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Depression und Dysphorie bei ADHS

Depression und Dysphorie bei ADHS

Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero

Die Depression und das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind zwei verschiedene psychische Störungen, die jedoch Ähnlichkeiten aufweisen können. Eine Depression ist durch eine stärkere Beeinträchtigung der Stimmung gekennzeichnet, die durchgehend und unabhängig von Aktivität oder Inaktivität auftritt - insbesondere auch bei Dingen, die der Betroffene eigentlich mag. Im Gegensatz dazu ist Dysphorie bei Inaktivität ein typisches ADHS-Symptom, bei dem sich eine Beeinträchtigung der Stimmung nur in inaktiven Phasen zeigt.
Eine “echte” Depression ist eine eigenständige Störung, die selbstständig (ohne ADHS) oder komorbid neben ADHS (meist als Folge einer ADHS-bedingten dauerhaften Überlastung) besteht. Etwa jeder dritten behandlungsresistenten Depressionen liegt ein unerkanntes / unbehandeltes ADHS zugrunde.
Als Dysphorie bzw. Dysthymie wird eine lang anhaltende, chronische Verstimmung oder Niedergeschlagenheit bezeichnet.
Abzugrenzen von einer Dysphorie/Dysthymie ist die mittlere oder schwere Depression, die ein erheblich schwerwiegenderes Maß an depressiver Symptomatik ausweist, jedoch im Gegensatz zu Dysthymie / Dysphorie wesentlich seltener so lange anhält wie jene, sondern eher in wochen- bis monatelangen Phasen auftritt.

Neurophysiologisch gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Depressionen und ADHS, insbesondere im Dopaminsystem, das bei beiden Störungen gestört sein kann. Bei Anhedonie spielen dopaminerge Schaltungen, die mit Belohnung und Motivation verbunden sind, eine wichtige Rolle.

Die Symptome einer Depression umfassen depressive Stimmung, Interessenverlust, Antriebsminderung, verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, Selbstwertprobleme, Schuldgefühle, negative Zukunftsperspektiven, Suizidgedanken, Schlafstörungen und verminderter Appetit. Weiter können körperliche Symptome wie Magenprobleme, Kopfschmerzen und Atemprobleme auftreten.
Die Schweregrade und Formen der Depression umfassen unter anderem leichte, mittlere und schwere Depressionen, leichte chronische Depressionen (Dysphorie/Dysthymie) und anlassbezogene Depressionen wie PMS/PMDS, Schwangerschaftsdepressionen und saisonale Depressionen im Winterhalbjahr.

Wie bei ADHS gibt es auch bei der Depression verschiedene Subtypen, wie die melancholische und die atypische Depression. Die melancholische Depression ist durch eine überhöhte endokrine Stressantwort gekennzeichnet, während bei der atypischen Depression eine abgeflachte endokrine Stressantwort vorliegt. Etwa die Hälfte der schwer depressiven Patienten hat einen erhöhten Cortisolspiegel. Burnout-Patienten haben einen niedrigeren Cortisolspiegel.
Bei der melancholischen Depression sind die CRH- und Vasopressin-Neuronen im Hypothalamus von depressiven Patienten erhöht. Eine mögliche Behandlungsmethode sind MR-Antagonisten. Bei der atypischen Depression besteht dagegen eine Hypocortisolismus-Korrelation.

Chronischer Nikotin- und Alkoholkonsum erhöhen das Risiko für Depressionen, wobei Alkoholkonsum auch den Serotoninspiegel im Gehirn beeinflusst.

Insgesamt gibt es noch viele offene Fragen und weiteren Forschungsbedarf bezüglich der neurophysiologischen Korrelate von Anhedonie und Depression sowie deren Diagnostik und Differentialdiagnose.

1. Depression oder ADHS – Differentialdiagnostik und Behandlung

In Abgrenzung zur Dysphorie ist eine Depression mit einer wesentlich stärkeren Stimmungsbeeinträchtigung verbunden, die in Abgrenzung zum ADHS-Symptom der Dysphorie (nur) bei Inaktivität nicht nur in Phasen der Inaktivität, sondern durchgängig auftritt.
Vereinfacht gesagt ist Dysphorie bei Inaktivität ein lang anhaltendes (schon jahrelang bestehendes oder immer bestehendes) Grau, das jedoch bei spannenden Aktivitäten regelmäßig vergessen wird und vor allem an ruhigen Abenden, Wochenenden oder in den ersten (aktivitätsfreien) Urlaubstagen deutlich hervortritt. Depression ist dagegen in ihrer mittelschweren bis schweren Ausprägung ein tiefes Schwarz, das phasenweise über Wochen oder Monate auftritt und das auch bei oder durch Aktivität kaum verdrängt werden kann.

Eine echte Depression ist kein originäres Symptom einer ADHS, sondern ein eigenständiges Störungsbild, kann jedoch die Folge einer dauerhaften Überlastung aufgrund von ADHS sein und in diesem Fall durch eine ADHS-Behandlung wirksam bekämpft werden.
Bei ADHS sind die basalen Cortisolwerte verringert. Bei stationär behandelten Depression sind die basalen Cortisolwerte dagegen erhöht (wie auch, etwas weniger stark, bei stationär behandelten Angststörungen und Zwangsstörungen).1
Emotionale Dysregulation, Reizbarkeit, Wut und Unruhe bei ADHS korrelieren mit ADHS-spezifischen Genen und nicht mit Genen, die spezifisch mit affektiven Störungen (Depression) verbunden sind.2

Auch allein Depressions-Betroffene weisen ein klinisch relevantes Ausmaß an ADHS-Symptomen auf, wie:3

  • exekutiver Dysfunktion
  • verminderte kognitive Aufmerksamkeitsleistungen.

Eine Diskriminanzfunktionsanalyse anhand selbstberichteter Symptome von MDD, ADHS und exekutiver Dysfunktion erkannte alle Gesunden korrekt und MDD- und ADHS-Betroffene relativ gut (85 % bzw. 82 %). Komorbide MDD + ADHS war mit den üblichen Fragebögen zur Selbsteinschätzung der Symptome von MDD und ADHS nicht von einer einzelnen MDD oder ADHS zu unterscheiden (0 % korrekt), was sich durch die Einbeziehung von Fragen zur exekutiven Funktionsstörung deutlich verbesserte (42 % korrekte Vorhersagen).3

Depression und ADHS unterscheiden sich anhand von:3

  • kognitiver Flexibilität
  • Initiierung
  • Inhibition
  • Metakognition

Während ADHS insbesondere von Problemen mit der kognitiven Kontrolle gekennzeichnet ist, ist Depression von einem niedrigen Belohnungsstreben gekennzeichnet.4

1.1. Dysphorie

Nahezu jeder ADHS-Betroffene leidet an einer dysphorischen Symptomatik. Umgekehrt ist Dysphorie auch ohne ADHS anzutreffen. Insofern ist eine Dysphorie kein Beweis für ADHS, aber ein stetiger Begleiter einer bestehenden ADHS.

Kennzeichen von Dysphorie

  • wenig Energie und Antrieb
  • geringes Selbstwertgefühl
  • geringe Kapazität für Freude im täglichen Leben (Anhedonie)
  • Dauer von 2 Jahren und mehr

1.2. Dysphorie / Dysthymie bei Inaktivität als ADHS-Symptom

Als ADHS-Symptom nennen die Wender-Utah Kriterien das Symptom der Dysphorie bei Inaktivität. DSM und ICD benennen dieses Symptom dagegen nicht. Unserer Auffassung nach ist Dysphorie (nur) bei Inaktivität ein originäres phänotypisches ADHS-Symptom und von dem Störungsbild der Depression oder Dysphorie abzugrenzen.

1.3. Dysphorie als Stresssymptom

Der Stressnutzen von Dysphorie bei Inaktivität ist, den Betroffenen in Anbetracht eines vorhandenen lebensbedrohlichen Stressors aktiv zu halten. Inaktivität verringert die Wahrscheinlichkeit der Bewältigung einer lebensbedrohlichen Gefahr. Die emotionale Stimmung ist ein sehr starker Aktivitätslenker. Lebewesen versuchen eine positive, angenehme Stimmung zu erreichen und zu erhalten und eine negative Stimmung zu vermeiden.
Dies erklärt, warum die Stimmung bei lang anhaltendem starkem Stress oder ADHS nur in Momenten der Passivität absinkt. Es wäre für das Überleben des Individuums nicht förderlich, wenn seine Stimmung auch in den Phasen der aktiven Bekämpfung des Stressors verringert wäre.
Entspannung, Genuss, Erholung sind in Zeiten einer relevanten Bedrohung nicht überlebensförderlich. Dies könnte den Nutzen der mit Dysphorie und Depression verbundenen Anhedonie erklären.

Insofern ist Dysphorie ein funktionales Stresssymptom, während die Symptome einer ausgewachsenen Depression eher dysfunktional sind, da sie nicht mehr dazu beitragen, den Kampf gegen den Stressor zu unterstützen.

1.4. Behandlungsresistente Depression verbirgt häufig unerkanntes ADHS

Bei 160 Erwachsenen mit einer behandlungsresistenten Depression wurde in einer Studie bei 34 % ein zuvor nicht diagnostiziertes ADHS festgestellt.5 Dies deckt sich mit Angaben aus anderen Quellen.6

Scheinbar besteht bei therapieresistenten Depressionen häufig eine unerkannte ADHS-Störung. Die mit unbehandeltem ADHS einhergehende Überlastung kann eine (Überlastungs-)Depression verursachen. Unabhängig davon fand eine Studie bei 58 % der stationären Psychiatriepatienten ein (in der Regel bis dahin nicht diagnostiziertes) ADHS.

Es gibt Hinweise, dass ADHS eine kausale Ursachenwirkung hat für ein erhöhtes Risiko von:7

  • schwerer klinischer Depression
  • posttraumatischer Belastungsstörung
  • Suizidversuchen
  • Anorexia nervosa

Es fanden sich keine Hinweise auf einen kausalen Zusammenhang zwischen ADHS und:7

  • bipolarer Störung
  • Angst
  • Schizophrenie

1.5. Behandlungsreihenfolge: Schwere Depression vor ADHS vor Dysphorie

Eine echte mittlere oder schwere Depression (siehe hierzu unten unter melancholischer / atypischer Depression) sollte priorisiert behandelt werden.
Bei einer leichten Depression im Sinne einer Dysphorie / Dysthymie sollte dagegen ein komorbid bestehendes ADHS priorisiert behandelt werden, da durch die Beseitigung der ADHS-typischen Überlastung und der ADHS-typischen Symptome die ADHS-eigene Dysphorie sich oft mit vermindert.
Bei der Behandlung von dysphorischen Symptomen einer ADHS sind nach den uns zugänglichen Berichten Amphetaminmedikamente (Elvanse) gegenüber Methylphenidat meist überlegen.
Serotoninwiederaufnahmehemmer sind bei ADHS-I (ohne Hyperaktivität) grundsätzlich kontraindiziert, bei ADHS-HI (mit Hyperaktivität) können sie dagegen angezeigt sein.
Anmerkungen zu Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) bei ADHS im Beitrag ⇒ Medikamente bei ADHS – Übersicht

1.6. Depression bei Kindern mit ADHS

Eine spätere Depression wurde bei Kindern mit ADHS durch die Intensität der Anhedonie in der Kindheit vorhergesagt.8 Depression scheint zudem erheblich geschlechtsspezifisch zu sein.

2. Neurophysiologische Gemeinsamkeiten von Depression und ADHS

2.1. Dopamin bei Depression

Als Ursache von Depressionen wird vorrangig eine Störung des Noradrenalin- und Serotoninstoffwechsels im Gehirn angenommen.
Immer mehr Studien deuten darauf hin, dass ebenso Störungen des Dopaminsystems (wie sie auch bei ADHS bestehen) Depressionssymptome verursachen können.

Mehr hierzu unter Depression als dopaminerge Störung

2.2. Niedriger hedonischer Tonus bei ADHS und Depression

Bei Anhedonie spielen die mit Belohnung und Motivation verbundenen dopaminergen Schaltungen eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung des hedonischen Tonus, insbesondere Bottom-up- und Top-down-Projektionen in das dopaminerge System von9

  • PFC
  • lateraler Habenula
  • ventralem Tegmentum.

Bei Depression, ADHS und Suchverhalten ist die Fähigkeit, Freude zu empfinden, verringert (“Low hedonic tone”).910

3. Symptome von Depression

3.1. Diagnostische Manuale bei Depression

Diagnostische Manuale (DSM, ICD) beinhalten nicht die Gesamtheit aller Symptome, die bei einer Störung auftreten können, sondern lediglich diejenigen davon, die eine Störung besonders gut von anderen abgrenzen. Diagnostische Manuale sind daher lediglich zur Diagnostik, nicht aber zur Behandlung einer Störung sinnvoll.

3.1.1. Depression nach ICD 10

Die Darstellung der Symptome zur Diagnostik der Depression nach ICD-10 stammt aus den S-3-Leitlinien 2015.11

3.1.1.1. Hauptsymptome
  • depressive, gedrückte Stimmung
  • Interessenverlust und Freudlosigkeit
  • Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit (oft selbst nach kleinen Anstrengungen) und Aktivitätseinschränkung

Mindestens zwei davon müssen mindestens zwei Wochen anhalten.

3.1.1.2. Zusatzsymptome
  • verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
  • vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
  • negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
  • Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen
  • Schlafstörungen
  • verminderter Appetit

Leichte Episode: 2 Zusatzsymptome.
Mittlere Episode: 3 bis 4 Zusatzsymptome.
Schwere Episode: 5 und mehr Zusatzsymptome.

3.1.2. Depressives somatisches Syndrom nach ICD 10

  • Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten
  • mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren
  • frühmorgendliches Erwachen, zwei oder mehr Stunden vor der (gewohnten) Zeit
  • Morgentief
  • der objektive Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit
  • deutlicher Appetitverlust
  • Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 % des Körpergewichts im vergangenen Monat
  • deutlicher Libidoverlust

Anmerkung:
Bei der eher selteneren atypischen Depression ist statt frühmorgendlichem Erwachen eine andauernde Tagesmüdigkeit üblich sowie anstatt einem Morgentief ein Abendtief. Dies wird von ICD 10 jedoch nicht berücksichtigt.

3.1.3. Major Depression nach DSM 5

Innerhalb von 2 Wochen müssen 5 oder mehr der nachfolgenden Symptome fast jeden Tag auftreten.
Eines davon muss depressive Stimmung oder Verlust von Interesse oder Freude sein.12

  • Depressive Stimmung fast den ganzen Tag
  • Deutlich vermindertes Interesse oder Freude an allen oder fast allen Aktivitäten für die meiste Zeit des Tages
  • Signifikante (> 5 %) Gewichtszu- oder abnahme oder verminderter oder gesteigerter Appetit
  • Insomnia (Ein- oder Durchschlafstörung) oder Hypersomnie (Schlafsucht)
  • Von anderen beobachtete psychomotorische Unruhe oder Retardierung (nicht selbst berichtet)
  • Müdigkeit oder Antriebslosigkeit
  • Gefühle der Wertlosigkeit oder übermäßige oder unangemessene Schuldgefühle
  • Verminderte Fähigkeit zu denken oder sich zu konzentrieren oder Unentschlossenheit
  • Wiederkehrende Gedanken an Tod oder Selbstmord, Selbstmordversuch oder einen bestimmten Plan, um Selbstmord zu begehen

3.1.4. Persistierende depressive Störung (Dysphorie, Dysthymie) nach DSM 5

Über 2 Jahre oder länger besteht für mehrere Tage über die meiste Zeit des Tages eine

  • depressive Stimmung

sowie zusätzlich mindestens 2 der folgenden Symptome:

  • Geringer Appetit oder übermäßiges Essen
  • Insomnie (Ein- oder Durchschlafstörung) oder Hypersomnie (Schlafsucht)
  • Wenig Energie oder Müdigkeit
  • Geringes Selbstvertrauen
  • Konzentrationsstörungen oder Schwierigkeiten, Entscheidungen zu fällen
  • Gefühle der Hoffnungslosigkeit

3.1.5. Prämenstruelle Dysphorie (PMS, PMDS, BMDD)

3.1.5.1. Darstellung nach Coryell

Mindestens 5 der folgenden Symptome12

  • treten in der Woche vor der Menstruation auf und
  • lassen innerhalb von wenigen Tagen nach Einsetzen der Menstruation nach und
  • verschwinden in der Woche nach der Menstruation ganz oder fast

Mindestens 1 der 5 Symptome aus der Teilgruppe 1:

  • Deutliche Stimmungsschwankungen (z.B. plötzlich traurig oder weinerlich)
  • Ausgeprägte Reizbarkeit oder Wut oder vermehrte zwischenmenschliche Konflikte
  • Ausgeprägte depressive Stimmung, Hoffnungslosigkeit oder fehlende Selbstachtung
  • Deutliche Angst, Spannung oder ein nervöses Gefühl

Mindestens 2 der 5 Symptome aus der Teilgruppe 2:

  • Vermindertes Interesse an gewohnten Aktivitäten
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Wenig Energie oder Müdigkeit
  • Deutliche Veränderung im Appetit, übermäßiges Essen oder spezieller Heißhunger
  • Insomnie (Ein- oder Durchschlafstörung) oder Hypersomnie (Schlafsucht)
  • Gefühl, überfordert zu sein oder die Kontrolle zu verlieren
  • Körperliche Symptome wie Brustspannen oder Schwellungen, Gelenk- oder Muskelschmerzen, ein Gefühl des Aufgedunsenseins und Gewichtszunahme

Die Wahrscheinlichkeit von PMDS steigt vor der Menopause an.

3.1.5.2. Darstellung nach Pinkerton

Mindestens 5 der folgenden Symptome13

  • Beginn 7 bis 10 Tage vor der Menstruation
  • Ende mit Eintritt der Menstruation, oder nachlassen spätestens in der folgenden Woche

Mindestens 1 der 5 Symptome aus der Teilgruppe 1:

  • Deutliche Stimmungsschwankungen (z.B. plötzliche Traurigkeit)
  • Ausgeprägte Reizbarkeit oder Wut oder vermehrte zwischenmenschliche Konflikte
  • Ausgeprägte depressive Verfassung, Gefühl der Hoffnungslosigkeit oder Gedanken über fehlende Selbstachtung
  • Deutliche Angst, Spannung oder ein nervöses Gefühl

Mindestens 2 der 5 Symptome aus der Teilgruppe 2:

  • Vermindertes Interesses an Alltagsaktivitäten, was möglicherweise zum sozialen Rückzug führt
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Wenig Energie oder Müdigkeit
  • Deutliche Veränderungen im Appetit, übermäßiges Essen oder spezieller Heißhunger
  • Insomnia (Durchschlafstörung) oder Hypersomnie (Schlafsucht)
  • Gefühl der Überforderung oder des Kontrollverlusts
  • PMS begleitende körperliche Beschwerden (z.B. Empfindlichkeit der Brust, Ödem)

3.2. Gesamtliste der bei Depression möglichen Symptome

Die nachfolgende Auflistung umfasst die meisten bei Depression möglichen Symptome. Die Darstellung basiert maßgeblich auf Niklewski, Riecke-Niklewski.14 Nicht jeder Depressive hat alle genannten Symptome (wie auch bei ADHS nicht jeder Betroffene alle der möglichen Symptome hat).

3.2.1. Depressive Wahrnehmung

  • länger andauernd
    • Wochen, Monate, Jahre
    • nicht nur kurzfristig negative Affekte wie
      • Zorn
      • Ärger
  • Schwarz sehen
  • gedrückte oder depressive Stimmung mit Tagesrhythmus
    • Stimmungstief morgens nach dem Aufstehen
      • melancholische / psychotische Depression
      • Regelfall
      • häufig überhöhte Cortisolstressantwort
    • Stimmungstief in erster Nachthälfte
      • atypische Depression
      • seltener
      • häufig abgeflachte Cortisolstressantwort
  • Unterschiede zwischen Gefühlen verringert
  • häufiges anlassloses Weinen
  • Gefühl der Sinnlosigkeit

3.2.2. Müdigkeit und Schlafprobleme

  • atypische Depression:
    • ständige Tagesmüdigkeit
  • melancholische / psychotische Depression:
    • kurzer Schlaf
    • Erwachen in 2. Nachthälfte (mit Einsetzen des Anstiegs des basalen Cortisolspiegels)

Schlafprobleme sind bei ADHS ebenfalls erhöht.

Zum Risiko der Erhöhung von Schlafproblemen durch verschiedene Antidepressiva siehe Schlafstörende Wirkung von Medikamenten im Beitrag Schlafprobleme bei ADHS im Abschnitt Nichtmedikamentöse Behandlung und Therapie von ADHS im Kapitel Behandlung und Therapie.

3.2.3. Selbstwertprobleme

  • Wertlosigkeitsgefühl
  • Unsicherheitsgefühl
    • Sicher sein, dass einem nichts mehr gelingt
  • Abwertung eigener Leistungen

Selbstwertprobleme sind bei ADHS ebenfalls sehr häufig.

3.2.4. Angst

  • Angst alles falsch zu machen
  • Versagensängste
    • auch bei Dingen, die
      • früher problemlos bewältigt wurden
      • objektiv weiter bewältigt werden
  • Trennungs- und Verlustängste
  • Angst vor Einsamkeit
  • Angst zu verarmen
  • Somatische Angstzustände
    • Panikattacken
    • keine Luft mehr bekommen
    • Enge im Brustkorb
    • Enge im Hals
    • Schluckbeschwerden
    • Schmerzen in Herzgegend

Angst ist bei ADHS ebenfalls sehr häufig.

3.2.5. Schuldgefühle

  • Angst vor den Folgen eigener Fehler
  • Glaube, dass Strafe erforderlich wäre

3.2.6. Anhedonie

  • Freudlosigkeit
  • Unfähigkeit, Freude zu empfinden
  • lang andauernd
    • nicht nur einzelne Tage (das hat jeder mal)
  • führt in negatives Lebensgefühl und Lebensüberdruss

Anhedonie tritt bei ADHS ebenfalls erhöht auf.

3.2.7. Nichts mehr fühlen können

  • auch negative Gefühle nicht mehr wahrnehmen können
  • Gefühl der Gefühllosigkeit
  • Emotionen sind flach
  • emotionale Erstarrung
    • freudlos
    • lustlos
    • hoffnungslos
    • mutlos
    • energielos
    • antriebslos
    • teilnahmslos
  • keine Hoffnung, wieder positiv und stark fühlen zu können
  • Erinnerung an frühere intensive Freude und Trauer ist abstrakt und intellektuell
  • Erinnerungen an frühere Erfahrungen bleibt ohne Nachempfinden der damaligen Emotionen

Emotionsarmut tritt bei ADHS ebenfalls erhöht auf. Mehr hierzu unter Selbstwahrnehmungsstörungen als ADHS-Symptom im Beitrag Gesamtliste der ADHS-Symptome nach Erscheinungsformen im Kapitel Symptome.

3.2.8. Antrieb verringert

  • Lebensenergie fehlt
  • jede Bewegung ist zu viel
  • Kraft für einfache Alltagstätigkeiten fehlt
  • als müsste man durch Wasser laufen
  • Hemmung betrifft
    • körperliche Aktivitäten
    • geistige Aktivitäten

Antriebsprobleme sind bei ADHS ebenfalls sehr häufig.

3.2.9. Innere Unruhe / Agitiertheit

  • quälende Unruhe erschwert gerichtete Aktivität
  • getrieben sein
  • innere Anspannung
    • schreckhaft
    • übererregt
    • spannungsabbauendes Verhalten
      z.B.
      • zielloses hin- und herlaufen
  • intensive Mimik und Gestik
  • leicht verwechselbar mit übertriebenem Jammern oder absichtlichem Mitleid heischen

Innere Unruhe tritt bei ADHS in verwechselbarer Form sehr häufig auf.

3.2.10. Zeitwahrnehmungsstörung / Jetzt ist immer

  • Zeitabschätzung ist erschwert
    • Zeit vergeht nicht/steht still
    • Tritt bei ADHS ebenfalls sehr häufig auf, allerdings meist in anderer Form (Zeitwahrnehmung hat anderen Fokus)
  • momentane Wahrnehmungen werden als endgültig aufgefasst (jetzt ist immer)

Zeitwahrnehmungsprobleme sind bei ADHS in identischer Form ebenfalls sehr häufig auf, siehe Zeitwahrnehmungsprobleme bei ADHS (Chronasthenie) im Beitrag Gesamtliste der ADHS-Symptome nach Erscheinungsformen im Kapitel Symptome.

3.2.11. Kognitive Beeinträchtigung

  • Aufmerksamkeit beeinträchtigt
  • Konzentration beeinträchtigt
  • Gedächtnis beeinträchtigt

Aufmerksamkeitsprobleme sind bei ADHS zentrale Symptome.

3.2.12. Innere Leere

Tritt bei ADHS ebenfalls auf.

3.2.13. Entscheidungsprobleme

  • Entscheidungsfindung gestört
  • selbst kleine Entscheidungen überfordern
  • Angst vor Fehlern, Versagensängste, Schuldgefühle, Konzentrationsprobleme, Perfektionismus verschärfen Entscheidungsprobleme.

Entscheidungsprobleme sind ein häufiges ADHS-Symptom und treten bei ADHS-I häufiger auf als bei ADHS-HI und ADHS-C.
ADHS-I korreliert nach unserem Eindruck erhöht mit melancholischer Depression, ADHS-HI (mit Hyperaktivität / Impulsivität) korreliert dagegen eher mit atypischer Depression.

3.2.14. Wahnhaftes denken

Kennzeichen psychotischer Depression.
Wahn ist eine durch eine Erkrankung verursachte objektiv falsche Überzeugung, die von anderen Menschen nicht geteilt wird. Wahngedanken betreffen meist Urängste. Die Betroffenen sind vom Wahrheitsgehalt der Wahngedanken überzeugt.

Angst um

  • Seelenheil (Angst, verrückt zu werden)
  • Gesundheit (Angst vor unheilbaren Krankheiten)
  • Leben (Angst vor nahem Tod)
  • Verarmung (Angst, alles zu verlieren)
  • Sünde (Angst, gesündigt zu haben)
  • Schuld (Angst, unverzeihliches getan zu haben)
  • Selbstwert (Angst, völlig wertlos / nichtig zu sein)
  • Verfolgungswahn

3.2.15. Suizidgedanken

Gedankliches befassen mit Themen, die sich stufenweise auf Tod hinbewegen. Ablauf kann innerhalb von Stunden oder Monaten erfolgen.

  • Schluss machen (meist zunächst noch nicht auf Tod bezogen)
  • Erste Gedanken an Selbsttötung
  • Sondierung von Selbsttötungsarten
  • Sammeln von Tabletten, prüfen von Hochhäusern, Brücken etc.
  • Gegenstände des Lebens erhalten immer den Kontext der Selbsttötung
  • Versuch geht oft Zustand innerer Ruhe voraus
    • Äußerlich kann unmittelbar vor Versuch der Eindruck einer Besserung entstehen

10 bis 15 % aller unbehandelten Betroffenen einer schweren Depression töten sich selbst.

3.2.16. Körperliche Symptome

  • somatische körperliche Angstsymptome
  • Libido lässt nach / verschwindet
    • selten: erhöhte Libido; zuweilen auch nur zu Beginn einer Depression als Gegenbewegung, um noch etwas zu spüren
    • häufig weitere sexuelle Probleme
      • Erektionsprobleme
      • trockene Vagina
      • Schmerzen beim Geschlechtsverkehr
      • Orgasmusschwierigkeiten
  • Stimmungstiefs mit typischem Tagesrhythmus (morgens oder nachts)
  • Magenprobleme
    • aufstoßen
    • Oberbauchschmerzen
    • Druckgefühle
    • Übelkeit
    • Brechreiz
    • Verstopfung
    • eher selten Durchfall
  • Spannungs- / Druckkopfschmerzen
  • Spannungsgefühl der Kopfhaut (vor allem bei Frauen)
  • starker Juckreiz am Kopf (vor allem bei Frauen)
  • Atemprobleme
  • Schmerzen im Herzbereich
    • Stiche
    • Brennen
    • Ziehen
    • Enge im Brustkorb
    • Herzunregelmäßigkeiten werden intensiver wahrgenommen
      (kardiologische Absicherung gleichwohl erforderlich)
  • Schluckprobleme
  • Allgemeine, nicht konkrete Schmerzen
  • Hypochondrie
    • Angst vor unheilbarer Krankheit
  • deutliche Appetitlosigkeit
  • Gewichtsabnahme oder Gewichtszunahme („Kummerspeck“),

4. Schweregrade und Formen der Depression

4.1. Schwere der Depression

  • Leichte und mittelschwere Depression
  • Schwere Depression (Major Depression)
  • Dysphorie / Dysthymie (leichte chronische Depression)
    Dysphorie und Dysthymie werden im Folgenden einheitlich als Dysphorie bezeichnet.
    • länger anhaltend bis lebenslang
      • schwächere Intensität der vorhandenen Symptome
    • Abgrenzung zu ADHS: dort nur bei Inaktivität
  • Anlassbezogene Depressionen
    • PMS/PMDS: depressive Symptome immer in den 2 Wochen vor der Menstruation, nicht in den anderen 2 Wochen
      • Hinweis auf Östrogene als Auslöser
    • Schwangerschaftsdepression
    • Stillzeitdepression
    • Jahreszeitlich: im Winterhalbjahr
      • überdurchschnittlich häufiges auftreten von14
        • Hypersomnie (Schlafsucht)
        • Kohlenhydrathunger
      • Hinweis auf D3-Mangel oder Melatoninmangel als Auslöser
      • Regionales auftreten bei14
        • 20 % der Bevölkerung in Alaska, 64. Breitengrad
        • 12,5 % der Bevölkerung in New York, 41. Breitengrad
        • 2,6 % der Bevölkerung in Florida, 28. Breitengrad

4.2. Subtypen der Depression: melancholische und atypische Depression

Neben den hier behandelten Subtypen der melancholischen und der atypischen Depression gibt es weitere Subtypen, wie z.B. die psychotische Depression (die eine Extremform der melancholischen Depression sein könnte) oder die bipolare Depression, die durch Wechsel von depressiven und manischen Phasen in unterschiedlichen Rhythmen und Intensitäten gekennzeichnet ist.

Depression ist wie ADHS nicht starr mit einer abgeflachten oder überhöhten endokrinen Stressantwort verbunden. So wie bei ADHS der ADHS-I-Subtyp häufig eine überhöhte und ADHS-HI und ADHS-C tendenziell eine abgeflachte endokrine Stressantwort zeigen, gibt es bei Depression ebenfalls (mindestens) zwei Subtypen:15
1. die melancholische Depression (früher “endogene” Depression), und noch mehr die psychotische Depression,16 die häufig eine überhöhte endokrine Stressantwort zeigen (u.a. Hypercortisolismus),17 tritt bei 40 bis 60 % der Erwachsenen auf1819 und
2. die atypische oder chronische Depression, deren HPA-Achsen-Reaktion häufig einer (neutralen oder) abgeflachten endokrinen Stressantwort entspricht (u.a. Hypocortisolismus).202122232425

Etwa 50 % aller schwer depressiven Patienten zeigen einen erhöhten basalen Tagescortisolspiegel. Etwa 35 % sind Nonsuppressoren beim Dexamethasontest.262728

Bei Burnout ist dagegen der Tagescortisolspiegel deutlich niedriger, das Morgencortisolhoch (CAR) entfällt und der Tagesverlauf ist insgesamt abgeflacht.29 Dies zeigt den Zusammenbruch des cortisolergen Systems in den letzten Stressphasen. Mehr hierzu unter Zusammenbruch des Cortisolystems über die Stressphasen im Beitrag Die Stresssysteme des Menschen – Grundlagen von Stress im Kapitel Stress.

Der PVN des Hypothalamus von depressiven Patienten hat 4 Mal so viele CRH- und 3 Mal so viele Vasopressinneuronen wie der von Nichtbetroffenen.30
Die HPA-Achse reagiert auf akute Stressoren verlangsamt und schaltet nicht sauber ab. Die Betroffenen zeigen eine fehlerhafte Abschaltung der HPA-Achse im Hypothalamus und in der Hypophyse.31

Die HPA-Achse wird durch Cortisol abgeschaltet, wenn genügend Cortisol ausgeschüttet wird, um die Cortisol-empfindlicheren Mineralocorticoidrezeptoren so sehr zu belegen, dass die 1/10 so empfindlichen Glucocorticoidrezeptoren, die die HPA-Achsen-Abschaltung auslösen, adressiert werden.
MR-Antagonisten können – durch Cortisolgabe induzierte – depressive Symptome verbessern32 sofern nicht bereits eine therapieresistente Depression vorliegt.33
Wir hypothetisieren, dass eine solche Anwendung von MR-Antagonisten bei atypischer Depression angezeigt sein könnte (die mit einer abgeflachten Cortisolstressantwort korreliert) und bei melancholischer (und psychotischer) Depression (die von überhöhten Cortisolstressantworten geprägt ist) weniger hilfreich sein könnte.

Zwei Drittel aller Cushing-Patienten leiden an vielfältigen psychischen Problemen, die Hälfte an atypischer Depression. Wurde der bestehende Hypercortisolismus behandelt, verringerten sich die psychischen Probleme erheblich. Die atypischen Depressionen blieben jedoch bestehen und verschlimmerten sich sogar. 34 Atypische Depressionen korrelieren eher mit Hypocortisolismus als mit Hypercortisolismus, was eine Verschlimmerung einer atypischen Depression bei Verringerung de Cortisolspiegels schlüssig erscheinen lässt.

Eine Metauntersuchung stellt (abweichend von meisten übrigen Untersuchungen) dar, dass die Cortisolantwort von depressiven Patienten auf einen akuten psychischen Stressor sich nicht von der Gesunder unterscheide, dass jedoch die erholungsbedingte Rückkehr zum Cortisolspiegel vor dem Stressor bei depressiven Patienten deutlich verlangsamt sei. Dieser Effekt sei außerdem um so deutlicher, je schwerer die Depression ist.35

Dass langanhaltender cortisolerger Stress Depressionen auslösen kann, wird durch die erhöhte Depressionsgefahr bei Gabe künstlicher Glucocorticoide bestätigt.36

Männer mit erhöhter Cortisolstressantwort zeigen eine höhere Korrelation von Misshandlung als Kind und depressiven Symptomen als Männer mit mäßigen bis niedrigeren Cortisolreaktionen.37

4.2.1 Melancholische Depression (früher: “endogene”, “neurotische” oder “reaktive”Depression)

  • Hyperaktive Stressreaktion der HPA-Achse38
    • Cortisolreaktion auf akuten Stressor ist überhöht
    • CRH-System ist aktiviert
  • Patienten sind38
    • ängstlich
    • fürchten die Zukunft
    • verlieren die Reaktionsfähigkeit gegenüber der Umwelt
    • leiden an Schlaflosigkeit
      • insbesondere um mehrere Stunden zu frühes aufwachen39
      • CRH beeinträchtigt den Tiefschlaf.40
        Die Schlafprobleme können insofern unmittelbare Folge der überaktivierten HPA-Achse sein.
    • verlieren ihren Appetit
    • die Depression ist morgens am schlimmsten41
    • verringerte Aktivität der Wachstumshormone
    • verringerte Sexualität
    • gestörtes Zeitempfinden39
    • Gefühl der Gefühllosigkeit42
      • als quälend empfundenes Nicht-Traurig-Sein-Können42
      • Versteinerung, Leere und Erstarrung42
      • gänzlicher Verlust des Empfindens von Freude oder Lust
    • in extremer Form (schwere depressive Episode mit psychotischen Zügen) auch42
      • Schuldgefühle
      • Verarmungswahn
      • hypochondrischer Wahn
      • weitere Wahnvorstellungen

Aufgrund der bei melancholischer Depression häufig überhöhten Cortisolantwort auf akute Stressoren sollten SSRI, die den Cortisolspiegel erhöhen, bei dieser Form der Depression nur mit Bedacht verwendet werden.
Anmerkungen zu Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) bei ADHS

4.2.1.1. Cortisolstressantwort bei melancholischer (internalisierender) Depression: erhöht

Schon früh wurden bei depressiven Patienten erhöhte Cortisolwerte in Blut,434445 im Liquor46 (was mit dem Urin-Cortisol korrelierte und sich durch Clomipramin verringerte47 und was ebenso mit erhöhten CRH-Werten korrelierte)48 und im Urin49 festgestellt (Hypercortisolismus).
Die erhöhten Cortisolwerte korrelierten mit

  • CRH erhöht48
  • ACTH erhöht
  • Vasopressin erhöht
  • Ungleichgewicht zwischen Mineralocorticoid- und / Glucocorticoidrezeptoren
  • HPA-Achsen-Hyperfunktion5051
4.2.1.2. Unterschied Depression / ADHS in Bezug auf Corticoidrezeptoren und DST

Siehe hierzu unter Diagnose und Behandlung von ADHS durch Cortisol / Dexamethason? im Kapitel Cortisol und andere Stresshormone bei ADHS.

4.2.1.3. Medikation melancholischer (internalisierender) Depression

Das Handbuch der Psychopharmakotherapie 52 weist darauf hin, dass bei schweren (dort: melancholischen) Depressionen eine Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva (vornehmlich Amitryptilin und Clomipramin) oder SSNRI (dort Duloxetin und Venlafaxin) der Behandlung mit SSRI überlegen ist.5354 Eine andere (diesseits nicht auffindbare) Metaanalyse sowie eine weitere Studie kommen dagegen zu keinem Vorteil von TZA gegenüber SSRI bei schwerer (melancholischer) Depression.55
Die nicht optimale Wirkung von SSRI wurde weiter bei der Vorstellung des SSRI Sertralin thematisiert, welches besser als andere SSRI bei einer schweren melancholischen Depression wirken solle.56 Ebenso äußerte sich Ritzmann in der schweizerischen Pharma-Kritik kritisch zu SSRI bei melancholischer Depression.57
Eine andere Quelle nennt indes bei internalisierenden Depressionen die aktivierenden SSRI oder SNRI als Mittel der Wahl, während externalisierende Depressionsformen eher mit sedierenden Antidepressiva behandelt würden.58

Bei melancholischer Depression wird eine geringe Wahrscheinlichkeit des Ansprechens auf Placebo und Psychotherapie59 und ein besonders gutes Ansprechen von trizyklischen Antidepressiva, Lithium­augmentation und Elektrokrampftherapie berichtet.606162 Elektrokrampftherapie zeigte in Kombination mit medikamentöser Behandlung eine besonders gute Wiederherstellung der HPA-Achsen-Funktion.63
Eine medikamentöse Behandlung erwies sich einer verhaltenstherapeutischen Behandlung als deutlich überlegen.55

Die bisherigen Erkenntnisse stammen allerdings nur aus kleinen Untersuchungen und klinischer empirischer Erfahrung. Es gibt bislang kaum systematische Direktvergleiche der verschiedenen Antidepressivaklassen an Patienten mit verschiedenen Depressionssubtypen.5960

4.2.2. Atypische Depression

4.2.2.1. Cortisolstressantwort bei atypischer Depression: abgeflacht

Erst lange nach der Entdeckung des Hypercortisolismus bei vielen depressiven Patienten offenbarte sich, dass es bei Depression neben der bekannten Variante mit Hypercortisolismus (überhöhte Cortisolstressantwort) auch eine Variante mit Hypocortisolismus (verringerte Cortisolstressantwort, verringerte CRH-Spiegel) gibt – die hier dargestellte atypische Depression.386415

Zwischen 15 %65 und 40 % aller Depressionen sollen atypische Depressionen sein.

  • Hypoaktive Stressreaktion der HPA-Achse3864
    • verringerte Cortisolantwort auf akuten Stressor
    • verringerte CRH-Spiegel
  • Patienten sind386464
    • lethargisch
    • müde
    • hyperphagisch (Essstörung mit gesteigerter Nahrungsaufnahme)
    • hypersomnisch (“Schlafsucht”)
    • reaktiv auf Umwelt
    • tageszeitliche Variation der Depression, die morgens am wenigsten schlimm ist
    • Gefühl bleierner Schwere in Armen und Beinen (DSM IV)
    • Rejection Sensitivity (DSM IV)

Aufgrund der bei atypischer Depression abgeflachten Cortisolantwort auf akute Stressoren sind SSRI bei der Behandlung dieser Form der Depression die erste Wahl. Die Depressions-Liga empfiehlt SSRI besonders bei atypischer Depression.66 Daneben können MAOA-Hemmer hilfreich sein.
Gleichwohl sollte beachtet werden, dass SSRI die Anzahl der DAT im Striatum erhöhen, was die ADHS-Symptomatik verschärfen könnte.
Anmerkungen zu Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) bei ADHS

Das Bestehen einer Depression mit abgeflachter Cortisolantwort spricht nicht zwingend gegen die oben erläuterte Corticosteroid-Hypothese der Entstehung von Depression. Der Unterschied ist lediglich, dass der hier bestehende Hypocortisolismus eine Upregulation der Rezeptoren bewirkt.

Eine Veröffentlichung stellt eine abgeflachte Cortisolstressantwort bei (melancholischer) Depression als eine Folge eines lang anhaltenden chronischen Bestehens der Depression dar.67 Dass langanhaltender Stress eine Downregulation der Stresssysteme (des autonomen Nervensystems und der HPA-Achse) bewirkt, ist bekannt.6869 Offen ist, ob sich die Unterschiede zwischen einer chronischen melancholischen Depression und einer atypischen Depression lediglich hinsichtlich der Cortisolstressantwort angleichen. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Cortisolstressantworten keine kausale Rolle bei der Ätiologie der Depression spielen würden. Weiter müsste daraus folgen, dass die Cortisolstressantwort entgegen der bisherigen allgemeinen Auffassung keine entscheidende Rolle bei der Unterscheidung der Depressionssubtypen spielen dürfte.

4.2.2.2. Medikation atypischer (externalisierender) Depression

Bei atypischer Depression sollen SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) und TZA (Trizyklische Antidepressiva) schlecht wirken. Wirksam sollen irreversible MAO-Inhibitoren sein, die aber generell nur unter strenger Diät eingenommen werden dürfen.70

4.3. Saisonale Depression (SAD)

Die saisonale Depression oder Winterdepression entsteht regelmäßig in der Herbst / Winterzeit und endet im Frühsommer, wenn die Tage wieder hell und die Sonneneinstrahlung wieder stark geworden ist.

Bei 27 % der erwachsenen ADHS-Betroffenen fand sich eine saisonale Depression. Erwachsene ADHS-Betroffene haben das 10-fache Risiko, eine saisonale Depression zu entwickeln.7172

Für eine saisonale Depression sehen wir zwei Entstehungspfade, die beide mit der erhöhten Häufigkeit bei ADHS-Betroffenen gut vereinbar sind.

a. Durch die verringerte Sonneneinstrahlung verringert sich die Vitamin-D-Bildung. ADHS-Betroffene leiden häufig an einem Vitamin-D-Mangel. Zur Erläuterung siehe unter Vitamin D3 im Beitrag Vitamine, Mineralstoffe, Nahrungsergänzungsmittel bei ADHS im Abschnitt Medikamente bei ADHS im Kapitel Behandlung und Therapie.

b. Daneben dürfte eine Störung der Melatoninbildung aufgrund zu geringer Lichteinwirkung auf die entsprechenden ipRGC-Zellen der Retina des Auges, die für die Wahrnehmung des Maßes der Helligkeit zuständig sind. Sind diese Zellen überempfindlich, bewirken die nachlassenden Helligkeitsunterschiede im Spätherbst / Winter eine mangelhafte Steuerung des circadianen Rhythmus. Dies kann ein häufiger Grund für eine saisonale Depression sein.

Betroffene einer saisonalen Depression zeigten eine abweichende Funktion der ipRGC-Zellen. Sie reagierten mit einer reduzierte Pupillenerweiterung auf blaues Licht, nicht aber auf rotes Licht.7374 Das führt zu der Hypothese einer verringerten Lichtempfindlichkeit für blaues Licht, die eine schwächere Steuerung des Nucleus suprachiasmaticus mittels des natürlichen Tageslichts bewirkt.

Die Funktion der ipRGCs wird auch bei ADHS als suboptimal angenommen. Siehe hierzu unter Dopamin und Melatonin: Wach-/Schlafverhalten, circadianer Rhythmus im Beitrag Dopamin im Abschnitt Neurotransmitter bei ADHS im Kapitel Neurologische Aspekte.

69 % der Erwachsenen mit ADHS berichteten über eine erhöhte visuelle Lichtempfindlichkeit, gegenüber 24 % der Nichtbetroffenen. Zudem trugen ADHS-Betroffene häufiger eine Sonnenbrille als Nichtbetroffene. Möglicherweise spiegelt eine erhöhte visuelle Lichtempfindlichkeit von ADHS-Betroffenen eine abweichende retinale Entwicklung oder Funktion wider.75

5. Hypothesen zur Entstehung von Depressionen

Es gibt verschiedene Hypothesen (oder Entstehungspfade) für Depressionen.

  • Hypothese der chronischen Stressbelastung, die zu einer Schädigung der HPA-Achse und des limbischen Systems führt. Dabei spielen GABA und Glutamat eine Rolle. Eine neue Behandlungsmethode ist die Verwendung von Glutamatantagonisten wie Ketamin.
  • Corticosteroid-Rezeptor-Hypothese. Danach geht die Hyperfunktion der HPA-Achse bei Depressionen mit einer Störung der negativen Rückkopplung auf Cortisol und Veränderungen der MR- und GR-Rezeptoren einher. Frühkindlicher Stress und genetische Veränderungen können die Rezeptoren beeinflussen.
  • CRH-Rezeptor-Hypothese, wonach eine langanhaltende hohe CRH-Ausschüttung zu einer Downregulation der CRH-Rezeptoren führt und dadurch die HPA-Achse aktiviert bleibt.
  • Noradrenalinrezeptor-Hypothese, die beschreibt, wie Stress die Anzahl der Noradrenalinrezeptoren verringert und dadurch die negative Rückkopplungshemmung der Noradrenalinausschüttung beeinträchtigt.
  • Monoamin-Hypothese. Diese besagt, dass ein Defizit an monoaminergen Neurotransmittern oder eine verringerte Empfindlichkeit der Rezeptoren im Gehirn Depressionen auslösen kann.
  • Die Immunologische Hypothese zeigt, dass bei Depressionen verschiedene Entzündungsmarker verändert sind, was auf eine gestörte Immunreaktion hinweist.
  • Die Kindling-Hypothese beschreibt, wie wiederholte Stimulationen des Gehirns zu verstärkten und schnelleren Reaktionen führen können.
  • Die Neurotrophin-Hypothese besagt, dass Glucocorticoide einen Mangel an neurotrophen Faktoren verursachen und so Schädigungen von Nervenzellen auslösen können, insbesondere im Hippocampus.
  • Die Neurodegenerative Hypothese geht davon aus, dass ein Ungleichgewicht zwischen neuroprotektiven und neurodegenerativen Abbauprodukten im Gehirn zu morphologischen Veränderungen führt.
  • Die NRF2-Hypothese besagt, dass eine verringerte NRF2-Aktivität mit Depressionen einhergeht und durch antidepressive Behandlung erhöht wird.

Die meisten Hypothesen bilden eine Störung der HPA-Achse ab.
Weitere Ursachen für Depressionen finden sich bei Corvell.76

5.1. Hypothese der Depression als Folge einer chronischen Stressexposition

Diese Hypothese geht davon aus, dass eine chronischen Stressexposition eine lang anhaltend überhöhte Cortisolexposition und überhöhte ACTH-Exposition bewirkt, die dann Schädigungen der HPA-Achse und des limbischen Systems verursachen. Cortisol hat neurotoxische Effekte auf Hippocampus und PFC, die in der Depression beeinträchtigt sind. Depressionsbetroffene zeigen häufig eine vergrößerte Hypophyse und einen vergrößerten Hypothalamus. Langanhaltende Cortisolbelastungen bewirken häufig Insulinresistenz und abdominelle Fettablagerungen, wie sie bei Depressionen typisch sind.15

Depression zeigt häufig eine Dysregulation der HPA-Achse:77787980

  • Cortisol:
    • erhöhte Cortisolwerte in Blut und Urin81
    • erhöhte Anzahl an Sekretionsperioden von Cortisol81
    • geringere Sensibilität der GR für Cortisol.
      Dadurch verringerte negativen Rückkopplung in der HPA-Achse (Abschaltung gestört). Dadurch bei Stress:
      • Überproduktion von CRH und Vasopressin
        und daraus resultierend
        • Überproduktion von Cortisol82
        • Überproduktion von IL-1-beta83 Die IL-1-beta-Werte und die Cortisolwerte nach dem DST korrelierten bei Gesunden wie bei Depressiven.84 Siehe hierzu unten Immunhypothese der Depression.
  • CRH
    • erhöhte Zahl CRH-produzierender Neuronen im Hypothalamus85 und Frontalhirn,86 dadurch:
    • erhöhte CRH-Werte in der Gehirnflüssigkeit87
    • Downregulation der CRH-Rezeptor-Bindung88
    • verringerte CRH-Rezeptor-Expression86 im Frontalhirn

Einzelne Befunde zu chronischem Stress und Depression

4 Wochen chronischer unvorhersehbarer Stress löste bei manchen Mäusen Depression aus, bei anderen nicht (diese waren resilient). Gemessen wurden Expressionveränderungen in microRNA und mRNA:89

  • bei depressiver Reaktion:
    • Downregulation serotonerger/dopaminerger Synapsen im Nucleus accumbens
    • Downregulation der MAPK/Calcium-Signalwege im Nucleus accumbens
    • Downregulation mit Morphinabhängigkeit verbundeneer RNA
    • Upregulation der cAMP/PI3K-Akt-Signalwege im Nucleus accumbens
    • Upregulation des Aminosäurestoffwechsels
  • bei resilienter Reaktion:
    • Upregulation serotonerger/dopaminerger Synapsen im Nucleus accumbens
    • Upregulation der MAPK/Calcium-Signalwege im Nucleus accumbens
    • Downregulation des Chemokin-Signalweges
    • Downregulation des synaptischen Vesikelzyklus
    • Upregulation mit Nikotinabhängigkeit verbundener RNA
    • Upregulation des Kalzium-Signalweges
    • Upregulation des Tyrosinstoffwechsels

Eine andere Untersuchung an Mäusen fand Korrelationen von chronischem Stress und verringertem belohnungsorientiertem Verhalten mit:90

  • in der Milz
    • höhere Spiegel von Granulozyten, Entzündungsmonozyten und T-Helfer-17-Zellen
  • im Plasma
    • höhere Spiegel von induzierbarer Stickstoffmonoxid-Synthase
  • in der Leber
    • höhere Expression von Genen, die Enzyme des Kynureninpfades kodieren
  • im ventralen Tegmentum
    • höhere Konzentrationen von Kynurenin und den Mikroglia-Markern Iba1 und Cd11b
    • höhere Bindungsaktivität des DA D1-Rezeptors
  • im Nucleus accumbens
    • höherer Kynureninspiegel
    • niedrigerer Dopaminumsatz
    • geringere c-fos-Expression

Cortisol und CRH können mittels a. Veränderung der Synthese und Ausschüttung und b. Veränderung der Rezeptoren von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin9192 in limbischen und neocorticalen Gehirnstrukturen die für Depression typischen Veränderungen in Stimmung und Verhalten auslösen.7891

Chronischer Stress verringert den GABA-Spiegel. GABA und Stress
GABA ist ein inhibitorischer Neurotransmitter und steht im Wechselspiel zu Glutamat, einem exitatorischen Neurotransmitter. GABA und Glutamat hemmen sich gegenseitig. Ein langanhaltend verringerter GABA-Spiegel führt so zu einem überhöhten Glutamat-Spiegel. Ein erniedrigter GABA- und erhöhter Glutamatspiegel werden als eine Ursache von Depression betrachtet.93

Während GABA die ACTH-Ausschüttung der HPA-Achse hemmt (durch direkte Adressierung des Nucleus paraventricularis (PVN) im Hypothalamus, fördert Glutamat die ACTH-Ausschüttung über Projektionen des Hypothalamus und des Hirnstamms.94

Die Behandlung einer Depression durch Glutamat-Antagonisten ist ein neuer medikamentöser Ansatz der Depressionsbehandlung. Im März 2019 wurde durch die FDA in den USA erstmals der Glutamatantagonist Ketamin als Nasenspray zur Behandlung von Depression zugelassen (Esketamin). In Europa ist die Zulassung beantragt. In Deutschland wird Esketamin zur Behandlung von Depression derzeit off-label als Nasenspray oder Infusion verwendet. Die intravenöse Gabe erfolgt ambulant in einer Tagesstation. Die Erfahrungen sind positiv.95

Die Dosierungsempfehlung für Esketamin der APA aus 2017 lautet 0,5 mg / kg Körpergewicht, zwei Gaben pro Woche über 4 bis 6 Wochen. Die Wirkung tritt (anders als bei allen anderen bisher bekannten Antidepressiva) binnen Stunden bis wenigen Tagen ein.

Der Wirkmechanismus von Ketamin ist bislang unbekannt. Es scheinen Wachstumshormone ausgeschüttet zu werden, die bei Depression verringert sind. Zudem scheint die Kommunikation zwischen Gehirnregionen verbessert zu werden, die für die Stimmungsregulation zuständig sind.
Bei Ratten beinhaltet die kurzfristige Reaktion robuste und belastungsunabhängige topologische Veränderungen in kognitiven, sensorischen, emotionalen und belohnungsbezogenen Schaltkreisen, die mit depressivem Verhalten in Verbindung stehen. Die mittelfristige Reaktion innerhalb von 48 Stunden beinhaltete bei depressiven Ratten eine Normalisierung der Konnetivität der Nuclei habenulares, dem mittleren Thalamus und dem Hippocampus.96
Ketamin moduliert die Unterbrechung der dopaminabhängigen synaptischen Plastizität im präfrontalen Kortex, die die Ausprägung von depressivem Verhalten vermittelt.97

Die Langzeitwirkungen sind bisher unbekannt. Als mögliche Nebenwirkungen sind Blutdruckerhöhung, Pulsanstieg, Augendruck- und Hirndruckanstiege bekannt. Während der Einnahme wird eine Wirkung wie durch leichten Alkoholgenuss berichtet. Seltener treten positiv wahrgenommene Entgrenzungserfahrungen, Angst- oder Panikzustände, Illusionen, Halluzinationen oder Horrortrips auf.95

In einem uns bekannten Einzelfall zeigte sich bei einer Frau mit melancholischer Depression eine deutliche Verbesserung der bis dahin bestehenden Durchschlafstörung durch eine abendliche Einnahme von Glycin (wie GABA ein inhibitorischer Neurotransmitter).

5.2. Corticosteroid-Rezeptor-Hypothese der Depression

Die „Corticosteroid-Rezeptor-Hypothese der Depression“ besagt, dass die HPA-Achsen-Hyperfunktion der melancholischen Depression durch eine Störung der negativen Rückkopplung auf Cortisol entsteht (Cortisol als letztes Hormon der HPA-Achse hat unter anderem die Aufgabe, die HPA-Achse wieder abzuschalten; diese Funktion ist gestört) was mit einer Veränderung der Mineralocorticoid- (MR) und Glucocorticoid-(GR) Rezeptoren einhergeht.5098

Ein anhaltender Hypercortisolismus (zu viel Cortisol) kann eine Downregulation der Menge und Empfindlichkeit der MR und GR-Rezeptoren auslösen99 oder eine genetische Veränderung der Struktur oder Funktion der Rezeptoren verursachen.100

Veränderung der GR durch frühkindlichen Stress

Bei erwachsenen Ratten, die im Alter von 6, 9 oder 12 Tagen einmalig für 24 Stunden von der Mutter getrennt wurden, war die durch die GR vermittelte Cortisolrückkopplung (HP-Achsen-Abschaltung mit folgendem Cortisolrückgang) mangelhaft und beeinträchtigt.99 Neben einer gleichzeitigen Erhöhung der MR und Verringerung der GR im Hippocampus trat ausserdem eine erhöhte Aktivierung der Nebenniere als Folge eines erhöhten ACTH-Spiegels auf.101 Die Trennung von der Mutter veränderte das durch die MR vermittelte proaktive Feedback nicht, verursachte aber einen länger anhaltenderen Anstieg der ACTH-Werte. Das reaktive Feedback war beeinträchtigt, denn trotz erhöhter Cortisolwerte sanken die ACTH-Werte verlangsamt.102

Gewalterfahrungen der Mutter in der Schwangerschaft103 oder Misshandlungen in der frühen Kindheit104 bewirken eine verstärkte Methylierung von Promotorregionen des Gens für Glucocorticoidrezeptoren (GR) und damit eine verringerte GR-Dichte im Hippocampus.105 Der Hippocampus ist für die Abspeicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis und die Hemmung der HPA-Achse verantwortlich.

Eine Untersuchung konnte keine Korrelation zwischen der Methylierung des GR-Gens und der Cortisolstressantwort bei Trauma, Schizophrenie oder Bipolar Betroffenen feststellen.106

Ebenso kann eine Störung der Regulierung der Chaperone des Glucocorticoidrezeptors, z.B. via FKBP5, die Aktivierung des GRs, die Translokation des aktivierten Hormon-Rezeptor-Komplexes in den Zellkern, die Transkription des GRs und seine Wiederbereitstellung in der Zelle beeinträchtigen.15

Eine Blockade der MR im Hippocampus durch intracerebroventriculare Gabe (nicht aber durch Gabe ins Blut) eines MR-Antagonisten erhöht die basalen Cortisolwerte innerhalb von 60 Minuten ebenso wie die Cortisolantwort auf akute Stressoren und hält diese für eine längere Zeit aufrecht. Eine intracerebroventriculare Gabe von GR-Antagonisten senkte die Cortisolstressantwort etwas, verkürzte sie aber nicht.107 Im CA1-Gebiet des Hippocampus regeln MR die Aufrechterhaltung der Erregbarkeit, während GR die Erregbarkeit unterdrücken. Eine Blockade von MR erhöht den basalen Cortisolspiegel sowie die Cortisolantwort der HPA-Achse auf akute Stressoren.108 MR regulieren daneben den Salzhunger.

Limbische MR scheinen vornehmlich die cortisolergen Auswirkungen auf die Behandlung von Informationen und die Organisation von Verhaltensstrategien zu regeln. GR vermitteln dagegen die Wirkung von Cortisol auf Angst, Hunger und die Speicherung von Informationen. Durch GR vermittelte Verhaltensweisen können im Erwachsenenalter wochenlang bestehen bleiben und während der Adoleszenz dauerhaft sein. Hohe Cortisolspiegel verringern die Anzahl der GR und erhöhen die Anzahl der MR im Hippocampus. Mineralocorticoide (wie das aktivierende Aldosteron und das deaktivierende Desoxycorticosteron) regulieren MR wie GR herunter.108

Erhöht sich die relative Anzahl der MR gegenüber den GR im limbischen System, bewirkt dies bei Tieren

  • verringerte emotionale Reaktivität108
  • verringerte adrenocorticale Reaktivität108
  • verringerte Fähigkeit, Verhalten mit Hilfe von äußeren Reizen zu organisieren108

5.3. CRH-Rezeptor-Hypothese der Depression

Die CRH-Rezeptor-Hypothese nimmt an, dass durch eine lang anhaltende hohe CRH-Ausschüttung aus dem Hypothalamus eine Downregulation der CRH-Rezeptoren der Hypophyse erfolgt. Daraus folgt eine verringerte ACTH-Ausschüttung, die eine verringerte Cortisolausschüttung in der Nebennierenrinde bewirkt, sodass die durch Cortisol eigentlich vermittelte Abschaltung der HPA-Achse unterbleibt. Aufgrund der fehlenden Abschaltung der HPA-Achse bleibt die CRH-Ausschüttung ungebremst, die sich somit als Ursache und Folge zugleich erweist.

Unbehandelte Depressive zeigen erhöhte CRH-Konzentrationen in der Gehirnflüssigkeit. Depressive zeigen erhöhte CRH-Konzentrationen sowie eine erhöhte Expression des CRH-Gens im PVN des Hypothalamus, im Locus coeruleus und im PFC.15

5.4. Noradrenalinrezeptor-Hypothese der Depression

Die Corticosteroid-Hypothese ist nicht der einzige Mechanismus, der Veränderungen durch dauerhaften Stress beschreibt. Die verschiedenen Mechanismen dürften nebeneinander stehen und als generelle Stressfolgemechanismen auch bei anderen Störungen als Depressionen greifen. Ein Beispiel ist die Noradrenalinrezeptor-Hypothese der Depression, die nachfolgend anhand der Beschreibung von Fuchs, Flügge (2004) dargestellt wird:109

  1. Stress erhöht die Noradrenalin-Konzentration.
  2. Bei dauerhaft erhöhtem Noradrenalinspiegel verringert sich zunächst die Anzahl der alpha2-Adrenozeptoren in den Zielregionen der noradrenergen Nervenzellen (Downregulation).
    Die Downregulation erfolgt präsynaptisch (an den noradrenergen Terminalen) wie postsynaptisch (z.B. an glutamatergen Neuronen).
  3. Die präsynaptische Downregulation beeinträchtigt die negative Rückkopplungshemmung der Noradrenalinausschüttung. Deshalb bleiben die noradrenergen Nervenzellen bei einer Stressaktivierung nach der Downregulation der Noradrenalin-Rezeptoren dauerhaft aktiviert.
  4. Die dauerhafte Aktivierung führt zu einer Erschöpfung der Noradrenalin-Nervenzellen, sodass die Noradrenalinmenge nun sinkt.
  5. Als Reaktion hierauf können sich die postsynaptischen (noradrenergen) alpha2-Adrenozeptoren wieder heraufregulieren.

Als weiterer Hinweis auf die norardenerge Beteiligung bei Depression könnte die Uptake-2-Transporter-Beteiligung betrachtet werden.
Antidepressiva (Trizyklische AD, Noradrenalinwiederaufnahmehemmer, Serotoninwiederaufnahmehemmer) benötigen bis zum Wirkeintritt eine Zeit von 2 Wochen oder mehr. Es wurde erörtert, dass Uptake-2-Transporter (die niedrigaffin, aber mit hohem Durchsatz Noradrenalin und Serotonin aufnehmen) einen Anstieg des extrazellulären Noradrenalins auf die therapeutischen relevanten Spiegel verhindern. Normetanephrin, ein Noradrenalin-Metabolit und starker OCT3-Blocker, beschleunigte den durch einen NET/SERT-Blocker induzierten extrazellulären Noradrenalinanstieg im frontalen Kortex und dessen antidepressive Wirkung. Andere Studien konnten dies jedoch nicht reproduzieren.110

5.5. Monoamin-Hypothesen der Depression

Nach der Monoamin-Hypothese wird Depression durch ein Defizit an monoaminergen Neurotransmittern oder durch eine verringerte Empfindlichkeit der hierfür zuständigen Rezeptoren im zentralen Nervensystem (Gehirn) ausgelöst. Viele depressive Symptome, z.B. Schlafstörungen, Antriebslosigkeit oder Appetitverlust werden durch Fehlfunktionen monoaminerger Neurotransmittersysteme verursacht.15

Monoamine sind z.B. Serotonin und Noradrenalin, jedoch auch Dopamin, Adrenalin und etliche andere.

5.5.1. Serotoninmangel-Hypothese / Noradrenalinmangel-Hypothese der Depression

Früher wurde die Monoamin-Hypothese primär auf die Monoamine Serotonin und Noradrenalin bezogen.

Richtig ist, dass die wichtigsten Antidepressiva Serotoninwiederaufnahmehemmer, Noradrenalinwiederaufnahmehemmer oder Serotonin-/Noradrenalinwiederaufnahmehemmer sind. Gleichwohl spricht rund ein Drittel der Betroffenen auf diese Antidepressiva nicht an.

5.5.2. Serotoninüberschuss und Noradrenalinüberschuss und Depression

Inzwischen wird ein Mangel an Serotonin oder Noradrenalin nur noch als eine von mehreren möglichen Ursachen von Depression betrachtet.
Bei Depressiven wurden erhöhte wie erniedrigte Noradrenalinwerte gefunden.15
Ebenso wurden bei Depressiven Hinweise auf verringerte wie auf erhöhte Serotoninspiegel gefunden.15

Der Wirkstoff Tianeptin wirkt u.a. als Serotonin-Wiederaufnahme-Förderer. Tianeptin hat jedoch noch etliche weitere Wirkugen, z.B. erhöht es Dopamin im Nucleus accumbens, sodass unklar ist, welche neurophysiologischen Effekte die antidepressive Wirkung von Tianeptin vermitteln.

Die Befunde zu Noradrenalin und Serotonin entsprechen den unterschiedlichen Befunden zur Cortisolstressantwort und könnten auf verschiedene Phänotypen der Depression hindeuten.

Gegen die Annahme, dass Depression unmittelbar durch einen Monoaminmangel (z.B. Serotoninmangel) selbst hervorgerufen wird, spricht die Tatsache, dass SSRI den Serotoninspiegel unmittelbar ab Einnahme anheben, während ein Wirkungseintritt von SSRI frühestens nach 2 bis 4 Wochen eintritt.

Eine Behandlung mit monoaminergen Medikamenten (z.B. Serotonin- oder Noradrenalinwiederaufnahmehemmern) bewirkt zudem bei lediglich ca. 30 % der Depressions-Betroffenen eine Remission der Symptome.15 Andere Quellen sprechen von noch geringeren Quoten.111 Angaben, nach denen Antidepressiva bei 30 % der Betroffenen keine Wirkung zeigten,112 dürften in Bezug auf die verbleibenden 70 % auch eine lediglich geringfügige Besserung der Symptome einbeziehen.

5.5.3. Dopamin und Depression

Durch Noradrenalinmangel, Dopaminmangel und Serotoninmangel kann ein für Depression typisches Symptommuster ausgelöst werden. Beispielsweise löst Reserpin durch diese Wirkmechanismen psychomotorische Verlangsamung, Müdigkeit und Anhedonie aus, weshalb zunächst angenommen wurde, Reserpin würde Depressionen auslösen. Die kognitiven Depressionssymptome wie Hoffnungslosigkeit oder Schuldgefühle werden jedoch nicht induziert. Heute ist bekannt, dass die durch Reserpin verursachten Symptome durch eine Entleerung monoaminerger Speichervesikel15 aufgrund des daraus folgenden Mangels an Noradrenalin (und Dopamin) entstehen, nicht aber aufgrund eines Mangels an Serotonin.113 Die durch Reserpin hervorgerufenen Depressionssymptome können durch trizyklische Antidepressiva beseitigt werden.114 Dies ähnelt der Beschreibung der neurochemischen Ursachen von Dysthymie.115 Die durch Reserpin hervorgerufenen Symptome erinnern stark an die Beschreibung von SCT (sluggish cognitive tempo).
Durch einen Entzug von Tryptophan, das zur Serotoninsynthese unerlässlich ist, kann ein Serotoninmangel induziert werden. Mit diesem kann bei ehemals depressiven Patienten ein Rückfall verursacht werden.15

Majore Depression zeigt, besonders bei wiederkehrenden Episoden, eine verringerte Expression der DAT im Striatum. Dies könnte Folge einer kompensatorische Downregulation aufgrund niedrigen Dopaminsignalübertragung innerhalb der mesolimbischen Signalwege sein.116

Dopaminmangel im PFC und Striatum ist ein bekanntes neurophysiologisches Korrelat von ADHS. Bei rund 1/3 aller behandlungsresistenten Depressionen wird ein bis dahin nicht identifiziertes ADHS festgestellt. Ein solcher Dopaminmangel kann durch genetische Ursachen oder stressbedingt (epigenetisch) verursacht werden. Verschiedene Umwelteinflüsse verändern die dopaminerge Transmission durch epigenetische Veränderungen,117 unter anderem die PAR-4 und DRD-2-Expression im Striatum.

Einzelheiten zur PAR-4 und DRD-2-Expression im Striatum

Das Prostata-Apoptose-Response-4 (Par-4) Protein wird in striatalen Neuronen zusammen mit DRD2 exprimiert und interagiert mit DRD2 in neuronalen Zellen. Par-4 erhöht normalerweise die DRD2-Signalisierung und hemmt dadurch die von DRD2-vermittelte Dopamin-Neurotransmission. Eine postmortem Autopsie-Studie bei Patienten mit schwerer Depression fand einen 67 %igen Rückgang der Par-4-Expression im temporalen Kortex; der Knockout des Par-4-Gens führte zu einem depressionsähnlichen Verhalten bei Mäusen.118117 Eine Studie zeigt, dass Par-4 mit einer bestimmten Isoform des D2-Rezeptors (D2i3) interagiert. Eben diese Interaktion ist für die Gαio vermittelte Hemmung der cAMP-Aktivität unerlässlich. Die mit Par-4 interagierende Region des D2-Rezeptors enthält eine Calmodulin-Bindungsdomäne. Ca2+-aktiviertes Calmodulin konkurriert mit Par-4 um diese Stelle. Die Studie zeigt, dass die Gαio-abhängige (und durch den Transkriptionsfaktor CREB bestimmte) D2-Regulierung der Genexpression vom Gleichgewicht zwischen der Bindung von Par-4 einerseits und der Bindung von Calmodulin an den D2-Rezeptor andererseits abhängt. Erhöhungen der intrazellulären Ca2+-Konzentration, möglicherweise als Reaktion auf die Aktivierung des D2-Rezeptors, könnten zu einer Verdrängung von Par-4 und einer Entkopplung des D2-Rezeptors von Gαio führen und somit eine negative Rückmeldung über die D2-vermittelte cAMP-Dämpfung liefern.119 Weitere Zusammenhänge zur PAR-4 und DRD-2-Expressionsverringerung bei leichtem chronischen Stress berichten Moriam, Sobhani (2013).117

5.6. Immunologische Hypothese der Depression

Bei Depression sind häufig verschiedene Entzündungsmarker verändert.

Depressive haben erhöhte Werte von

  • IL‐1β,120 insbesondere bei melancholischer Depression.83 Dexamethason verringerte IL-1β bei gesunden, nicht bei depressiven Probanden.83 Die IL-1β-Werte und die Cortisolwerte nach dem DST korrelierten bei Gesunden (beide niedrig) wie bei Depressiven (beide hoch).84 Das deutet darauf hin, dass eine hyperaktivierte HPA-Achse bzw. nicht ausreichend reaktive Glucocorticoidrezeptoren erhöhte IL-1β-Werte bewirken. Dies würde die Glucocorticoid-Hypothese und die Immunhypothese der Depression miteinander verknüpfen.
  • IL‐2120
  • IL‐6120
  • IL‐10120
  • IFN‐7120
  • IFN‐γ121
  • sIL‐2R120
  • C-reaktives Protein (CRP)120
  • Haptoglobin (Hp)120
  • α2‐Macroglobulin (α2 M)120
  • Neopterin121 was mit verringerten L-Tryptophanwerten korrelierte.

Antidepressiva bewirken, dass die Produktion von pro-inflammatorischen Zytokinen (wie IFN-α) verringert und die Produktion von anti-inflammatorischen Zytokinen erhöht wird.122

5.6.1. IFN-α kann Depression auslösen

Interferon α löst als Medikament gegen Hepatitis C oder maligne Melanome bei 40 bis 50 % der Betroffenen dosisabhängig schwere Depression und bei bis zu 80 % Fatigue, Energieverlust und motorische Verlangsamung aus.123 Anorexie, Fatigue und Schmerzen treten nicht unmittelbar, sondern erst innerhalb von 14 Tagen nach IFN-α-Behandlungsbeginn ein. Depressive Stimmung, Angst und kognitive Beeinträchtigungen traten dagegen erst später auf und vor allem bei Patienten, die die DSM-IV-Kriterien einer schweren Depression erfüllten.

5.6.1.1. Wirkungspfade von IFN-α

IFN-α hat zwei Wirkungspfade124

  • schnell eintretende Folge: neurovegetatives Syndrom
    • psychomotorische Verlangsamung
    • Müdigkeit
    • Veränderungen im Dopaminstoffwechsel der Basalganglien
    • spricht nicht auf Antidepressiva an
  • spät eintretende Folge: depressives Syndrom
    • Depressive Symptome
    • Aktivierung neuroendokriner Bahnen
    • veränderter Serotoninstoffwechsel
    • spricht auf Antidepressiva an
5.6.1.2. Wie IFN-α neurophysiologisch Depression auslöst (Kynurenin/ Glutamat-Hypothese der Depression)

Die durch IFN-α vermittelten depressiven Symptome (nicht aber die weiteren Symptome) dürften durch die Verringerung von Tryptophan (TRP) aufgrund dessen Umwandlung in Kynurenin (KYN) durch das Enzym Indoleamin-2,3-Dioxygenase (IDO) vermittelt werden.125 90 % des Abbaus von Tryptophan erfolgt über den Kynureninüüfad.126
Plasmawerte von IFN-α korrelieren hoch mit Depressionsmerkmalen nach dem MADRS und Fatigue-Werten nach dem MFI.127

IDO wandelt Tryptophan zu Kynurenin, dies (mittels Kynureninaminotransferase) zu Kynurensäure und Chinolinsäure.128 In der Folge des verstärkten Abbaus von Tryptophan zu Kynurenin mittels (durch IFN-alpha und IFN-gamma geförderter) IDO und gleichzeitiger Förderung der Umwandlung von Kynurenin in Kynureninsäure mittels Kynurenin-Aminotransferase, die ebenfalls durch IFN-Gamma gefördert wird,112 kommt es weiter zu einer Hyperaktivierung des Glutamatsystems,129 was für die mehrfach beobachtete Downregulation der Glutamatrezeptoren bei Depression verantwortlich sein dürfte.112

Tryptophan ist ein Vorstoff von Kynureninsäure (einem (Glutamat-)NMDA-Rezeptor-Antagonisten), das ein Vorstoff von Chinolinsäure ist (einem (Glutamat-)NMDA-Rezeptor-Agonisten und Neurotoxin130, die in gesundem Zustand in einem Gleichgewicht zueinander stehen.
Ein weiterer Metabolit von Kynurenin ist 3-Hydroxykynurenin, das oxidativen Stress fördert.131

Interessanterweise verringerte eine Gabe des Glutamat-Antagonisten Kynureninsäure in den medialen PVN die Cortisolstressantwort um 24 %, während eine Gabe in den dorsalen PVN die Cortisolstressantwort um 31 % erhöhte.132 Diese Reaktion scheint jedoch von Stressor zu Stressor unterschiedlich.133

Die antidepressive Wirkung von Glutamatantagonisten ist bereits lange bekannt.134 Als solche zeigen insbesondere Ketamin,135136 Amantadin und Cyloserin (weniger dagegen Memantin) antidepressive Wirkung bei Menschen.112 Glutamatantagonisten erhöhen den Dopamin-, Noradrenalin- und Serotoninspiegel im Gehirn.137 Die Serotoninerhöhung in PFC und Hippocampus war höher als mit zusätzlicher Citalopram-Gabe.138
Eine IFN-α induzierte Depression und eine “natürlich” entstandenen Depression zeigen139

  • identische Symptomschwere von
    • Angstzuständen
    • depressive Stimmung
    • beeinträchtigte Arbeitsaktivität
  • abweichend bei IFN-α induzierter Depression
    • stärkere psychomotorische Verlangsamung
    • höhere Gewichtsabnahme
    • geringere Schuldgefühle

Parameter, die eine Depression nach einer antiviralen Behandlung mit Interferon wahrscheinlicher machen, sind:140

  • hohe Ausgangswerte von IL-6
  • weibliches Geschlecht
  • frühere Depressionen
  • unterschwellige Depressionssymptome
  • niedriges Bildungsniveau
5.6.1.3. Wirkungen von IFN-gamma

IFN-gamma erhöht das Enzym Kynurenin-Monoxygenase, das Kynureninsäure zu Chinolinsäure umwandelt.
Chinolinsäure und ein hohes Chinolinsäure / Kynurenin-Verhältnis korrelieren mit112

  • verlängerten Reaktionszeiten beim Menschen141142
  • kognitiven Defiziten (z.B. Lernschwierigkeiten) bei Menschen143142
  • Angst bei Tieren144

5.6.2. IL-6

Personen mit schwerer Depression und frühen Stresserfahrungen reagierten auf psychischen Stress (TSST) mit einer überhöhten IL-6-Stressantwort und einer erhöhten DNA-Bindung von NF-kB in peripheren mononukleären Blutzellen.145
Ein erhöhter IL-6-Spiegel bei Jugendlichen mit frühen Stresserfahrungen sagte die Entwicklung einer Depression 6 Monate später voraus.146 Kindliche Stresserfahrungen scheinen die Bildung einer neuroimmunen Pipeline zu fördern, die die Entzündungssignalübertragung zwischen dem Gehirn und der Peripherie verstärkt. Einmal etabliert, führt diese Pipeline zu einer Kopplung von Depression und Entzündung, die später zu affektiven Schwierigkeiten und zu biomedizinischen Komplikationen führen kann.

5.6.3. Stress bewirkt Depression mit korrelierend erhöhten Entzündungswerten

Stress löst bei Mäusen depressives Verhalten aus. Dieses korreliert mit erhöhten Werten von

  • IL-
  • TNF
  • IL-6
  • reaktiven Mikroglia im Hippocampus
  • TLR4p38-Rezeptoren im Hippocampus
  • P2X7-Rezeptoren im Hippocampus
  • Corticosteron im Blut

Der Glutamatantagonist Ketamin verringert diese Werte.147

5.6.4. NF-kB

Personen mit schwerer Depression und frühen Stresserfahrungen reagieren auf psychischen Stress (TSST) mit einer überhöhten IL-6-Stressantwort und einer erhöhten DNA-Bindung von NFkB in peripheren mononukleären Blutzellen.145

5.7. Kindling-Hypothese der Depression

Kindling ist die Bezeichnung für eine laufende Zunahme neuronaler Antworten auf eher seltene und schwache Stimulationen von Gehirnbereichen aufgrund von Lernprozessen im Rahmen der neuronalen Plastizität. Der Mechanismus wird mit der Lernfähigkeit des Immunsystems in Verbindung gebracht, das nach erstmaliger Ausbildung von Reaktionen auf ein Antigen bei erneutem Kontakt mit diesem schneller und stärker reagiert.148
Dieselben Muster sollen sich bei der Ausschüttung von IL-6 zeigen, das schneller und stärker ausgeschüttet wird, wenn die IL-6-Reaktion bereits pränatal (z.B. durch Stress der Mutter während der Schwangerschaft) angelegt wurde.148 Dieses Modell ist auf andere Zytokine übertragbar.149
Dieses Bild könnte zugleich das Two-Hit-Modell erklären, wonach bei bestehender frühkindlicher Belastung eine hinzutretende erneute Belastung (vornehmlich im Jugendalter) zu einer intensiveren inflammatorischen Reaktion führen kann, die wiederum eine Störung der dopaminergen, serotonergen, noradrenergen und glutamatergen Neurotransmission auslösen kann.150 Im Alter ist die Immunantwort deshalb erhöht.151 Mittelschwere und schwere Misshandlung im Kindesalter korreliert positiv mit der Gesamtveränderung der Stressantwort des Zytokins IL-6 sowie der maximalen IL-6-Konzentration während des TSST.152

Die Kindling-Hypothese wurde für Epilepsie im Tiermodell belegt. Epilepsie konnte durch elektrische Stimulation zunächst angelegt werden; die Anfallsbereitschaft verstärkte sich danach von selbst immer weiter bis zum Vollbild epileptischer Anfälle. Beim Menschen gibt es hierfür keinen Beweis, aber Hinweise.

Es wird diskutiert, ob dieser Mechanismus auch für affektive Störungen (Depression, bipolare Störung, Manie) verantwortlich sein könnte.

5.8. Neurotrophin-Hypothese der Depression

Nach der Neurotrophin-Hypothese bewirken Glucocorticoide einen Mangel an neurotrophen Faktoren
(vornehmlich BDNF) was zu einer Schädigung von Nervenzellen (insbesondere im Hippocampus) führt.
Eine kurzzeitige Schädigung kann durch Antidepressiva beseitigt werden. Eine nicht behandelte Depression kann lang anhaltende Schädigungen mit der Folge einer irreversible Hippocampusatrophie auslösen.129

5.9. Neurodegenerative Hypothese der Depression

Ein Ungleichgewicht zwischen neuroprotektiven und neurodegenerativen Abbauprodukten des Tryptophanstoffwechsels (TRYCATs) kann morphologische Auswirkungen in Gehirnregionen bewirken, die bei affektiven Erkrankungen involviert sind.129

5.10. NRF2-Hypothese der Depression

Eine Metaanalyse von 84 Studien fand, dass NRF2 bei Depressionen verringert zu sein scheint und dass NRF2 durch antidepressive Behandlung (Medikamente oder andere Methoden) erhöht wird. Antioxidative Systeme und plastizitätsfördernde Moleküle, wie diejenigen in den Signalpfaden Nrf2-HO-1, BDNF-TrkB und zyklisches AMP-CREB, könnten vor Depressionen schützen, während die Glykogensynthase-Kinase-3β und der Nuklearfaktor κB diesen Aktionen entgegenwirken und damit depressionsähnliche Verhaltensweisen verstärken. Da Nrf2 auch ein tumorerzeugendes und atherogenes Potenzial besitzt, wird bei der Entwicklung neuer Medikamente, die auf eine Erhöhung des intrazellulären Nrf2-Gehalts abzielen, das Gleichgewicht zwischen Nutzen und Schaden berücksichtigt werden müssen.153

5.11. Chronischer Nikotinkonsum erhöht das Depressionsrisiko

Nikotinabhängigkeit erhöht das Depressionsrisiko.154
Depressive Raucher, die 6 Wochen nikotinärmere Zigaretten konsumierten155 oder die das Rauchen aufgaben, zeigten verringerte Depressionssymptome.156

Bei Mäusen, die chronischem milden Stress ausgesetzt wurden, linderte einmalige Nikotingabe die durch den Stress verursachten Depressionssymptome und Gedächtnisschwierigkeiten. Diese Wirkung scheint auf einer antagonistischen Wirkung von Nikotin auf die CB1- und CB2-Cannabinoidrezeptoren zu beruhen.157 Es ist also zwischen einmaligem und chronischem Nikotinkonsum zu unterscheiden.158

5.12. Chronischer Alkoholkonsum erhöht das Depressionsrisiko

Metauntersuchungen zeigen eine hohe Korrelation zwischen Alkoholabhängigkeit und Depression. Sie deuten auf eine kausale Verursachung von Depression durch Alkohol hin, weniger auf eine umgekehrte Kausalität.159 Eine durch (chronischen) Alkoholkonsum verursachte Depression verschwindet nach Beendigung des Alkoholkonsums.160
Kurzfristiger Alkoholkonsum erhöht den Serotoninspiegel, während chronischer Alkoholkonsum den Serotoninspiegel in der Gehirnflüssigkeit verringert. Alkohol adressiert dabei die Serotoninrezeptoren 5-HT3, 5-HT1B und 5-HT1A sowie den Serotonintransporter.161
Alkohol erhöht weiterhin den Dopaminspiegel im Gehirn, indem der Dopaminspiegel durch Serotonin moderiert wird. Serotonin bildet damit eine Art Hebel für den Dopaminspiegel im dorsalen Striatum, dem Belohnungszentrum des Gehirns.161

Alkoholiker vom häufigeren Typ A / Typ 1 (Typen nach Cloninger, 1987) haben ein späteres Onset, der Alkoholismus ist eher umweltbedingt eingetreten, das Novelty seeking ist geringer und es bestehen häufiger dopaminerge Defizite. Sei benutzen Alkohol eher aufgrund der angstlösenden Wirkung. Alkoholiker vom selteneren Typ B / Typ 2 haben ein früheres Onset, der Alkoholismus ist häufiger vererblich, die Suchtprobleme sind größer, das Novelty seeking ist höher, es sind mehr Männer betroffen und es bestehen häufiger serotonerge Probleme.161162

SSRI und andere Antidepressiva werden erfolgreich zur Behandlung von Alkoholabhängigkeit eingesetzt.161

Bei Ratten erhöhte chronischer Stress, der depressive Reaktionen auslöste, den Alkoholkonsum. Guanfacin, das auch als ADHS-Medikament eingesetzt wird, verringerte die stressbedingte depressive Wirkung und die Wahrscheinlichkeit eines Alkoholrückfalls.163

6. Neurophysiologische Korrelate von Depressionssymptomen

6.1. Neurophysiologische Korrelate von Anhedonie

Anhedonie ist bei gesunden Menschen verbunden mit

  • einer Vergrößerung
    • des linken Pallidum164
    • des superioren frontalen Gyrus164
    • des postzentralen parietalen Gyrus164
    • des inferioren parietalen Gyrus164
    • der Aktivität des ventromedialen PFC während der Verarbeitung positiver Informationen165
  • einer Verringerung
    • der Größe des anterioren Nucleus caudatus165
    • der Aktivität des Nucleus accumbens166167
    • der Aktivität des basalen Vorderhirns167
    • der Aktivität des Hypothalamus167
  • 7 bis 8 Tage Immobilisationsstress (3 bis 4 Stunden / Tag) verringerte bei Mäusen die Stärke der erregenden Synapsen an D1-MSNs, aber nicht an D2-MSNs des Nucleus accumbens Kerns.168 Dies könnte darauf hindeuten, dass eine D1-MSN-spezifische Veränderung der erregenden Übertragung für die Induktion von Anhedonie verantwortlich ist.169

6.2. Neurophysiologische Korrelate von Depression

Depression ist als Reaktion auf positive Stimuli verbunden mit170

  • einer Verringerung der Aktivität von
    • PFC
      • ventral171
      • Corpus callosum171
      • medial
    • ventralem Striatum (incl. Nucleus accumbens)172
  • einer Erhöhung der Aktivität von
    • Thalamus
    • Putamen
    • Insula
    • inferiorem frontalem Cortex
    • anteriorem cingulärem Cortex (ACC)
      • insb. subgenualem ACC, der negative Affekte verarbeitet173
      • ACC ist verkleinert, bei erhöhter Stoffwechselaktivität171
      • im rostralen ACC schwächere Aktivierung für positive Informationen und stärkere Aktivierung für negative Informationen174
      • im dorsalen ACC schwächere Aktivierung durch musikalische Stimuli, stärkere Aktivierung durch nichtmusikalische Stimuli bei Depressiven. Größte Reaktion auf negative nichtmusikalische Stimuli.174
      • anders: notorische Unteraktivierung des ACC bei Depression175; hierzu konnten wir bislang keine Belege finden
      • Jugendliche mit Depressionen zeigen173
        • größere funktionelle Konnektivität zwischen sgACC und Amygdala
        • verringerte funktionelle Konnektivität zwischen sgACC und PFC
        • erhöhte funktionelle Konnektivität zwischen dACC und Insula während der affektiven Verarbeitung
  • Imbalance zwischen D1- und D2-Rezeptoraktivität
    • Mäuse reagieren auf chronischen sozialen Verteidigungsstress (CSDS) unterschiedlich: resilient oder depressionsanfällig. Bei den depressionsanfälligen Mäusen ist die Häufigkeit der exzitatorischen synaptischen Eingänge in D1-MSNs verringert und in D2-MSNs erhöht.176 Auf CSDS resiliente Tiere zeigen eine Zunahme der synaptischen Stärke an den großen Pilzstacheln der D1-MSNs und eine gleichzeitige Abnahme der synaptischen Stärke an denen der D2-MSNs. In einer Studie zeigten anfällige Mäuse jedoch keine signifikante Veränderung der synaptischen Stärke an D1-MSNs oder D2-MSNs.177
    • Nach 10 Tagen CSDS zeigte sich178
      • bei resilienten Mäusen eine Zunahme der β-Catenin-Signalisierung in D2-MSNs zunimmt
      • bei depressionsanfälligen Tieren eine Abnahme der β-Catenin-Signalisierung
    • 7 bis 9 Wochen chronischer unvorhersehbarer milder Stress (CUMS), wie er z.B. als Depressionsmodell bei Tieren genutzt wird, war mit dem Dopamin-D2-Agonisten Pramipexol (SND-919) therapierbar.179

7. Depression und Stress

7.1. Betroffene Hypothalamus-Hypophysen-Achsen

Bei Depression sind mehrere Hypothalamus-Hypophysen-Achsen betroffen.180

  • HPA-Achse

    • Hypothalamus:
      • CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon).
    • Hypophyse:
      • ACTH (Corticotropin)
      • MSH (Melanotropin, entsteht bei ACTH-Synthese aus POMC)
    • Nebennierenrinde:
      • Glucocorticoide (z.B. Cortisol)
      • Mineralocorticoide
      • Sexualhormone (z.B. DHEA)
    • Haut:
      • Melanin
  • Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse (HHT-Achse)

    • Hypothalamus:
      • TRH (Thyreotropin-Releasing-Hormon)
    • Hypophyse:
      • Thyr(e)otropin (TSH)
    • Schilddrüse:
      • Thyroxin
    • Depression geht bei ca. 6 % der Betroffenen mit verringertem Trijodthyroxinspiegel (T3) einher, was mit augmentierender (= begleitender) T3-Gabe behandelt wird.181
  • Hypothalamus-Hypophysen-Leber Achse (HHS-Achse)

    • Hypothalamus:
      • GHRH (Growth-Hormone-Releasing-Hormon)
    • Hypophyse:
      • STH (Somatotropin)
      • GH (Growth Hormon)
    • Leber:
      • IGF-1
    • Erhöhte CRH-Spiegel tragen zur Hemmung der HHS-Achse bei.15
      GHRH fördert den Tiefschlaf. Da jedoch bei atypischer Depression, die von stark erhöhtem Schlafbedürfnis gekennzeichnet ist, eher eine Unteraktivierung der HPA-Achse und damit des Hypothalamus vorliegt und bei melancholischer Depression, die von Störungen des Tiefschlafs gekennzeichnet ist, meist eine Überaktivierung der HPA-Achse und damit des Hypothalamus vorliegt, ist der Zusammenhang zu GHRH nicht direkt nachvollziehbar.
      Die Fachliteratur vermutet gleichwohl ein Ungleichgewicht zwischen HHS und HHG-Achse.182
  • Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden Achse (HHG-Achse)
    Das HHG-System dürfte vornehmlich bei Schwangerschafts- und Mutterbettdepressionen eine Rolle spielen

    • Hypophyse:
      • FSH (Follikelstimulierendes Hormon)
      • LH (Luteinisierendes Hormon)
    • Hoden / Ovar:
      • Sexualhormone
      • Ovulation
      • Spermatogenese
    • Erhöhte CRH-Spiegel tragen zur Hemmung der HHG-Achse bei.15

Im vorliegenden Beitrag wird lediglich der Zusammenhang zwischen HPA-Achse und Depression weiter beschrieben.

7.2. Depressionssymptome und Cortisoltagesrhythmus

Bei melancholischer Depression treten die Depressionssymptome am stärksten morgens auf,383941 im Gegensatz zur atypischen Depression, bei der sie morgens am schwächsten sind und eher abends verstärkt auftreten.38
Wir vermuten, dass die Depressionssymptome bei melancholischer Depression dann am stärksten sind, wenn der Tagescortisolspiegel am höchsten ist, also morgens und vormittags, während sie bei atypischer Depression am schlimmsten sind, wenn der Tagescortisolspiegel am niedrigsten ist, also nachmittags bis in die erste Nachthälfte.
Auffällig ist weiter, dass die bei melancholischer Depression typischen Schlafprobleme in der zweiten Nachthälfte mit dem typischerweise dann wieder ansteigenden Cortisolspiegel zusammenfallen. Auch bei einer Nebennierenüberfunktion, bei der zu viel Cortisol produziert wird, ist der Schlaf gestört.
Atypische Depression ist gleichermaßen durch eine abgeflachte Cortisolstressantwort und ein insgesamt erhöhtes Schlafbedürfnis gekennzeichnet – ein Zusammenhang, wie er auch bei einer Nebennierenunterfunktion bekannt ist.

7.3. Untersuchungen zu Cortisol bei Depression

Die meisten Untersuchungen über die Cortisolantwort bei Depressionen unterscheiden leider nicht zwischen den Subtypen der melancholischen (meist überhöhte endokrine Stressantwort) und atypischen (häufig abgeflachte endokrine Stressantwort) Depression, weshalb die Ergebnisse mit Vorsicht zu betrachten sind.
Beispielsweise differenziert DSM IV die Kriterien von melancholischen und atypischer Depression nicht.

7.3.1. Depression und Cortisol bei Frauen

Erstaunlicherweise ergeben etliche Untersuchungen, dass Frauen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für atypische Depressionen haben.65183
Das deckt sich nicht mit Erfahrungen aus dem Bereich der ADHS-Forschung, wonach Frauen häufiger eine internalisierende Stressreaktion zeigen, die in der Regel mit einer überhöhten Cortisolantwort auf akute Stressoren einhergeht. Eine atypische Depression korreliert indes häufig mit einer abgeflachten Cortisolantwort auf akute Stressoren.

7.3.2. Depression und Cortisol bei Kindern

Etwa die Hälfte aller depressiven Erwachsenen haben eine überhöhte Cortisolstressantwort.184
Kinder und Jugendliche mit Depression haben dagegen kaum eine überhöhte Cortisolantwort, reagieren folglich unauffällig auf den Dexamethason/CRH-Test185184 und sprechen gar nicht auf trizyklische Antidepressiva an.186184187

Dies deckt sich mit der unten dargestellten Erfahrung, dass trizyklische Antidepressiva bei melancholischer Depression überlegen sind, wenn man melancholische (endogene) Depression als durch eine überhöhte Cortisolstressantwort gekennzeichnet versteht.

Einzelne Untersuchungen zu Cortisol bei Depression:

  • 115 Jugendlichen (9-16 Jahre) mit depressiven Symptomen wurden nachmittags dem Socially Evaluated Cold Pressor Test (SE-CPT) unterzogen.
    Unter denjenigen mit stressinduziert erhöhten Cortisolwerten korrelierte nur bei Jungen das Maß der depressiven Symptome mit der Intensität der Cortisolerhöhung, nicht aber mit erhöhten Ausgangscortisol- oder Erholungscortisolwerten.
    Unter denjenigen ohne stressinduzierte Cortisolerhöhung korrelierte bei Jungen wie bei Mädchen das Maß der Depressionssymptome mit einem insgesamt erhöhten Cortisolspiegel.
    Die Autoren schließen daraus, dass Depressionssymptome mit einer länger anhaltenden Aktivierung der HPA-Achse einhergehen und vor allem bei Jungen die Erholung von psychosozialen Stressoren beeinträchtigt ist. (Letzteres könnte eine Entsprechung darin finden, dass das Geschlechterverhältnis bei Jungen zu Mädchen bei ADHS 1,6 zu 1 beträgt und Jungen häufiger mit hyperaktiven Subtypen von ADHS diagnostiziert werden, die (anders als ADHS-I) mit Erholungsunfähigkeit einhergehen) .
    Die beeinträchtigte Erholung von psychosozialen Stressoren bei Jungen könnte durch eine Verschiebung des Inputs von exzitatorischem Input hin zu größerem inhibitorischen Input bewirkt werden oder dadurch, dass eine größere Cortisolmenge erforderlich wird, um das Feedback-Hemmungssystem der HPA-Achse zu aktivieren.188
  • Eine Metaanalyse von 1129 akut schwer depressiven Erwachsenen zeigte bei Männern eine erhöhte Cortisolantwort auf akuten Stress, bei Frauen dagegen eine verringerte Cortisolantwort. Die Veränderungen bildeten sich mit Nachlassen der Störung bei Frauen weitgehend und bei Männern ganz zurück.189
    Das Ergebnis ist für uns unerwartet, da Frauen eher internalisierende Störungen entwickeln sollen als Männer. Wir hätten daher erwartet, dass eher Männer mit einer im Schnitt verringerten Cortisolantwort und Frauen mit einer im Schnitt erhöhten Cortisolantwort abgebildet sein müssten. Die Untersuchung unterscheidet allerdings nicht zwischen melancholischer und atypischer Depression.
    Weiterhin könnte sich der Unterschied bei Depression mehr aus der Dauer der Depression ergeben. Wie oben dargestellt soll bei neu auftretenden Depressionen möglicherweise die Cortisolstressantwort erhöht und bei chronischen lang andauernden Depressionen die Cortisolstressantwort abgeflacht sein (Zusammenbruch des cortisolergen Systems).
  • Depression ohne traumatische Kindheitserfahrungen korreliert mit einer erhöhten Cortisolreaktion auf Stress.190
  • 30 schwer depressive Erwachsene zeigten auf den TSST eine höhere und langanhaltendere Cortisolantwort als Nichtbetroffene. Die Kombination aus frühkindlicher Stresserfahrung und hohem chronischem Stress während der Adoleszenz war der stärkste Prädiktor für eine gesteigerte Cortisolausschüttung auf den TSST.191; n = 55))
  • Eine Untersuchung von 406 im Schnitt 50-jährigen Frauen fand mit zunehmenden Depressionssymptomen eine Verringerung des (nicht stressinduzierten) basalen Cortisolspiegels über den Tag.192
  • Erhöhte Morgencortisolwerte mit 13 Jahren sagten eine erhöhte Depressionsrate mit 16 Jahren voraus.193
  • Depressionen bzw. depressive Persönlichkeitsmerkmale194195196 korrelierten mit erhöhten morgendlichen (CAR) bzw. Serum-Cortisolwerten.
  • Die Cortisolantwort auf einen kombinierten Dexamethason/CRH-Test war bei Depression signifikant erhöht.197
  • Alter und Schweregrad der Depression beeinflussten die Cortisolfreisetzung.198
  • Bei Berücksichtigung von Alter und Schweregrad der Depression erreichte der Dexamethason-/CRH-Test eine Sensitivität von mehr als 90 % für rezidivierende depressive Störungen199

7.3.3. Cortisolstressantwort bei Asthma moduliert durch depressive Stimmung

Asthmatiker zeigen häufig eine verringerte Cortisolstressantwort. Cortisol hemmt Entzündungen und stellt das Immunsystem auf die Bekämpfung externer Störfaktoren um. Ein häufige Folge von zu viel Cortisol sind Allergien. Interessanterweise scheint die grundsätzlich abgeflachte Cortisolstressantwort von Asthmatikern mit zunehmender depressiver Stimmung zu einer deutlich spürbaren Cortisolantwort zu wechseln.200

7.4. Untersuchungen zu anderen Stresshormonen bei Depression

Die meisten Untersuchungen über andere Stresshormone bei Depressionen unterscheiden ebenfalls nicht zwischen den Grundtypen der melancholischen (internalisierenden) und atypischen (externalisierenden) Depression. Daher sind auch diese Ergebnisse mit Vorsicht zu betrachten.

Andere Stresshormone bei Depression:

  • Erwachsene Frauen, die in der Kindheit sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt wurden, zeigten eine erhöhte ACTH-Antwort auf einen akuten psychosozialen Stressor.201
  • Litten die misshandelten Frauen zugleich an einer aktuellen Depression, war die ACTH-Antwort auf einen akuten psychosozialen Stressor nochmals weiter erhöht; ebenso war nun auch die Cortisolantwort und die Herzratenreaktion erhöht.201
  • Frauen mit früheren Traumata ohne eine aktuelle Depression zeigten auf eine medikamentöse CRH-Stimulation der Hypophyse ebenfalls eine überhöhte ACTH-Antwort.202
  • Früh misshandelte Frauen mit aktueller Depression zeigten auf eine medikamentöse CRH-Stimulation der Hypophyse dagegen eine verringerte ACTH-Antwort. Dies deutet auf unteraktive CRH-Rezeptoren in der Hypophyse hin.202
  • Früh misshandelte Frauen mit Depression und ohne aktuelle Depression zeigten ebenso wie nicht misshandelte Frauen mit Depression auf eine medikamentöse ACTH-Stimulation der Nebennierenrinde eine stark verringerte Cortisolantwort.202
  • Früh misshandelte Männer mit und ohne Depression zeigten auf den Dexamethasontest eine verstärkte ACTH– und Cortisolantwort. Dies lässt auf eine überhöhte Empfindlichkeit der HPA-Achse und auf eine gestörte Feedback-Hemmung der HPA-Achse schliessen.203 Depressive Männer ohne frühe Misshandlung zeigten dagegen keine verstärkte ACTH- und Cortisolantwort.
  • Bei akut depressiven Männer mit frühkindlicher Stresserfahrung und einer Vergleichsgruppe Nichtbetroffener korrelierte nicht die Depression, sondern nur die Beschreibung der frühkindlichen Stressintensität mit der Erhöhung der basalen CRH-Werte im Liquor.204

7.5. Depression und Testosteron

Eine Erhöhung des Testosteronspiegels kann (in geringem Maße) dazu beitragen, Depressionen zu lindern. Das betrifft auch Patienten mit einem normalen Testosteronspiegel.205 Bei Personen mit erhöhter Aggression sollte berücksichtigt werden, dass Aggression mit einem erhöhten Testosteron-Cortisol-Verhältnis einhergeht.
Die neurophysiologischen Korrelate von Aggression

8. Diagnostik der Depression

8.1. Diagnostische Manuale

Depression wird durch eine Anamnese der bestehenden Symptome diagnostiziert.

8.2. Endokrine Funktionstests

Weiter können endokrine Funktionstests die Diagnose unterstützen.
Mehr hierzu im Beitrag *⇒ Pharmakologische endokrine Funktionstests*im Kapitel Diagnostik.

8.3. Online-Selbsttests

ADxS.org bietet einen Depression-Onlinetest zur Differentialdiagnostik. Dieser dauert gut 10 Minuten. Er dient dazu, erste Hinweise zu geben um eine mögliche Depression von einer möglichen ADHS-Störung abzugrenzen.

Online-Differential-Test Depression (85 Fragen)

Im Internet finden sich weiter z.B.:

9. Differentialdiagnostik von Depression und ADHS

Dysphorie bei Inaktivität ist ein originäres Symptom von ADHS. Tritt die Dysphorie bei Aktivität nicht auf oder ist Dysphorie stark interessengesteuert, sind dies deutliche Zeichen gegen Depression und für ADHS. Ist die Dysphorie dagegen unabhängig von der Aktivität und vom Interesse an der Aktivität und durchgehend vorhanden spricht dies unserer Ansicht nach eher für Depression. Damit ist nicht die stimmungsaufhellende Folge von Bewegung gemeint, die störungsunabhängig auftritt.

Differentialdiagnostik ADHS/Depression

Tabelle (modifiziert) nach Burleson Daviss (2018) Moodiness in ADHD – A Clinicians Guide, S. 95

Symptom ADHS Depression
Aufmerksamkeitsprobleme D D
Hyperaktivität / motorische Unruhe D (bei ADHS-HI, ADHS-C) D (bei agitierter Depression)
Impulsivität D (bei ADHS-HI, ADHS-C)
Anhaltende depressive Stimmung nicht anhaltend, nur bei Inaktivität D
Stimmungsschwankungen b, n b, n
Gereiztheit b, n D, n
Langeweile b (unserer Ansicht nach eher selten) D
Anhedonie b D
Hypersomnie n D, n
Schlaflosigkeit b, n D, n
Verminderter Appetit n D, n
Geschwätzigkeit D (bei ADHS-HI, ADHS-C)
Geringe Energie / psychomotorische Retardierung n D, n
Geringes Selbstwertgefühl b D
Wertlosigkeit / Exzessive Schuldgefühle D
Hoffnungslosigkeit D
Selbstmordgedanken oder -verhalten D
Überschätzung eigener Fähigkeiten b D
Psychotische Symptome b
Psychosoziale Beeinträchtigung D D

D = diagnostische Symptome

b = behandlungsrelevante Symptome

n = mögliche Nebenwirkung von Störungsspezifischen Medikamenten

Etwa 50 % aller schwer depressiven Patienten zeigen einen erhöhten basalen Tagescortisolspiegel (überaktive HPA-Achse). Etwa 35 % sind Nonsuppressoren beim Dexamethasontest.262728

Bei Burnout ist dagegen der Tagescortisolspiegel deutlich niedriger, das Morgencortisolhoch (CAR) entfällt und der Tagesverlauf ist insgesamt abgeflacht.29. Dies zeigt den Zusammenbruch des cortisolergen Systems in den letzten Stressphasen. Mehr hierzu unter Zusammenbruch des Cortisolystems über die Stressphasen im Beitrag Die Stresssysteme des Menschen – Grundlagen von Stress im Kapitel Stress,


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  11. S-3-Leitlinien zur Depression 2015, Kapitel 2

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