptome geschlechtsspezifisch ist, sodass Frauen häufiger den ADHS-I-Subtyp entwickeln und sich bei Männern häufiger der ADHS-HI-Subtyp findet, wird heute infrage gestellt. Eine Untersuchung fand, dass Jungen und Mädchen sich in der Symptomatik von Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität nicht unterscheiden. Auch bei Erwachsenen scheint zudem die Verteilung der Symptome geschlechtsunabhängig zu sein.
1. Geschlechtshormone als Treiber geschlechtsspezifischer psychischer Störungen¶
Geschlechtshormone (Gonadenhormone, Sexualhormone, Keimdrüsenhormone) sind:
- Androgene (C19-Steroidhormone), u.a.:
- Testosteron
- Androstendion (biochemisch reduziertes Testosteron)
- 5α- und 5β-Dihyrotestosteron (DHT)
- Dehydroepiandrosteron (DHEA).
- Östrogene (C18-Steroidhormone)
Östrogene sind, wie Gestagene, weibliche Sexualhormone. Östrogene sind C-18-Steroidhormone. Sie werden zyklusabhängig in den Zellen der Ovarialfollikel synthetisiert.
Es gibt vier natürliche Östrogene:
- Estradiol (17β-Estradiol, Östradiol; bioaktivstes Östrogen)
- Östron (3/10 der Bioaktivität von Estradiol)
- Östriol (1/10 der Bioaktivität von Estradiol)
- Östetrol
Eine orale Einnahme natürlicher Östrogene ist aufgrund der Inaktivierung in der Leber unwirksam. Als Medikamente werden daher synthetische Östrogene verwendet und dienen vornehmlich zur Ovulationshemmung bei der hormonellen Verhütung.
Daneben können auch weitere Hormone psychopathologischen Einfluss haben (z. B. Gestagene (Schwangerschaftshormone)).
Männer sind anfälliger für (externalisierende) Verhaltensstörungen in der Kindheit (ADHS, ODD, CD, Autismus, Lernstörungen), Frauen dagegen für emotionale (internalisierende) Störungen in der Adoleszenz (Depression, Angststörungen, Dysthymie, Essstörungen, PTSD). Dies könnte auch auf Geschlechtshormone zurückzuführen sein.
Die folgenden Ausführungen basieren maßgeblich auf der Arbeit von Martel et al (2013), die den differenzierenden Beitrag von Geschlechtshormonen vertieft erörtert haben.
- Testosteron könnte pränatal (“organisatorisch”) dopaminerge Schaltkreise im Striatum modulieren, sodass Jungen ein größeres Risiko für eine frühe Entwicklung von Unaufmerksamkeit und störenden Verhaltensstörungen haben.
- Eine Theorie des “extrem männlichen Gehirns” bei Autismus betrachtet Autismus-Symptome als Übertreibungen typischer Geschlechtsunterschiede sind und sieht eine Exposition gegenüber hohen pränatalen Testosteronspiegeln als Risikofaktor für Autismus
- Testosteron scheint die Schmerzreaktionen von Männern zu reduzieren
- Androstendion korrelierte nur bei Jungen mit Verhaltensauffälligkeiten
- Testosteron-Estradiol-bindendes Globulin korrelierte negativ mit traurigem Affekt und auffälligem Verhalten.
- Estradiol könnte in der Pubertät (“aktivierend”) Schaltkreise u.a. in der Amygdala (insbesondere mit Auswirkungen auf serotonerge Signalpfade) so modulieren, dass Mädchen ein höheres Risiko für internalisierende und affektive Störungen haben
- Bei Essstörungen wird eine geringere pränatale Testosteronbelastung als Risikofaktor betrachtet, während steigende Estradiolspiegel während und nach der Pubertät das Risiko verringern
Geschlechtshormone haben eine wichtige Rolle bei der Organisation und Plastizität des Gehirns und von Verhaltenssystemen.
- “Organisatorische” Auswirkungen
- Exposition gegenüber Androgenen
- Androgene
- zwischen Schwangerschaft und 4. Lebensmonat
- permanente maskulinisierende Auswirkungen auf Nervensystem und Verhalten
- „Aktivierende“ Wirkung
- überwiegend Östrogene
- während Adoleszenz
- Pubertät als phänotypisches aktivierendes Ereignis
- Testosteronspiegel steigt in Pubertät
- bei Männern um das 18-fache
- bei Frauen um das 8-fache
- Luteinisierendes Hormon (LH) und Follikel stimulierendes Hormon (FSH) stimulieren die Produktion von Androgenen, Östrogen und Progesteron
- Estradiol und Testosteron können Genexpression und Neurotransmission regulieren, z.B. GABA und Serotonin
- Estradiol beeinflusst in der Pubertät:
- orbitalen Cortex
-
mPFC
-
Amygdala
-
Hippocampus
- Estradiol interagiert mit der HPA-Achse
- Estradiol verstärkt die Stressreaktion im PFC geschlechtsspezifisch mittels Serotonin-, Noradrenalin- und Dopamin
- Östrogen könnte mit der HPA-Achse interagieren
- Erhöhung der Stressempfindlichkeit der HPA-Achse
- Modulation der HPA-Achse in der Pubertät
- veränderte HPA-Aktivität kann Stressempfindlichkeit und dadurch Depressionsanfälligkeit erhöhen
- Östrogen ist starker Regulator mehrerer serotonerger Systeme (z.B. des 5HT2a-Rezeptors)
- Schnell wechselnde Östrogenspiegel in der Pubertät können Transkription von Serotonin-Genen direkt beeinflussen. Folge:
- Anomalien in der Amygdala
- niedrige Serotoninspiegel
- vorübergehende Auswirkung auf neuronale Struktur und Verhalten
- Veränderung und Aktivierung von zuvor organisierten neuronalen Schaltkreisen
- ggf. auch noch einige organisatorische Wirkungen
1.1. Genetisches Geschlecht, gonadales Geschlecht, hormonelles Geschlecht¶
Das genetische Geschlecht führt zu einem gonadalen Geschlecht, das wiederum mit dem hormonellen Geschlecht verbunden ist.
Das genetische (d. h. chromosomale) Geschlecht wird bei der Zeugung festgelegt. In der Folge veranlasst ein Gen auf dem Y-Chromosom die Entwicklung der Keimdrüsen zu Hoden. Die Hoden setzen mehrere androgene Steroidhormone (z.B. Testosteron) frei, die Körper und Gehirn in der Schwangerschaftentwicklung vermännlichen.
Eierstöcke setzen vorgeburtlich wenig oder gar kein Hormon frei. Das relative Fehlen von Androgenen bewirkt die Entwicklung eines weiblichen Körpers und Gehirns .
Hormonelles Geschlecht ist das zirkulierende Östrogen zu Androgen-Verhältnis, das bei den meisten Frauen höher ist als bei Männern. Die sexuelle Differenzierung (dies bezeichnet die Entwicklung von Menschen (und Tieren) zu Männchen und Weibchen) ist eng mit den organisatorischen Auswirkungen von Geschlechtshormonen verknüpft.
1.2. Geschlechtsspezifische Differenzierung der neuronalen Schaltkreise und des Verhaltens¶
1.2.1. Theorien¶
Die folgenden 3 Theorien schließen sich nicht gegenseitig aus:
1.2.1.1. Klassische Theorie¶
- Androgene verursachen männliche Entwicklung
- fehlende Androgene bewirken weibliche Entwicklung
- hohe Testosteronspiegel (Männer) bewirken
- “Vorgelagerte” Effekte
- Erhöhte Zellproliferation
- erhöhter Zelltod in der rechten Gehirnhälfte
- Verlangsamte pränatale Entwicklung / langsamere Gehirnentwicklung
- dadurch veränderte zerebrale Lateralisierung
- mögliche Folgen bei Männern:
- anfälliger für Umweltbelastungen
- variablere Verhaltensergebnisse
- erhöhtes Risiko für Lernstörungen
- erhöhtes Risiko für Hyperaktivität
- für längeren Zeitraum anfällig für Verletzungen und strukturelle Anomalien in der linken Hemisphäre
- verstärkte neuronale Lateralisierung (= Spezialisierung der Gehirnhälften)
- Folge u.a.: nach einem fokalen Schlaganfall erlangen Frauen häufiger die Sprache zurück als Männer
- Modulation der Neurotransmission
- Interaktion mit dem Genotyp
- “Nachgelagerte” Effekte
- Einfluss auf die Auswahl der Umweltnische
- Einfluss auf die Auslösung von Umweltreaktionen
1.2.1.2. Aktive Feminisierung¶
Eierstockhormone fördern aktiv Feminisierung der neuronalen Schaltkreise und des Verhaltens
1.2.1.3. Gradientenmodell¶
Hormone beeinflussen:
- Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern (z. B. bei der Kognition, beim Spielen in der Kindheit und bei der Aggression)
- Verhaltensvariationen innerhalb der Geschlechter
- Frauen, die pränatal höheren Androgenspiegeln ausgesetzt sind, könnten männlichere Merkmale aufweisen (z.B. erhöhte räumliche Fähigkeiten)
1.2.2. Geschlechtshormone und Dopamin¶
Schwangere Ratten, die unter Zwangsstress gesetzt wurden, hatten männlichen Nachwuchs mit verringertem Testosteronspiegel und mit erhöhtem Dopaminspiegel im Striatum. Weiter kann der Testosteronspiegel die neuronale Entwicklung durch sogenannte “nachgeschaltete” Effekte indirekt beeinflussen: über die Auswahl von Erfahrungsnischen durch den Organismus und die Auslösung von Umweltreaktionen.
1.2.3. Geschlechtshormone und geschlechtsdimorphe Gehirnstrukturen, Gehirnfunktionen und Verhalten¶
Geschlechtshormone beeinflussen die Bildung von Gehirnstrukturen und Gehirnfunktionen. Dies wiederum beeinflusst das Verhalten.
Bei Männern größer:
- Gesamtgehirnvolumen
-
Weiße Substanz
-
Liquor
- Kleinhirn
- Pons
-
Amygdala
-
Hypothalamus
- Frontomedialer Kortex
-
Corpus callosum (unklar)
Bei Frauen größer:
-
Graue Substanz
- in posterioren, temporalen und inferioren parietalen Hirnregionen
- größerer Anteil
- größere kortikale Dicke
-
Hippocampus
- Frontoorbitaler Kortex
- Oberer frontaler und lingualer Gyrus
- vordere Kommissur
- Caudat (unklar)
-
Corpus callosum (unklar)
Weitere Unterschiede:
- geringere Lateralisierung (d. h. Spezialisierung) der kortikalen Funktionen bei Frauen
- geringeren Prävalenz von Linkshändigkeit
- größere Variation des extrazellulären striatalen Dopamins über den Östrogenzyklus bei Frauen
- Östrogen und Progesteron modulieren Dopamin in Striatum und Nucleus accumbens nur bei Frauen
- deutlich höhere juvenile Zunahme der Dopaminrezeptordichte im Striatum, im Nucleus accumbens und im präfrontalen Kortex bei Rattenmännchen (Andersen & Teicher, 2000).
- globaler zerebrale Blutfluss ist bei Frauen höher
- Serotonin-Vollblutspiegel ist bei Frauen höher
- Männer synthetisieren Serotonin schneller
- höhere Verfügbarkeit von Dopamintransportern bei Frauen
- höhere präsynaptische Dopaminsynthese im Striatum bei Frauen
- IQ korreliert mit Volumen der grauen Substanz
- bei Männern im Frontal- und Parietallappen
- bei Frauen im Frontallappen und im Broca-Areal
- emotionale Ereignisse werden in Amygdala unterschiedlich verarbeitet:
- Frauen: vorrangig in linker Amygdala
- Männer: vorrangig in rechter Amygdala
- Dieser Lateralisierung könnte Ursache dafür sein, dass Männer auf emotionale Reize eher physisch reagieren, Frauen dagegen eher nachdenken als handeln
1.3. Geschlechtsspezifische Anfälligkeit für Neurotoxine¶
Wie im Kapitel Entstehung (von ADHS) dargestellt, sind Neurotoxine - insbesondere pränatal und im Kindesalter - ein erheblicher Risikofaktor für die Entstehung von ADHS.
Als Gründe für die größere Anfälligkeit des männlichen Gehirns gegenüber Neurotoxinen wird angegeben:
- geringere Glutathionverfügbarkeit als bei Frauen
- geringere Entgiftungskapazität auf Sulfatbasis als bei Frauen
- Neurotoxine und Testosteron zeigen potenzierende Effekte
- stärkere neuroinflammatorische Reaktion bei Männern
- höhere Anfälligkeit für oxidativen Stress als bei Frauen
- fehlende neuroprotektive Effekte weiblicher Hormone (Östrogen und Progesteron), insbesondere bezüglich der Verringerung von Entzündungen und oxidativem Stress
2. Theorien über hormonelle Mechanismen von Depression¶
2.1. Depressionswahrscheinlichkeit steigt bei Mädchen mit Pubertät¶
Mädchen waren erst ab dem Alter von 10 bis 15 Jahren mit doppelter Wahrscheinlichkeit depressiv als Jungen. Dieses 2:1-Verhältnis wurde durch veränderte Estradiol- und Testosteronwerte verursacht, nicht aber durch FSH und LH, war unabhängig von Tanner-Stadium, und blieb im weiteren Alter bestehen.
Ein höherer Grad an negativem Affekt korrelierte mit höherem Testosteronspiegel, höherem Cortisol und niedrigeren Nebennierenhormonen, nicht jedoch mit verändertem Estradiolspiegel.
2.2. Depressionswahrscheinlichkeit und Hormonschwankungen im Monatszyklus¶
Estradiol- und Progesteronspiegel sind während der Menstruationsblutung relativ niedrig. Der Estradiolspiegel steigt während der Follikelphase bis zum LH-Anstieg an, bei dem der Eisprung stattfindet. Nach dem Eisprung sinkt der Estradiolspiegel, während der Progesteronspiegel stetig ansteigt. In der Mitte der Lutealphase erreicht der Estradiolspiegel einen zweiten Höchststand, doch dann sinken sowohl Progesteron als auch Estradiol während der gesamten prämenstruellen Phase. Zu diesem Zeitpunkt setzt die Menstruationsblutung ein und schließt den Zyklus ab.
Die Symptome der depressiven Verstimmung variieren systematisch über Schwankungen des Menstruationszyklus. Bei Frauen ist die Wahrscheinlichkeit für Stimmungsprobleme (d.h. depressive Stimmung, Apathie) am größten in der mittleren bis späten Lutealphase des Menstruationszyklus. In diesem Zeitraum erreicht der Progesteronspiegel seinen Höhepunkt, während der Estradiolspiegel sinkt. Negativer Affekt ist ebenfalls zyklusabhängig und tritt am stärksten vor oder während der Menstruationsphase und weniger in ovulatorischen oder prämenstruellen Phasen auf.
Orale Verhütungsmittel veränderten die Variabilität der Stimmung im Tagesverlauf. Triphasic-Präparate (orale Verhütungsmittel mit drei Hormonphasen) bewirkten eine erhöhte Affekt-Variabilität. Depressive Stimmung tritt typischerweise während der prämenstruellen Periode auf, wenn Estradiol und Progesteron abnehmen.
Bei PMS verbesserte eine Unterdrückung der Eierstockfunktion durch Leuprolid die Symptome. Bei einer Teilgruppe traten diese nach dem Ersatz von Estradiol oder Progesteron jedoch wieder auf, was auf eine abnorme Reaktion auf hormonelle Veränderungen als Ursache für PMS-Stimmungsprobleme hindeutet. Tatsächlich zeigten Frauen mit prämenstrueller Dysphorie im Vergleich zu anderen Frauen eine abnorme Gonadotropin-Reaktion auf eine Estradiol-Belastung:
- stärkere negative Rückkopplungsreaktion bis zum Nadir-LH-Spiegel
- höhere LH-Spiegel am Nadir
- mehr LH-Stoß-ähnliche Reaktionen
- um 50 % höheres LH-AUC
- LH-Antwort war mit VAS-bewerteten Symptomen assoziiert
- das negative Inkrement (AOC) korrelierte mit Blähungen in der Lutealphase
-
AUC von LH korrelierte mit Reizbarkeit
- Depressive Stimmung korrelierte mit
- FSH-Basisspiegeln
-
AUC von FSH während der negativen Feedbackphase
2.3. Depressionswahrscheinlichkeit und Hormonschwankungen nach Geburt / in Menopause¶
15 % der Frauen entwickeln in den ersten sechs Monaten nach der Geburt, wenn die Sexualhormone rasch und dramatisch abnehmen, Depressions-Symptome. Ein starker Estradiol- und Progesteron-Rückgang nach der Geburt korrelierte mit Depression bei Frauen mit einer Vorgeschichte von postpartalen Depressionen.
Der Beginn der Menopause ist mit einer Abnahme des Östrogenspiegels sowie mit einem 2-fachen bis 4,3-fachen Risiko für Reizbarkeit und Depression verbunden, während das Depressionsrisiko nach der Menopause verringert ist.
Das Depressionsrisiko war bei Frauen
- in der Menopause 2,5-fach erhöht
- nach der Menopause verringert
- mit einem schnell ansteigenden Profil von FSH verringert
- mit hohem Spiegel und erhöhter Variabilität von FSH erhöht
- mit hohem Spiegel und erhöhter Variabilität von LH erhöht
- mit steigenden Estradiolspiegel und erhöhter Variabilität von Estradiol erhöht
Östrogen-Gabe in den Wechseljahren reduzierte depressive Stimmung deutlich.
Niedrige Östrogenspiegel oder dramatische Veränderungen des Östrogenspiegels scheinen Depressionsrisiko zu erhöhen.
Ob eine Estradiol-Gabe nach der Geburt / während Perimenopause / während Menopause mit einem Rückgang der Depression korreliert, ist inkonsistent. Es gibt etliche Studien dafür wie dagegen.
Estradiol-Gabe kann Wirkung von Antidepressiva bei Non-Respondern in den Wechseljahren beschleunigen.
Der Entzug von Estradiol bei Ratten, die hohen Estradiol- und Progesteronspiegeln ausgesetzt waren (um die Werte während der Schwangerschaft zu imitieren), führte zu erhöhten depressiven Symptomen. Estradiol-Gabe erhöhte bei Ratten die Mobilität, was auf eine antidepressive Wirkung der Estradiol-Verabreichung hindeutet.
Möglicherweise wirkt auch hier eine Inverted-U-Kurve: optimale Estradiolspiegel sind protektiv, verringerte wie erhöhte Estradiolspiegel verstärken depressive Symptome.
Um die Beziehungen zwischen Estradiolspiegel und Affekt über einen Zeitraum von 30 oder 60 Tagen zu untersuchen, sind tägliche Messungen über den gesamten Menstruationszyklus erforderlich.
2.4. Östrogen scheint Transkription und Aktivität von Serotonin-Genen zu beeinflussen¶
Östrogen moduliert die zentralen Neurotransmittersysteme, die bei Depressionen eine Rolle spielen, insbesondere das von Serotonin.
2.5. Östrogene beeinflussen HPA-Aktivität¶
2.5.1. Estradiol beeinflusst HPA-Stressantwort¶
Östrogene, insbesondere Estradiol, scheinen die Stressreaktion (d. h. die Freisetzung von Katecholaminen) im PFC zu verstärken. Estradiol scheint unter Stressbedingungen keine antidepressive Wirkungen zu haben.
Östrogen senkt die Schwelle für die präfrontale kortikale Dysfunktion, die aus stressigen Erfahrungen resultiert.
Östrogen, insbesondere Estradiol, erhöhe somit das Depressionsrisiko, indem es die Schwellenwerte für die präfrontale Aktivierung als Reaktion auf Stress verändert.
Nach anderer Ansicht soll Estradiol via Interaktion mit belastenden Lebensereignissen und HPA-Achse mäßigende Auswirkungen auf Depressionen haben. Estradiol moderiert die Funktion des limbisch-OPFC-Schaltkreises und der HPA-Achse, was das Risiko einer Depression mindere. Estrogen verringerte die Stressantwort der HPA-Achse bei Frauen nach der Menopause signifikant. Die Reaktionen auf ACTH, Cortisol und Noradrenalin waren abgeschwächt.
Die antidepressive Wirkung von Estradiol könnte auch von einem optimalen Corticoidspiegel abhängen, was auf eine Wechselwirkung zwischen den Estradiolwirkungen und dem Tonus der HPA-Achse schließen lässt.
2.5.2. Progesteron verstärkt HPA-Stressantwort¶
Das Gestagen Progesteron scheint die Stressreaktion der HPA-Achse bei Frauen nach der Menopause zu verstärken. Die Reaktionen auf ACTH und Cortisol waren abgeschwächt, die Reaktion auf Noradrenalin erhöht. Frauen mit PMS zeigten während der Lutealphase nicht die normale erhöhte Reaktion der HPA-Achse auf körperliche Anstrengung. Progesteron bewirkte bei gesunden Kontrollen eine erhöhte HPA-Achsen-Reaktion auf Laufbandbelastungstests. Estradiol bewirkte keine erhöhte HPA-Reaktion.
3. Hormonelle Mechanismen der Entstehung und Modulation von ADHS¶
3.1. Geschlechtshormone modulieren Entwicklung dopaminerger Schaltkreise¶
3.1.1. indirekte Modulation der Entwicklung dopaminerger Schaltkreise durch Geschlechtshormone¶
Geschlechtshormone können die Prozesse modulieren, die die Entwicklung dopaminerger Schaltkreise steuern und entsprechende Defizite bei der kognitiven Kontrolle und den Belohnungsprozessen bei ADHS beeinflussen.
Hohe Testosteronspiegel können dopaminerge neuronale Schaltkreise beeinflussen, indem sie die neuronale Entwicklung insgesamt verlangsamen und die dopaminergen Komponenten des Gehirns während der pränatalen Entwicklung für einen längeren Zeitraum anfällig machen. So könnte pränatal der Testosteronspiegel die Beziehung zwischen pränatalen Risikofaktoren (u.a. Gene, Schadstoffe, niedriges Geburtsgewicht, mütterliches Rauchen) und der sich entwickelnden ADHS-relevanten Neurobiologie moderieren.
Polyzystisches Ovarialsyndrom (PCOS) geht mit Hyperandrogenämie, also stark erhöhten Androgenspiegeln, einher. PCOS in der Schwangerschaft erhöht das ADHS-Risiko nur bei Jungen um 95 %.
Frauen mit PCOS hatten selbst ein erhöhtes ADHS-Risiko, wobei kein Zusammenhang zwischen ihrem Testosteronspiegel und ihren ADHS-Symptomen gefunden wurde.
Mehr hierzu unter Pränatale Stressoren als ADHS-Umwelt-Ursachen im Kapitel Entstehung,
Mütterliches Rauchen erhöht den fetalen Testosteronspiegel. Vorgeburtliches Rauchen bewirkt ein 1,9-faches bis 2,7-faches ADHS-Risiko für den Nachwuchs. Weitere Studien fanden ebenfalls signifikant erhöhte Risikowerte.
Mehr hierzu unter Pränatale Stressoren als ADHS-Umwelt-Ursachen im Kapitel Entstehung,
3.1.2. Direkte Modulation der Entwicklung dopaminerger Schaltkreise durch Geschlechtshormone¶
Maskulinisierende Wirkungen von Geschlechtshormonen wirken unmittelbar auf die pränatale Entwicklung der dopaminergen neuronalen Schaltkreise und der Dopaminfunktion in
-
Nucleus accumbens
-
Striatum
-
PFC
und bewirken dadurch Defizite bei der kognitiven Kontrolle und den Belohnungsprozessen.
Androgeneffekte wirken auf das Striatum, einschließlich Nucleus caudatus und die damit verbundenen Dopaminschaltkreise.
Tierstudien anhand einer pränatalen Hormonmanipulation in Bezug auf ADHS sind bislang nicht bekannt. Es gibt lediglich Versuche mit frühkindlicher Hormonmanipulation. Die Übertragbarkeit des ADHS-Tiermodells der SHR bezüglich Geschlechtsunterschieden bei ADHS ist fraglich, da die Tiere nicht die beim Menschen bekannten Geschlechtsunterschiede der Verhaltenssymptome zeigen. Weibliche SHR scheinen impulsiver als männliche, insbesondere während des Diöstrus.
SHR (spontan hypertensive Ratte) und Wistar (WKY)-Kontrolltiere wurden in der frühen Entwicklungsphase (10. postnataler Tag) Testosteron ausgesetzt. Am 45. postnatalen Tag zeigten SHR-Tiere:
- zusätzliche Defizite im räumlichen Gedächtnis im Wasserlabyrinth (nicht aber die WKY)
- Hinweise auf eine dysfunktionale HPA-Achse:
- hohe basale ACTH-Werte
- niedrige Corticosteronwerte
- Unterdrückung der Tyrosinhydroxylase-Immunreaktivität im frontalen Kortex
Die Autoren sehen darin eine Unterstützung der Hypothese, dass bei genetischer ADHS-Prädisposition eine frühe Androgen-Exposition zu einer verstärkten Ausprägung von ADHS-Symptomen beitragen kann.
Hohe Testosteronspiegel können das Risiko für ADHS-Symptome durch eine Reifungsverzögerung bei der Entwicklung der dopaminergen Innervation und des Metabolismus sowie durch eine verstärkte Lateralisierung der zugrunde liegenden dopaminergen neuronalen Schaltkreise und eine erhöhte Wiederaufnahme der Dopamin-Neurotransmission erhöhen.
Die pawlowsche Konditionierung eines visuellen, mit Nahrung gepaarten Reizes war:
- bei weiblichen SHR schwächer als bei männlichen SHR
- Wistar-Ratten in beiden Geschlechtern gleich
Eine Gonadektomie (Kastration) veränderte die pawlowsche Konditionierung:
- bei männlichen und weiblichen SHR: verstärkte Konditionierung
- bei weiblichen Wistar-Ratten: unverändert
- bei männlichen Wistar-Ratten: verringerte Konditionierung
SHR zeigten bei einer frühkindlichen Androgen-Gabe eine erhöhte motorische Aktivität. Wistar zeigten dagegen keine Veränderung.
Bei männlichen kastrierten SHR erhöhte Testosteron die Dichte der Tyrosinhydroxylase-immunreaktiven Fasern (ein Indikator für die Innervation durch Katecholamine) im frontalen Kortex stärker als bei WKY. Die Autoren sehen darin eine mögliche Erklärung dafür, dass hohe Testosteronspiegel im Erwachsenenalter weder bei SHR noch bei Männern ADHS-Symptome erhöhen.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die dopaminergen neuronalen Schaltkreise und die Kognition bei SHR hormonell beeinflusst werden.
Dies scheint auch ADHS-Symptome zu betreffen.
Mädchen und Jungen mit ADHS zeigen dagegen gleichermaßen eine schwache kognitive Kontrolle. Jungen mit ADHS-I zeigten geringere kognitive Beeinträchtigungen als Jungen mit ADHS-C und Mädchen mit ADHS-I oder ADHS-C.
Bislang untersuchten Studien allerdings stets das Geschlecht als Stellvertreter, ohne die unmittelbare Auswirkung von Hormonen selbst auf die kognitive Kontrolle und das Verstärkungslernen zu untersuchen.
3.2. ADHS und externalisierende Symptome korrelieren positiv mit pränataler Testosteronexposition¶
Insgesamt deuten die Forschungsergebnisse zu den Fingerlängenverhältnissen darauf hin, dass die pränatale Testosteronexposition positiv mit ADHS-Symptomen und möglicherweise auch mit damit zusammenhängenden Merkmalen wie externalisierenden Problemen und Sensation Seeking verbunden ist. Entgegen der Schlussfolgerung von Martel et al können wir der Studienlage jedoch keine Tendenz dazu entnehmen, dass dies vornehmlich bei Jungen der Fall wäre.
Etliche Studien untersuchten das Fingerlängenverhältnis (und damit indirekt die pränatale Testosteronexposition) in klinisch diagnostizierten Stichproben von Kindern mit ADHS. Diese Studien befassten sich somit indirekt mit der Hypothese, dass eine höhere pränatale Testosteron-Exposition mit verstärkten ADHS-Symptomen zusammenhängt. Die Ergebnisse sind - mindestens in Bezug auf die Geschlechtsbezogenheit - indifferent.
Eine erhöhte pränatale Testosteronexposition wird (indirekt) durch ein verringertes Verhältnis der Länge von Zeigefinger zu Ringfinger indiziert (Länge Zeigefinger geteilt durch Länge Ringfinger, 2D:4D). Ein niedriges 2D:4D-Verhältnis (d. h. eine hohe pränatale Testosteronbelastung) korrelierte in verschiedenen Studien mit:
- Hyperaktivität
- nur bei Mädchen (Vorschulalter)
- nur bei Mädchen (Vorschulalter), auch Impulsivität
- nur bei Frauen (Studentenalter) an der linken Hand (ebenso Impulsivität)
- nur bei Jungen (Einschulungsalter), ebenso Verhaltensprobleme
- geschlechtsunabhängig
-
Impulsivität
- Aggression
- sozialen Problemen
- nur bei Jungen (Einschulungsalter)
- Sensation seeking (zugleich hohe Testosteronwerte)
- Sensation seeking weist Geschlechtsunterschiede zugunsten von Jungen auf und wird mit externalisierenden Störungen in Verbindung gebracht.
-
ADHS
- bei erwachsenen Männern
- nur bei Jungen, am deutlichsten bei ADHS-I.
- bei Jungen und Mädchen (von 7 bis 15 Jahren) mit ADHS-I (kleinere CEOAEs und kleineres 2D:4D) als bei ADHS-C oder Kontrollen
- bei deutschen Männern, nicht aber bei deutschen Frauen oder chinesischen Männern oder Frauen.
- eine Studie fand keine Korrelation zwischen 2D:4D und ADHS-Symptomen oder ADHS-Subtypen bei Kindern mit ADHS.
- Unaufmerksamkeit
- geschlechtsunabhängig
- nur bei Frauen, an der linken Hand (Studentenalter).
- Korrelation niedriges rechtes 2D:4D / erhöhte ADHS-Unaufmerksamkeitssymptomatik könnte durch verringerte Gewissenhaftigkeit vermittelt werden.
-
Alexithymie
- Sucht
Ein hohes 2D:4D-Verhältnis (d. h. eine niedrige pränatale Testosteronbelastung) korrelierte mit
- prosozialem Verhalten
- nur bei Mädchen im Einschulungsalter
Jungen mit Autismus/Asperger-Syndrom und ADHS/oppositionellem Trotzverhalten wiesen niedrigere Fingerlängenverhältnisse auf als Jungen mit Angststörungen. Jungen mit Autismus-Spektrum-Störungen hatten niedrigere Fingerlängenverhältnisse als gesunde Kontrollen.
Eine Studie anhand der Geschlechtsverteilung der Geschwister fand Indizien für eine erhöhte intrauterine Testosteronexposition bei ADHS und ASS und Leseschwäche, die nur bei Leseschwäche signifikant war.
3.3. ADHS und verringertes pränatales / postnatales Östrogen¶
Verringerte pränatale und postnatale Östrogenspiegel scheinen ebenfalls mit ADHS-Symptomen zu korrelieren.
Frauen mit Turner-Syndrom oder einem einzelnen X-Chromosom haben Eierstöcke, die verringerte pränatale und postnatale Östrogenspiegel produzieren. Diese Frauen haben zugleich ein charakteristisches kognitives Profil mit gutteils ADHS-ähnlichen Defiziten in:
- visuell-motorischer Integration
- Mustererkennung
- Gesichtserkennung
- motorische Geschwindigkeit
- Koordination
- Aufmerksamkeit
- Planung (Test der Aufmerksamkeitsvariablen, Familiar Figures Test, Tower of Hanoi)
- bei rechtslateralen, räumlich anspruchsvollen Exekutivaufgaben
Eine Studie über den Menstruationszyklus regelmäßig zyklierender junger Frauen fand, dass verringerte Estradiol-Spiegel im Zusammenhang mit erhöhten Progesteron- oder Testosteron-Spiegeln mit höheren ADHS-Symptomen am nächsten Tag korrelierten, insbesondere bei Frauen mit hoher Impulsivität. Phasenanalysen deuteten auf einen Anstieg der ADHS-Symptome sowohl in der frühen Follikelphase als auch in der frühen Lutealphase bzw. nach dem Eisprung hin.
3.3.1. Östrogen verringert COMT-vermittelten Dopaminabbau im PFC¶
Östrogen verringert die Aktivität des Dopamin abbauenden Enzyms COMT auf genetische Weise.
Der Östrogenspiegel bei Frauen ist nach der Menstruation niedrig (Tag 1 - 9), steigt dann bis zum Eisprung stetig bis zu seinem Maximum an (Tag 10 – 15), fällt mit dem Eisprung auf 1/3 des Maximums (Tag 16 / 17), steigt dann bis Tag 24 auf 2/3 des Maximums und fällt dann bis zur Menstruationsblutung (Tag 27) ab.
Kurz vor dem Eisprung sowie (etwas schwächer) ca. 1 Woche nach dem Eisprung) ist der Dopaminabbau im PFC daher deutlich verringert (Dopamin ist erhöht, ggf. verringerter Bedarf an ADHS-Medikamenten). Vor der Menstruation ist der Dopaminabbau spürbar erhöht (Dopamin ist verringert, ggf. erhöhter Bedarf an ADHS-Medikamenten).
COMT ist bei Frauen deshalb im Schnitt um 30 % weniger aktiv als bei Männern.
Da COMT mindestens 60 % des Dopaminabbaus im PFC bewirkt (und max. 15 % des Dopaminabbaus im Striatum ), haben Frauen in der östrogenreichen Phase kurz vor dem Eisprung einen um knapp 20 % verringerten Dopaminabbau im PFC.
Daraus folgt, dass manche Frauen in Bezug auf PFC-vermittelte ADHS-Symptomen wie Unaufmerksamkeit während Zeiten mit hohem Östrogenspiegel (3 - 4 Tage vor dem Eisprung sowie ca. eine Woche nach dem Eisprung) eine geringere Dosierung von im PFC dopaminerg wirkenden Medikamenten (wie Stimulanzien oder Atomoxetin) benötigen, als in Zeiten mit niedrigem Östrogenspiegel. Dies ist im Einzelfall unter anderem von der COMT-Genvariante abhängig.
Dies könnte weiter eine erhöhte Sensibilität von Frauen im Vergleich zu Männern erklären, denn ein leicht erhöhter Dopaminspiegel erhöht die Wahrnehmungsintensität.
Da bei Borderline ebenfalls die COMT Met-158-Met-Variante häufig ist, die einen fünfmal so langsamen Dopaminabbau im PFC bewirkt, und Östrogen den COMT-Dopaminabbau weiter verlangsamt, könnte dieser Zusammenhang möglicherweise einen Hinweis zur Erklärung der Häufung von Borderline bei Frauen geben (75 % der Borderline-Betroffenen sind Frauen).
Der durch Östrogen via COMT verringerte Dopaminabbau im PFC bewirkt, dass (leichter) Stress geschlechtsspezifisch unterschiedliche Auswirkungen haben kann.
Bei männlichen Menschen und Tieren erhöht der bei leichtem Stress leicht erhöhte Dopaminspiegel im PFC die geistige Leistungsfähigkeit gegenüber dem Ruhezustand. Bei weiblichen Menschen und Tieren führt die leichte Dopaminerhöhung im PFC durch leichten Stress (im Gesamtschnitt) dagegen zu einer verschlechterten geistigen Leistungsfähigkeit. Dieser Unterschied scheint durch Östrogen verursacht zu werden. Die Verschlechterung der geistigen Leistungsfähigkeit durch leichten Stress tritt nur in der östrogenreichen Phase kurz vor dem Eisprung auf. In der östrogenarmen Phase um die Menstruation hebt leichter Stress die geistige Leistungsfähigkeit bei Frauen ebenso an wie bei Männern.
3.3.2. Östrogen erhöht Oxytocinspiegel¶
Da Östrogen den Oxytocinspiegel erhöht, dürften bei Frauen alle Wirkungen von Oxytocin verstärkt sein.
Oxytocin
- verringert ACTH
- verringert wahrscheinlich CRH
- verringert wahrscheinlich die durch die HPA-Achse vermittelten Stresssymptome
- erhöht die “tend and befriend” Stressreaktion
- Die Kombination von Oxytocin und bestimmten Bindungsmustern könnte mit der weiblichen “Tend and be Friend”-Stressreaktion in Verbindung stehen
Mehr hierzu unter ⇒ Oxytocin
3.3.3. Östrogen verringert Lern- und Gedächtnisprobleme¶
Ein hoher Östrogenspiegel mildert die Defizite bei Lernen und Gedächtnis.
Dies könnte möglicherweise erklären, warum bei Mädchen häufig in der Schulzeit noch keine ADHS-Symptome feststellbar sind und diese bei Frauen erst im Alter ab 35 Jahren deutlicher hervortreten (siehe “late onset ADHS” bei Frauen).
4. Geschlechtshormone bei ADHS¶
Verringerte Östradiolspiegel in Verbindung mit erhöhten Progesteron- oder Testosteronspiegeln im Verlauf des Menstruationszyklus korrelierten mit höheren ADHS-Symptomen am nächsten Tag, insbesondere bei Frauen mit hoher Impulsivität. Die ADHS-Symptome stiegen sowohl in der frühen Follikelphase als auch in der frühen Lutealphase bzw. nach dem Eisprung an.
Steroid-Sulfatase (STS, Arylsulfatase C) katalysiert im endoplasmatischen Retikulum die Umwandlung von sulfatierten Steroidvorläufern in die jeweiligen freien Steroide. Dies betrifft unter anderem
-
DHEA-Sulfat zu DHEA
- Estron-Sulfat zu Estron
- Pregnenolon-Sulfat zu Pregnenolon
- Cholesterin-Sulfat zu Cholesterin
STS bewirkt darüber hinaus die Sulfatierung von Dopaminsulfat zu Dopamin im Blut. Mehr hierzu unter Sulfatierung durch Sulfotransferasen im Beitrag Dopaminabbau.
Sulfatierte und nicht sulfatierte Steroide können GABA-A- und NMDA-Rezeptoren im Gehirn beeinflussen. Sowohl DHEAS als auch seine nichtsulfatierte Form DHEA hemmen den GABA-A-Rezeptor und aktivieren den NMDA-Rezeptor.
Mehr zu DHEA unter DHEA im Kapitel Neurologische Aspekte / Hormone bei ADHS.
- Ein Steroid-Sulfatase-Mangel führt mithin zu einem Mangel dieser Steroidhormone. Mäuse mit einem Mangel des STS-Enzyms zeigen deutliche ADHS-Symptome Dies scheint zugleich mit einem erhöhten Serotoninspiegel im Hippocampus und erhöhter Motivation einherzugehen.
- Der STS-Gendefekt X-chromosomale Ichthyose (Steroid-Sulfatase-Mangel) korreliert mit erhöhten Risiko für ADHS, ASS und sozialen Kommunikationsstörungen.
- DHEAS und STS beeinflussen Aufmerksamkeit. DHEAS-Gabe verbesserte die Leistung im Five-choice serial-reaction time task unter aufmerksamkeitsintensiven Bedingungen, während eine STS-Hemmung die Genauigkeit beeinträchtigte. Einflüsse auf die grundlegende motorische Aktivität fanden sich nicht.
STS (weitere Namen: Arylsulfatase C, Steroid-Sulfatase, Sterol-Sulfatase, Dehydroepiandrosteron-Sulfat-Sulfatase, Steroid-3-Sulfatase, Steroid-Sulfat-Sulfohydrolase, Dehydroepiandrosteron-Sulfatase, Pregnenolon-Sulfatase, Phenol-Steroid-Sulfatase, 3-beta-Hydroxysteroid-Sulfat-Sulfatase oder Steryl-Sulfat-Sulfohydrolase) steht mit Unaufmerksamkeit, Kognitionsproblemen und weiteren ADHS-Symptomen in Verbindung.
Eine Studie fand bei Jungen wie Mädchen mit ADHS:
-
DHEA-S verringert
- niedriges DHEA-S korrelierte mit höherer Impulsivität
- SHBG unverändert
- niedriges SHGB korrelierte mit erhöhten ADHS-Symptomen
- freies Testosteron unverändert
- keine Korrelation von freiem Testosteron zu ADHS-Symptomen
Bei SHR (Spontaneously hypertensive rats) fand sich im Serumspiegel-Vergleich zu WKR (Wistar-Kyoto-Ratten):
- Testosteron und freies Östriol bei 10 Wochen alten SHR und WKR im Vergleich zu 5 Wochen alten SHR und WKR erhöht
- Progesteron, Corticosteron und Cortisol erhöht bei 10 Wochen alten SHR im Vergleich zu 5 Wochen alten SHR und 5 oder 10 Wochen alten WKR
Siehe im Übrigen unter
5. Unterschiedliche ADHS-Symptome bei Jungen und Mädchen¶
Jungen mit ADHS haben höhere Werte bei:
- Hyperaktivität
- Unaufmerksamkeit
-
Impulsivität
- externalisierenden Problemen
Mädchen mit ADHS zeigten höhere Werte bei:
- intellektuellen Beeinträchtigungen
- internalisierenden Problemen
- z.B. weitaus häufiger Angstsymptomatiken
6. Östrogene als Resilienzfaktor gegen Stress¶
Östrogene könnten die kognitive Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress bei Frauen erhöhen.
Aus der Entfernung betrachtet wäre eine erhöhte Leidensfähigkeit (anders formuliert: einer verringerte Leidwahrnehmung) eine mögliche Erklärung, warum Frauen mit ADHS im Schnitt erst so viel später diagnostiziert werden als Männer.
7. Zeitliche Symptomentwicklung nach Geschlecht¶
Während Mädchen typischerweise einen großen Schub verstärkter Symptome in früher Jugend entwickeln, haben Jungen eine erhöhte Symptomausprägung bereits von der Kindheit an. Für beide Geschlechter ist die frühe Jugend mit der Gefahr einer erheblichen Symptomzunahme verbunden.
8. Höhere Symptomintensität bei diagnostizierten Mädchen und Frauen?¶
Mädchen mit Autismus, die zugleich ADHS hatten, zeigten in einer großen Studie deutlich stärkere Symptome von ADHS, Lernstörungen und ODD als Jungen mit ASS und ADHS.
Dies erinnert an die erhöhte Symptomintensität von Frauen, die als Erwachsene mit ADHS diagnostiziert werden.
9. Höhere Scheidungsrate von Frauen mit ADHS¶
Frauen (in Japan) mit ADHS scheinen noch höhere Scheidungsraten zu haben als Männer mit ADHS.
10. Mehr Komorbiditäten bei Frauen mit ADHS¶
Frauen (in Japan) mit ADHS scheinen eine höhere Komorbiditätsrate zu haben als Männer mit ADHS.
11. Keine geschlechtsspezifischen Unterschiede des Sozialverhaltens von ADHS und ASS¶
Eine Metastudie konnte keine geschlechtsspezifischen Unterschiede im Sozialverhalten und Kommunikationsverhalten bei ADHS und ASS feststellen.
12. COMT-Gen-Variante beeinflusst geschlechtsspezifisch Stressempfinden¶
Polymorphismen des COMT-Gens haben vornehmlich Einfluss auf den Dopaminspiegel des PFC und kaum auf den Dopaminspiegel in anderen Gehirnregionen. Ebenso wird der Noradrenalinspiegel im PFC nicht durch COMT beeinflusst.
Zu unterscheiden sind:
- COMT-Val-158-Met (gemischt Val/Met)
- COMT-Val-158-Val (homozygot Val/Val)
- COMT-Met-158-Met (homozygot Met/Met)
Der COMT-Met-158-Met-Polymorphismus bewirkt einen 4-mal langsameren Dopaminabbau als die COMT-Val-158-Val-Variante.
COMT-Met-158-Met-Träger sind gegenüber COMT-Val-158-Val-Trägern
- geistig leistungsfähiger (effizienter, nicht intelligenter)
- bessere exekutive Funktionen des PFC
- stressempfindlicher (hoher Dopaminspiegel (nur) im PFC bereits im Ruhezustand, erheblicher Dopaminanstieg (nur) im PFC schon bei leichtem Stress)
- infolgedessen wahrscheinlich schlechtere Wirkung von Amphetaminmedikamenten (Verschlechterung des Arbeitsgedächtnisses durch AMP bei hoher Belastung). Wir vermuten, dass das Ergebnis auf MPH übertragbar sein dürfte.
- ängstlicher und
- schmerzempfindlicher.
COMT wird durch Östrogen beeinflusst. Bei Frauen führt der COMT-Val-158-Val-Polymorphismus in Zeiten mit hohem Östrogenspiegel zu besseren exekutiven Funktionen und besserer geistiger Leistungsfähigkeit als beim COMT-Met-158-Met-Polymorphismus.
13. Thyroidhormone bei Frauen als maskierender Faktor von ADHS?¶
Der aktualisierte europäische Konsens zur Behandlung und Diagnose von ADHS bei Erwachsenen von 2018 weist auf die besondere Rolle der Schilddrüsenhormone bei der Ätiologie von ADHS bei Frauen und Mädchen hin.
Gesunde 4-jährige Kinder mit Schilddrüsen-stimulierendem Hormonspiegel im oberen Normbereich weisen ein höheres ADHS-Risiko auf als Kinder mit niedrigem freiem Thyroxinspiegel. Schilddrüsenerkrankungen sind bei Frauen häufiger als bei Männern. Da bei ADHS weiter eine mögliche Assoziation mit einer Schilddrüsenhormon-Rezeptor-Unempfindlichkeit besteht, sollte eine Rolle der Schilddrüsenhormone bei der Entstehung und der Erscheinung von ADHS bei Frauen und Mädchen genauer untersucht werden.
14. Kreatin, Cholin, Glutamat/Glutamin in ACC und Cerebellum¶
Eine Studie fand im ACC signifikante geschlechts- und altersspezifische Unterschiede bei Kreatin, Cholin und Glutamat/Glutamin, sowie im Cerebellum signifikante altersspezifische Unterschiede bei Cholin und Glutamat/Glutamin.
15. Unterschiede der Medikamentenwirkung nach Geschlecht¶
ADHS-Medikamente wirken bei Frauen scheinbar etwas anders als bei Männern.
MPH zeigte
- bei Mädchen:
- geringere Symptomschwere und stärkere Symptomverbesserung auf längere Sicht
- eine stärkere Wirkung von MPH zu Tagesbeginn, bei früherem Wirkungsrückgang
- eine einmalige tägliche Einnahme von MPH scheint für Mädchen nicht optimal
- bei Frauen:
- geringere Verbesserung von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität
Nichtstimulanzien zeigten
- bei Mädchen und Frauen
- stärkere Verbesserung der Symptome, Hyperaktivität, Impulsivität und emotionale Dysregulation/emotionale Faktoren
- ATX könnte für Mädchen und Frauen mit ADHS hilfreicher sein als für Jungen und Männer