Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
Vorwort:
ADHS hat viele verschiedene Ursachen, die teils alternativ, teils kumulativ auftreten.
Eine dieser Ursachen und einer der Mechanismen, durch die ADHS wirkt, ist eine Störung der Stresssysteme. Man kann ADHS (auch) als eine chronifizierte Stressregulationsstörung betrachten, was jedoch nur einen Teilaspekt von ADHS darstellt und nur eine kleine Anzahl der ADHS-Fälle erfasst.
Mit der Erörterung des Anteils der Stresssysteme, insbesondere der HPA-Achse, an der Entstehung und Vermittlung von ADHS-Symptomen, stellen wir die aktuelle Fachliteratur zu ADHS in keiner Weise infrage. Wir sehen unsere Überlegungen als ergänzende Beleuchtung eines einzelnen Aspekts. Insbesondere ergibt sich daraus keine Ableitung irgendwelcher “alternativer Heilmethoden”.
“Es ist von großer Bedeutung, zu verstehen, in welchem Ausmaß die HPA-Achse eine Rolle in der Pathogenese von ADHS-HI spielt, da sie Wege im Körper beeinflusst, die bei ADHS-Patienten oft abweichend verlaufen, wie zum Beispiel: Zirkadianer Rhythmus, Schlaf und Emotionen.”
“Tier- wie Humanstudien ergaben, dass pränataler mütterlicher Stress das Gehirn und das Verhalten der Nachkommenschaft beeinflusst. Stressige Lebensereignisse, die Exposition gegenüber einer Naturkatastrophe und die Symptome mütterlicher Angst und Depression erhöhen das Risiko, dass das Kind im späteren Leben eine Reihe emotionaler, verhaltensbezogener und/oder kognitiver Probleme hat. Dazu gehören Depressionen, Angstzustände, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und/oder Verhaltensstörungen. … Studien über die biologischen Korrelate und Vermittler dieser Befunde legen nahe, dass die HPA-Achse bei der Vermittlung der Auswirkungen von mütterlichem Stress auf das fetale Gehirn eine Rolle spielt.”
ADHS kann aus vielen verschiedenen Ursachen resultieren. Nach unserer Hypothese ist eine Möglichkeit davon eine Störung der Stressregulationssysteme und hier insbesondere der HPA-Achse. Es dürften kaum berechtigte Zweifel daran bestehen, dass die Stresssysteme, insbesondere die HPA-Achse, eng mit den bei ADHS betroffenen zentralen dopaminergen und noradrenergen Neurotransmittersystemen verknüpft sind.
“Das [Stress-]System aktiviert auch (akut und vorübergehend) das mesolimbische, dopaminerge Belohnungssystem (das das VTA mit dem Nucleus accumbens verbindet) und das mesokortikale, dopaminerge System (welches das ventrale Tegmentum mit dem Frontal-Präfrontal-Lappen verbindet), während es von letzterem hemmenden Input erhält.” Ähnlich äußern sich weitere Quellen.
“Die Aktivierung des Stresssystems stimuliert die Erregung und unterdrückt den Schlaf; umgekehrt ist der Schlafverlust mit der Hemmung des Stresssystems verbunden.”
ADHS-Symptome werden nach unserem Verständnis auf die gleiche Weise hervorgerufen wie (die entsprechenden) Symptome von schwerem chronischem Stress: durch einen (Wirkungs-)Mangel von Dopamin und Noradrenalin in bestimmten Gehirnregionen, vornehmlich dem dlPFC und dem Striatum. (Natürlich ist die Verkürzung auf verringerte Dopamin- und Noradrenalinspiegel in PFC und Striatum eine Vereinfachung. Es dürfte sich gleichwohl um die wichtigsten Faktoren handeln.)
Dennoch ist ADHS etwas anderes als chronischer Stress, denn ADHS bleibt auch, wenn der Stressor geht.
ADHS kann aus mehreren zusammenwirkenden Faktoren entstehen:
- rein genetisch durch ein Zusammentreffen von Genvarianten, die bestimmte Einflüsse im Gehirn bewirken (insbesondere eine Verringerung des Dopaminspiegels oder der Dopaminwirkung im PFC und im Striatum.) Diese Faktoren sind angeboren und unveränderlich.
- epigenetisch durch Umwelteinflüsse auf Vorfahren, die die Aktivität von Genen beeinflussen und die über 2 bis 4 Generationen vererblich sind. Beispielsweise bewirkt Nikotinkonsum von Vätern oder Müttern vor der Zeugung solche epigenetische Veränderungen, die den Kindern über 2 bis 4 Generationen vererbt werden. ⇒ Nikotinkonsum des Vaters vor der Zeugung
- Umwelteinflüsse (insbesondere frühkindlicher Stress = first hit, sowie gegebenenfalls weiter hinzutretender Stress im Jugendalter = second hit), die die eigenen Gene epigenetisch verändern
- Es bestehen Hinweise auf die Wirkung des second hit auch hinsichtlich der Symptomschwere von ASS
- Umwelteinflüsse, die reversibel dieselben Einflüsse im Gehirn unmittelbar selbst verursachen (z.B. Blei, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Schlafstörungen etc.)
Je stärker verschiedene Faktoren dieselbe Veränderung eines Neurotransmitters (z.B. eine verringerte Wirkung eines bestimmten Transmitters) bewirken, desto stärker summieren sie sich auf und können Neurotransmittersysteme damit so weit strapazieren, dass die vielfachen Korrekturfunktionen überfordert sind. So dürfte es bei ADHS in Bezug auf das Dopamin und Noradrenalinsystem der Fall sein.
Einer der bedeutendsten Stressoren, (psychische, körperliche, sexuelle) Kindesmisshandlung, hat selbst eine erbliche Komponente. Wir interpretieren dies dahingehend, dass Eltern, die ihre Kinder misshandeln, häufig selbst unter vererblichen psychischen Belastungen leiden.
Zwillings- und Familienstudien zeigten eine Erblichkeit von
- 30 % bei Vernachlässigung
- 33 % bei emotionaler Misshandlung
- 62 % für schwere körperliche Misshandlung
- kein signifikanter genetischer Beitrag für
- körperlichen Missbrauch
- emotionale Vernachlässigung
Diese Heritabilität wird abgeleitet aus Gen-Umwelt-Korrelationen (rGE) mit unterschiedlichen Subtypen;
- passiven (d. h. familiäres Umfeld, das durch gemeinsame genetische Faktoren von Eltern und Kindern beeinflusst wird)
- evokativen/reaktiven (d. h. elterlicher Stil, der zum Teil durch erbliche Merkmale der Nachkommen verursacht wird) und
- aktiven (d. h. Auswahl spezifischer Kontexte, die durch erbliche Merkmale beeinflusst werden)
Die genetische Komponente von Kindesmisshandlung erhöhte das ADHS-Risiko um das 10-fache.
Folgende Argumente bewegen uns dazu, einen engen Zusammenhang zwischen Stressregulation und ADHS zu vermuten.
- Das Verhältnis zwischen genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen als Einfluss auf ein bestehendes ADHS kann sich bereits innerhalb weniger Jahre verändern. Wir überlegen, ob dies nicht auf einen deutlich höheren Einfluss von Umwelteinflüssen hindeutet, als bisher angenommen.
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Chronischer Stress kann je nach Stressor und Alter des Betroffenen anhaltende Einflüsse auf das Gehirn haben, die die Entstehung von ADHS unterstützen, z.B. kann Dopamin und Noradrenalin im PFC und Striatum verringert sein, was naturgemäß identische hieraus resultierende Symptome hervorruft.
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Akuter Stress wirkt den ADHS-typischen Einflussfaktoren eher entgegen, da akuter Stress Dopamin und Noradrenalin im PFC typischerweise erhöht. Dies könnte erklären, warum manche Betroffenen akuten Stress, z.B. bei der Arbeit, auch als etwas Positives erleben können, da sie dann “besser funktionieren”.
- Rein genetisch (iSv nicht epigenetisch) vererbte Genvarianten können die Aktivität der HPA-Achse dauerhaft verändern. Dies ist beispielsweise bei der Spontaneous(ly) hypertensive rat (SHR) der Fall, die u.a. als ein Modelltier für ADHS mit Hyperaktivität dient. Bei dieser lassen sich die ADHS-Symptome durch Dexamethason, das ähnlich wie Cortisol unmittelbar auf die HPA-Achse wirkt, verbessern. Dies belegt, dass auch nicht durch Umwelteinflüsse (iSv epigenetisch) veränderbare Genvarianten, die bei ADHS involviert sein können, die Stresssysteme beeinträchtigen können. In diesem Fall ist Stress weder die Ursache noch der Auslöser von ADHS, sondern die Stresssysteme sind Mittler von ADHS-Symptomen.
- Neurofeedback, Achtsamkeitstraining und Psychotherapie sind in der Lage, zwar keine vollständige Heilung, jedoch dauerhafte Verbesserungen der ADHS-Symptomatik zu bewirken. Wir wissen noch zu wenig, welche neurophysiologischen Veränderungen dadurch vermittelt werden, aber wir vermuten, dass dies auch über Veränderungen der Stresssysteme der Betroffenen erfolgt. Hier bedarf es Forschungsarbeit, um diese Annahme zu bestätigen oder zu widerlegen.
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ADHS zeigt häufig eine erhöhte Stressempfindlichkeit. Siehe hierzu unten 1.5.
- Je nach Subtyp bestehen unterschiedliche Veränderungen der Stresssysteme.
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ADHS-I (ohne Hyperaktivität) ist (wie melancholische Depression) sehr häufig von einer überschießenden endokrinen Stressreaktion gekennzeichnet. Der überhöhte Anstieg von Noradrenalin bei Stress führt zu einer Abschaltung des PFC (Blackouts, Entscheidungsunfähigkeit) während die überhöhte Cortisolstressantwort zu einer zu häufigen Abschaltung der HPA-Achse und zu einem TH1-/TH2-Shift des Immunsystems führt: weniger Entzündungen, mehr Fremdkörperbekämpfung (Allergien).
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ADHS-HI und ADHS-C sind (wie atypische und bipolare Depression) häufig von einer nicht ausreichend erhöhten (abgeflachten) endokrinen Stressantwort gekennzeichnet, bei der ein leicht erhöhter Noradrenalinspiegel nur eine Aktivierung, nicht aber eine Abschaltung des PFC bewirkt. Da Cortisol am Ende seiner Wirkung die Stresssysteme wieder herunterreguliert, löst eine zu geringe Cortisolstressantwort keine ausreichende Wiederabschaltung der HPA-Achse aus, sodass diese im Stressdauerzustand gefangen bleibt und eine dauerhafte innere Unruhe und Erholungsunfähigkeit bewirkt.
- Die unterschiedlichen Subtypen stellen nach unserer Auffassung unterschiedliche Stressphänotypen dar, also typische Muster von gemeinsam auftretenden Stresssymptomen, die dem jeweiligen Persönlichkeitsprofil des Betroffenen am ehesten entsprechen. ADHS-HI lebt Stress eher nach außen aus (externalisiert), ADHS-I frisst ihn eher in sich hinein (internalisiert).
- In völlig reizarmer Umgebung (2 Wochen Berghütte ohne Internet und elektronische Geräte) verschwinden viele (aber wohl nicht alle) Symptome von ADHS, kehren aber schon bei ganz normaler Belastung im ganz normalen Alltagsleben sofort unverändert wieder zurück.
- Es dürfte noch weitere Muster unterschiedlicher Stresssystemungleichgewichte geben, die jedoch bislang noch nicht erforscht wurden.
Mehr hierzu (samt Quellenangaben) unter ⇒ Die Subtypen von ADHS: ADHS-HI, ADHS-I, SCT und andere sowie ⇒ Die HPA-Achse / Stressregulationsachse
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ADHS zeigt Besonderheiten in der Aufmerksamkeit, die durch Hyperfokus (Taskwechselprobleme) einerseits und Ablenkbarkeit (Reizoffenheit) andererseits gekennzeichnet sind. Dieses Profil einer veränderten Aufmerksamkeit ist unter anderen Umständen nicht dysfunktional, sondern überlebensförderlich: bei starkem, (überlebens-)bedrohlichem Stress. Schwerer (überlebens-)bedrohlicher Stress verändert die Aufmerksamkeit in Richtung derjenigen Dinge, die persönlich wichtig sind. Die Motivierbarkeit ist insgesamt herabgesetzt. Die schwächere Motivierbarkeit für persönlich nicht interessante Dinge beeinträchtigt in der Folge die Aufmerksamkeitssteuerung und Aufmerksamkeitsleistung. Bei hoher persönlicher Motivation oder hohen extrinsischen Belohnungen funktionieren Aufmerksamkeit (auch Daueraufmerksamkeit!) und Aufmerksamkeitslenkung bei ADHS-Betroffenen so gut, dass sie in Tests nicht mehr zuverlässig von denen Nichtbetroffener zu unterscheiden sind.
ADHS ist nicht deshalb pathologisch, weil die Aufmerksamkeit in dieser Art verändert ist, sondern weil sie so verändert ist, ohne dass ein adäquater Stressor vorhanden ist.
- Unserer Ansicht nach sind alle ADHS-Symptome Stresssymptome. ⇒ ADHS-Symptome sind Stresssymptome Umgekehrt sind nicht alle Stresssymptome ADHS-Symptome.
Das bedeutet nicht, dass ADHS-Symptome durch akuten Stress ausgelöst werden müssten. Gerade bei ADHS werden sie das typischerweise nicht. Wie bereits erläutert, verursacht akuter Stress einen Anstieg von phasischem DA und NE in PFC und Striatum, während ADHS und bestimmter chronischer Stress eine Verringerung von phasischem und tonischem DA und NE in PFC und Striatum bewirken. Dennoch sind die hierdurch verursachten Symptome nahezu gleich. Dies liegt daran, dass zu hohe wie zu niedrige Neurotransmitterspiegel in diesen Gehirnregionen nahezu identische oder jedenfalls sehr ähnliche Symptome bewirken: die Signale, die diese Neurotransmitter vermitteln sollten, sind verändert. Diese Veränderung tritt bei einem nicht optimalen Neurotransmitterspiegel ein, also bei einem zu Hohen ebenso wie bei einem zu Niedrigen. Wenn die Symptome durch die Neurotransmitterveränderungen in PFC und Striatum vermittelt werden, die bei Stress typisch sind, wäre es denkbar, dass es eine Instanz gibt, die diese Veränderungen bei Stress initiiert. Da bei ADHS kein adäquater akuter Stressor vorliegt, wäre es denkbar, dass diese Instanz bei ADHS Stress vermittelt, ohne dass dies angebracht wäre.
Wir haben die Spontaneous(ly) hypertensive rat (SHR) erwähnt. Ihre (eindeutig definierten und nicht durch Umwelteinflüsse epigenetisch in Richtung Stressempfindlichkeit veränderten) Gene gehen mit Veränderungen der HPA-Achse einher, die ADHS-Symptome vermitteln. Die ADHS-Symptome (aber auch der Bluthochdruck) sind bei der SHR durch Dexamethason behebbar, das als selektiver Glucocorticoidrezeptor-Agonist die HPA-Achse abschaltet.
Weiter sind Stresssymptome kein Selbstzweck. Sie haben einen Nutzen. Wir nennen dies den Stressnutzen. Stressnutzen ist der Vorteil, den ein Individuum in einer tatsächlich lebensbedrohlichen Situation hat, wenn es so reagiert, wie es das Stresssymptom vermittelt.
- Beispielsweise ist die bei ADHS häufig involvierte DRD4-7R-Genvariante erst 40.000 bis 50.000 Jahre alt, die einen sehr viel unempfindlicheren D4-Dopaminrezeptor bewirkt (der hemmend wirkt, sodass bei DRD4-7R die Hemmung der Gehirnregion verringert wird). Nun ist DRD4-7R heute wesentlich häufiger, als eine normale Erbverteilung erwarten ließe. Daraus schließt die Evolutionsbiologie, dass es sich um ein ungewöhnlich erfolgreiches Gen handeln muss. Daraus könnte man die Schlussfolgerung ziehen, dass die durch DRD4-7R vermittelten Eigenschaften vorteilhaft sind. Diese Vorteile könnten jedoch von den Umständen abhängen: bei akutem Stress (viel DA) ist die Hemmung der betreffenden Gehirnregion durch eine höhere inhibierende Wirkung von D4-Rezeptoren erhöht. Bei chronischem Stress (wenig DA) ist die Hemmung verringert. In den letzten 50.000 Jahren scheinen Individuen mit dieser Veränderung erfolgreicher überlebt zu haben. Ob das für die letzten 5.000 bis 10.000 Jahre seit Sesshaftigkeit und insbesondere für die letzten hunderte Jahre seit Industrialisierung und Büroarbeit noch gilt, ist offen.
- Eine Untersuchung an 2.307 Probanden fand Korrelationen zwischen ADHS und neurophysiologischen Biomarkern für Stress.
- Meta-Analysen zu biochemischen Untersuchungen im Kindesalter fanden eine signifikante Korrelation von ADHS mit peripheren Biomarkern, die mit monoaminergen Bahnen und der HPA-Achse in Verbindung stehen.
Während ADHS (nach unserer Hypothese – auch) eine Stressregulationsstörung sein könnte, ist nicht jede Stressregulationsstörung ADHS. Auch bei anderen psychischen Störungen sind die Stresssysteme überreagibel, z.B. bei Depression oder PTSD. PTSD ist beispielsweise durch erhöhte Noradrenalinwerte im PFC gekennzeichnet, während Noradrenalin bei ADHS im PFC verringert ist. Bei Epilepsie erhöht Stress die Wahrscheinlichkeit von Anfällen.
ADHS zeigt eine ganz allgemeine Aktivierung / Deaktivierung der Stresssysteme, wobei alle ADHS-Symptome noch funktionale Stresssymptome wären, wenn sie die Reaktion auf einen adäquaten Stressor wären (den es bei ADHS jedoch nicht gibt). Dagegen sind bei z.B. Depression, Angst oder Zwang die jeweiligen Stresssymptome dysfunktional geworden.
Zur Darstellung, dass alle ADHS-Symptome Stresssymptome sind:
⇒ ADHS-Symptome sind Stresssymptome
Der Zusammenhang wird nachvollziehbar, wenn man den Nutzen von Stresssymptomen betrachtet. Stress ist ein sehr altes Steuerungsinstrument des menschlichen Organismus. In der – je nach Darstellung 100.000 bis 300.000 Jahre alten – Entwicklung des Homo sapiens wie schon bei den seit mehreren Millionen Jahren existierenden Hominiden haben sich verschiedenste Mechanismen herausgebildet, um das jeweilige Individuum vor überlebensbedrohlichen Situationen zu schützen: die Stresssysteme, von denen wir sprechen.
Mindestens 97 % seiner Zeit, bis vor 10.000 Jahren, lebte der Homo sapiens als Nomade. Die Lebensweise in Städten begann erst vor 2000 bis 3000 Jahren. Auf die jüngsten Entwicklungen von Großstadtleben und Bürojobs konnten sich unsere Stresssysteme noch nicht optimal einstellen und agieren heute noch, indem sie Symptome verursachen, die für Lebensumstände optimiert waren, als der Homo sapiens noch nicht sesshaft war.
Bezogen auf die Zeit der Hominiden hätten unsere Stresssysteme gerade einmal 1/500 ihrer Zeit zur Anpassung an die Sesshaftigkeit verwenden können. Umgerechnet auf 24 Stunden (1440 Minuten) wären das rund 2 Minuten und 50 Sekunden.
Unsere Stresssysteme haben die Aufgabe, uns beim Überlebenskampf zu unterstützen.
Wenn man den Nutzen der einzelnen Stressreaktionen betrachtet,
⇒ Stressnutzen – der überlebensfördernde Zweck von Stresssymptomen wird leicht nachvollziehbar, dass alle ADHS-Symptome funktionale (nützliche) Stresssymptome sind.
⇒ ADHS-Symptome sind Stresssymptome
Für die Diagnose von ADHS wäre es hilfreich, wenn wenigstens einzelne ADHS-Symptome nicht zugleich Symptome von (massivem) Stress wären. Dann könnte ADHS anhand dieser spezifischen Symptome von einer “bloßen” akuten Stresslage ohne chronifizierte Fehlreaktion der Stressregulationssysteme unterschieden werden. Leider konnten bisher keine derartigen ADHS-Symptome identifiziert werden, weshalb ADHS bei Kindern so schwierig von schwerem Stress abzugrenzen ist. Bei Erwachsenen fällt dies leichter, da besser erfragt werden kann, ob gerade eine Stresssituation besteht und ob die Symptome schon seit der Kindheit oder Jugend bestehen. Kinder kennen meist keine anderen Lebensumstände und können daher selbst schwer belastende Umstände nicht relativieren.
Gerade die bei ADHS typischen Kernsymptome Hyperaktivität/Impulsivität und Aufmerksamkeitsprobleme sind klassische Symptome von schwerem Stress und bei genauerer Betrachtung sehr sinnvoll und hilfreich, eine tatsächliche Bedrohung zu bekämpfen.
ADHS kennzeichnet, dass die Symptome ohne einen adäquaten Stressor auftreten.
1. ADHS-Symptome als chronifizierte Fehlregulierung der Stresssysteme¶
ADHS entsteht meist durch ein Zusammentreffen mehrerer Komponenten:
- starke genetische Prägung und/oder
- genetische Disposition plus frühkindliche Stresserfahrung.
1.1. Gendisposition¶
ADHS hat eine starke genetische Komponente von 70 bis 80 %. Die Vererblichkeit von ADHS ist damit größer als die von Intelligenz. Dennoch können bisher nur 5 % der genetischen Heritabilität auf konkrete Genvarianten zurückgeführt werden.
⇒ Genetische und epigenetische Ursachen von ADHS.
Dies könnte auch daran liegen, dass nur bei einem Teil der Betroffenen eine rein genetische Ursache besteht, während bei anderen nur eine genetische Disposition vorhanden ist, die erst durch hinzutretende Umwelteinflüsse manifestiert werden muss.
1.2. Frühkindliche Stresserfahrung¶
Tritt zu einer bestehenden Gendisposition eine frühkindliche Stresserfahrung hinzu, können sich die ADHS-Genkandidaten epigenetisch so verändern, dass sich nunmehr ADHS manifestiert.
⇒ Wie ADHS entsteht: Gene oder Gene + Umwelt.
Epigenetik bedeutet, dass (intensive) Erfahrungen im Leben Veränderungen der Genexpressionen bewirken: die Gene wirken dann stärker oder schwächer auf die von ihnen gesteuerten Mechanismen. Diese erworbenen Veränderungen können wiederum weitervererbt werden. ⇒ Wie ADHS entsteht: Gene + Umwelt – Kapitel Epigenetik
Frühkindlicher Stress kann dauerhafte Schädigungen von Neurotransmittersystemen (z.B. des dopaminergen Systems) und der physiologischen Stresssysteme (HPA-Achse, Vegetatives Nervensystem) bewirken. Langanhaltender oder besonderes intensiver kurzzeitiger (traumatisierender) Stress bewirkt zwar ebenfalls gravierende Schäden an den Stresssystemen. Für ADHS sind die frühkindlichen Stresserfahrungen deshalb bedeutsamer, weil in dieser Zeit die Stresssysteme gerade erst entstehen. ⇒ Stressschäden – Auswirkungen von frühkindlichem und/oder lang anhaltendem Stress
Schließlich führt lang anhaltender cortisolerger Stress zu neurologischen Schäden an den Stressregulationssystemen, z.B. der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse, Stressachse).
⇒ Die HPA-Achse / Stressregulationsachse
Cortisol ist kurzfristig aktivierend, langfristig jedoch neurotoxisch. Bei zu lang andauerndem cortisolergem Stress ergeben sich verschiedene neurologische Fehladaptionen.
⇒ Stressschäden – Auswirkungen von frühkindlichem und/oder lang anhaltendem Stress
Die Ätiologie (Gendisposition plus eine diese aktivierende frühkindliche Stresserfahrung) ist keine Eigenart von ADHS, sondern wird von fast allen psychischen Störungen berichtet. ⇒ Gendisposition und frühkindlicher Stress als Ursache anderer psychischen Störungen Spezifisch für ADHS ist jedoch die allgemeine Überreagibilität der Stressregulationssysteme.
ADHS-Symptome wie Hyperaktivität und Aggressivität werden auch als ein aus dem Säuglingsalter persistierender Moro-Reflex als Folge frühkindlicher Störungen der Entwicklung des zentralen Nervensystems beschrieben. Die unterschiedliche Bezeichnung dürfte an der Ätiologie nichts ändern.
Diese Fehladaptionen führen zu den eingangs und in den dort genannten Beiträgen vertieft dargelegten spezifischen Folgen bei ADHS-HI und ADHS-C einerseits und ADHS-I-Subtyp andererseits.
1.3. Fehlanpassungen der Neurotransmitter- und Hormonsysteme; Downregulation, Upregulation¶
Stress-Symptome werden durch Stresshormone, vornehmlich CRH, ACTH und Cortisol, vermittelt. Die HPA-Achse, die diese Stresshormone freisetzt, wird durch einen durch das limbische System vermittelten massiven Anstieg von Neurotransmittern im Gehirn, allen voran Dopamin und Noradrenalin, aktiviert.
Von der Aktivierung der HPA-Achse sind die Ursachen einzelner Symptome zu unterscheiden.
Stresssymptome können durch jede Abweichung eines Neurotransmitter- oder Hormonspiegels vom für die Signalübermittlung optimalen Maß vermittelt werden – also durch eine Abweichung nach oben genauso wie durch eine nach unten (Yerkes-Dodson-Gesetz).
1.3.1. Wie Stress normalerweise entsteht¶
Die Mechanismen, über die akuter Stress bei Nichtbetroffenen vermittelt wird, sind:
- der phasische Noradrenalinspiegel und Dopaminspiegel im PFC steigen an.
Dies bewirkt, dass
- sich der Dopaminspiegel im Striatum verringert
- die HPA-Stress-Achse aktiviert wird,
- was die Stresshormone CRH, ACTH und Cortisol ansteigen lässt,
- die dann gemeinsam die Stresssymptome auslösen.
-
Cortisol – als zeitlich letztes ausgeschüttetes Hormon – beendet die Stressreaktion der HPA-Achse wieder. Cortisol verringert den Dopaminspiegel und erhöht den Noradrenalinspiegel im Locus coeruleus, im PFC sowie im Striatum. Die bei ADHS weithin bekannte Verringerung des Dopaminspiegels im Striatum ist mithin zugleich eine Folge von Stress.
1.3.2. Was ADHS von allgemeinem Stress unterscheidet¶
ADHS ist keine Folge von akutem Stress, sondern von chronischem Stress. ADHS ist gekennzeichnet durch
- fehlregulierte Stressregulationssysteme, die aufgrund zu früher und langer Stressbelastung u.a. mittels Down- oder Upregulation der Rezeptorsysteme die dopaminergen und noradrenergen Neurotransmittersysteme beeinträchtigt haben.
Mehr hierzu unter ⇒ Schadensmechanismen von langanhaltendem Stress: Downregulation / Upregulation (in: Stressschäden durch frühkindlichen und/oder langanhaltenden Stress)
- Bei ADHS sind vermutlich zu viele Dopamintransporter (insbesondere im Striatum) ausgebildet. Dies kann entweder Folge einer genetischen Prägung sein (die mit ADHS assoziierte Genvariante DAT1 10/10 bildet mehr Dopamintransporter aus) oder könnte möglicherweise Folge einer Upregulation aufgrund langanhaltend verringerter tonischer Dopaminspiegel im Striatum: Dopaminmangel korreliert mit einer Erhöhung der Anzahl der Dopamintransporter.
Das Stresshormon Cortisol löst einen verringerten Dopaminspiegel im Striatum aus. Lang andauernder Stress kann zu dauerhaft verringertem Dopaminspiegel im Striatum und nachfolgend zu der dargestellten Upregulation der DAT führen.
- Bei ADHS-HI (mit Hyperaktivität) scheinen im cingulären Cortex die Dopaminrezeptoren herunterreguliert zu sein. Eine Downregulation könnte auf ein Überangebot an Dopamin im cingulären Cortex hindeuten. ADHS ist allerdings durch einen dauerhaft verringerten Dopaminspiegel im PFC gekennzeichnet. Denkbar wäre allenfalls, dass die Rezeptordownregulation bereits durch früheren chronischen Stress ausgelöst wurde, der noch mit erhöhten Dopaminspiegeln verbunden war. Ähnliche Veränderungen gibt es bei den tonischen (basalen) Cortisolspiegeln bei chronischem Stress.
- eine allgemeine, unspezifische Übererregbarkeit
In der Folge sind die Stresssysteme bei ADHS auch ohne konkreten Stressor fehlreguliert – sei es, dass sie zu schnell anspringen und zu intensiv reagieren (ADHS-I) oder nicht mehr abschalten (ADHS-HI), siehe oben.
Kurzfristiger Stress (hier: des letzten Monats) hat keine Auswirkung auf ADHS.
1.4. Die Stresssysteme des Menschen¶
Die verschiedenen Stresssysteme des Menschen (Amygdala, Zentrales Nervensystem, Vegetatives Nervensystem, HPA-Achse) werden detailliert dargestellt unter ⇒ Die Stresssysteme des Menschen.
1.5. Subjektive Stressreaktion bei ADHS erhöht¶
Zusätzlich zu den biologischen / neurologischen Veränderungen der verschiedenen Stresssysteme des Menschen bei ADHS unterscheidet sich die subjektive Wahrnehmungsintensität der Stressreaktion signifikant und reproduzierbar. Dieselbe Cortisolerhöhung führt bei ADHS-Betroffenen zu einer stärkeren Stresswahrnehmung als bei Nichtbetroffenen.
ADHS-Betroffene haben eine stärkere psychophysiologische Reaktion auf denselben Stress wie Nichtbetroffene, z.B. eine größere Prüfungsangst.
Dies ist besonders vor dem Hintergrund interessant, dass bei gesunden Menschen die Cortisol- und ACTH-Stressantwort nur mäßig mit der subjektiven Stressempfindung korreliert – eine Metaanalyse fand nur in 25 % von 49 Untersuchungen eine Korrelation von 0,3 bis 0,5. Immerhin zwei Drittel der Untersuchungen fanden einen Zusammenhang zwischen Cortisolstressantwort oder ACTH-Stressantwort und subjektivem Stressempfinden.
Die subjektive Stresserfahrung scheint eher mit der physiologischen (Cortisol-)Stressreaktion während der akuten Stresssituation selbst als mit derjenigen vor oder nach dem akuten Stress zu korrelieren.
ADHS-Betroffene zeigen eine maladaptive Reaktion auf Stress. Die Schwere des ADHS korreliert mit stärkerer Stressübertragung und höherem negativen Affekt. Die Stressübertragung und die mittleren Werte des negativen Affekts vermitteln den Zusammenhang zwischen ADHS-HI-Merkmalen und internalisierenden Problemen.
2. Stress-Biomarker von ADHS¶
In einer Untersuchung wurden verschiedene Immunsystem-Biomarker von unmedikamentierten ADHS-Betroffenen und Nichtbetroffenen verglichen. Die bei verschiedenen Biomarkern gefundenen Hinweise auf Veränderungen im Vergleich zu Nichtbetroffenen werden nachfolgend jeweils in Klammer dargestellt. Bedauerlicherweise differenziert die Untersuchung nicht nach Subtypen. Wir vermuten, dass die Ergebnisse sich zwischen den Subtypen sehr unterscheiden dürften.
- Erythrozytenglutathion (GSH) (ERHÖHT)
- Plasmalipid-lösliche Antioxidantien
- Retinol
- α-Tocopherol
- γ-Tocopherol
- Retinylpalmitat (ERHÖHT)
- β-Carotin
- Coenzym Q10
- Plasma-Malondialdehyd (MDA) (im Plasma ERHÖHT)
- Zytokine im Blut
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IL-1β
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IL-5 (VERRINGERT)
-
IL-6
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IL-8
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IL-10
- Tumornekrosefaktor (TNF)
- Interferon (INF) -γ
- Immunglobuline
- IgE (ERHÖHT)
- IgG (ERHÖHT)
- IgM
- 8-Hydroxy-2′-desoxyguanosin (8-OHdG) im Urin (ERHÖHT)
Eine weitere Studie fand bei erwachsenen ADHS-Betroffenen:
- Gesamtthiolwert verringert
- nativer Thiolwert verringert
- Disulfidwerte erhöht
- 8-OHdG- Werte erhöht
- 8-OHdG gilt als Marker für DNA-Schäden
3. ADHS-Symptome sind Stresssymptome¶
Wenn man die Liste der allgemeinen Stresssymptome mit den typischen Symptomen von ADHS vergleicht, stellt man fest, dass fast alle typische Symptome von ADHS zugleich typische Stressreaktionen sind. Dagegen sind nicht alle Stresssymptome, die es gibt, zugleich ADHS-Symptome. ⇒ ADHS-Symptome sind Stresssymptome ADHS hat zwar eine sehr breite Palette an Symptomen, doch liegt der Schwerpunkt auf emotionalen, kognitiven und motorischen Stresssymptomen. ADHS äußert sich auffallend wenig in somatischen (körperlichen) Stresssymptomen.
Andersherum kann ebenso gesagt werden: unkontrollierbarer (cortisolerger) Stress löst Symptome aus, die mit ADHS-Symptomen identisch sind.
Damit erklärt sich beispielsweise, warum Kinder, die gemobbt werden (z.B. unerkannt Hochbegabte, wenn sie aufgrund schlechter Sozialkompetenzen ihr “anders sein” nicht kompensieren können), von ADHS-Betroffenen zunächst kaum zu unterscheiden sind: es ist eben dieser selbstwertbedrohende Stress, der über die HPA-Achse nahezu identische Symptome verursacht. Ein unverstandenes “nicht dazu gehören” und “anders sein” bedroht dabei den Selbstwert wesentlich mehr als die für unerkannt Hochbegabte tatsächlich häufig bestehende Langeweile, einerseits durch Unterforderung und andererseits, weil Hochbegabte (genauso wie ADHS-Betroffene) extrinsisch deutlich schwerer motivierbar sind.
Das führt zu der Frage: wenn alle ADHS-Symptome auch von Stress ausgelöst werden – was ist dann ADHS? Gibt es ADHS denn überhaupt oder haben die Betroffenen “nur” zu viel Stress?
Die Antwort ist:
- Stresssymptome werden durch Abweichungen von Neurotransmitterspiegeln vom optimalen, moderaten Mittelwert ausgelöst. Bei akutem Stress sind z.B. die phasischen Dopamin- und Noradrenalinspiegel im PFC erhöht. Dies bewirkt eine Dysfunktion z.B. des Arbeitsgedächtnisses im dlPFC.
Bei chronischem Stress erfolgt eine langfristige Dysregulation der tonischen Neurotransmittersysteme, die – je nach Stressor und Betroffenem – dauerhaft erhöhte oder dauerhaft verringert sein können. Je nachdem, in welcher Gehirnregion welche Neurotransmitter eine langfristige Up- oder Downregulation erleben, ergeben sich unterschiedliche Risiken für unterschiedliche psychische Störungsbilder. ADHS ist die Folge einer dauerhaften Verringerung von Dopamin und Noradrenalin im PFC und Striatum. Gene, die von Umwelteinflüssen unverändert bleiben, haben hier ausgleichenden oder verstärkenden Charakter (wie z.B. DRD4-7R, das Dopamin D4-Rezeptoren unempfindlicher macht, sodass sie 3-mal so viel Dopamin benötigen wie bei anderen DRD4-Genvarianten). Würde ein Mensch mit DRD4-7R eine Upregulation von Dopamin und Noradrenalin im PFC erleiden, würde dies aufgrund von DRD4-7R nicht so schwer ins Gewicht fallen, wie bei jemandem, der eine Downregulation erleidet.
Die Symptome des dysfunktionalen Arbeitsgedächtnisses (Desorganisation, beeinträchtigte Exekutivfunktionen) werden neurophysiologisch bei ADHS durch verringerte Dopamin- und Noradrenalinspiegel im dlPFC verursacht, bei akutem Stress durch überhöhte Dopamin- und Noradrenalinspiegel. Bei überhöhten Noradrenalinwerten tritt eine Abschaltung des PFC hinzu, bei abgeflachten Dopaminwerten nicht – der PFC bleibt selbst bei Stress im Dauerlauf. Dies erklärt die unterschiedliche Symptomatik bei ADHS-HI und ADHS-I. SCT, das nach seiner Symptomatik besonders von PFC-Abschaltung betroffen sein könnte, müsste, wenn unsere Hypothese zutrifft, mit besonderes hohen Noradrenalinwerte im PFC korrelieren. Dies könnte erklären, warum Stimulanzien bei SCT schlechter wirken – diese erhöhen Dopamin und Noradrenalin im PFC.
- Menschen, die aufgrund von akutem oder chronischem Stress Symptome entwickeln, die wie ADHS-Symptome scheinen, müssen deshalb noch kein ADHS haben. Wenn die Symptome nach Wegfall der Überlastung wieder verschwinden, liegt kein ADHS vor. Bei ADHS genügen bereits recht “normale” Lebensumstände ohne eine besondere Belastung. um massive Stresssymptome zu verursachen.
Bei ersteren handelt es sich um reine Stresssymptome aufgrund von akuter Überlastung, bei letzteren um eine chronische Überreaktion des Stressregulationssystems – das ist ADHS.
Stress geht mit dem Stressor – ADHS bleibt, auch ohne adäquaten Stressor.
Um ADHS von akutem Stress zu unterscheiden, wird bei der Diagnostik von ADHS ein Auftreten der Symptome in verschiedenen Lebensbereichen und ein Andauern seit der Kindes- oder Jugendzeit geprüft. Ein geringer Prozentsatz von Betroffenen (ca. 1 %) entwickelt erst nach dem 16. Lebensjahr erstmals Symptome (late onset).
Bei einer frühkindlichen langanhaltenden Stressbelastung unterliegt der Körper im Kindesalter einem lange erhöhten CRH- und Cortisolspiegel. Stresshormone wie Cortisol sind neurotoxisch, d.h. zu viel und zu langer Stress schädigt das Nervensystem. Eine der Schadensfolgen an der HPA-Achse durch frühen Stress ist eine Veränderung der Cortisolrezeptoren (Down-/Upregulation) ⇒ Schadensmechanismen von langanhaltendem Stress: Downregulation / Upregulation (in: Stressschäden durch frühen und/oder langanhaltenden Stress)
CRH und Cortisol sind dazu da, Fight/Flight/Freeze-Reaktionen auszulösen und werden im Gegensatz zu Adrenalin nur bei stark aversiven oder neuartigen Reizen ausgeschüttet. Während Adrenalin die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann, ist Cortisol hierzu in der Lage. Adrenalin wird schneller ausgeschüttet und schneller wieder abgebaut als Cortisol.
Die Folge hierauf ist, dass der Körper bereits auf geringere Mengen an Stresshormonen (z.B. CRH oder Cortisol) mit Stress reagiert. Dies dürfte die zentrale Ursache von ADHS darstellen.
Wie bereits erwähnt, wird die Tatsache, dass alle ADHS-Symptome Stresssymptome sind, plastisch greifbar, wenn man sich mit dem Nutzen von Stresssymptomen beschäftigt.
⇒ Stressnutzen – der überlebensfördernde Zweck von Stresssymptomen
ADHS hat – sehr verallgemeinert – folgende Wechselwirkungen mit Stress:
- Massiver Stress in der Kindheit (Entstehungsursache)
- aktiviert eine ggf. vorhandene genetische Disposition für ADHS
- führt zu Fehlentwicklungen der Stresssysteme wie z.B.
- verringerter Stressschwellwert
- Downregulation der Rezeptoren (Cortisol, CRH)
- unspezifische Erregung (Noradrenalin)
- Downregulation der Dopaminrezeptoren im Striatum
- Dadurch manifestiert sich eine chronische Fehlreaktivität der Stresssysteme
- In der Folge stehen ADHS-Betroffene auch ohne akuten Stressor unter Dauerstress
-
ADHS-Betroffene nehmen Stress bei gleichem Cortisolspiegel intensiver wahr als Nichtbetroffene (siehe oben 1.5.)
- Folge von Stress sind Stresssymptome
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ADHS -Symptome sind allgemeine (funktionale) Stresssymptome
4. Hohe Verwechselbarkeit von ADHS¶
Dass alle ADHS-Symptome Stresssymptome sind, erklärt zugleich, warum ADHS so leicht fehldiagnostiziert und vereinzelt auch noch angezweifelt wird. Mal wird akuter Stress mit ADHS verwechselt, mal umgekehrt. Vermeintliche ADHS-Betroffene, die ihre Beschwerden plötzlich verlieren, weil sich äußere Umstände ändern und akuter Stress entfällt, hatten kein ADHS. Das bedeutet nicht, dass auch alle anderen Menschen mit denselben Symptomen nur akuten Stress und kein ADHS hätten. Es gibt Menschen, die leiden an akutem Stress und es gibt Menschen, die leiden an ADHS.
Während bei Nichtbetroffenen die Stresssymptome wieder verschwinden, wenn der akute Stressauslöser behoben wird, wodurch bei diesen eine gesunde Belastbarkeit zurückkehrt, ist bei ADHS-Betroffenen das Stressregulationssystem dauerhaft geschädigt. Sie entwickeln die ADHS-typischen (und möglicherweise auch andere) Stresssymptome selbst dann, wenn keine Situation gegeben ist, die eine solche Stresssymptomatik rechtfertigen könnte, wenn also kein adäquater Stressor besteht.
Deshalb ist eine sorgfältige Diagnostik äußerst wichtig und darf sich nicht im Abfragen von (momentan bestehenden) Symptomen erschöpfen, sondern muss die aktuellen Lebensumstände und die Entwicklung vor deren Eintreten sorgfältig beleuchten.
Diese Zusammenhänge machen weiter klar, dass die gesamte psychologische Testdiagnostik niemals das Bestehen von ADHS belegen können wird, denn naturgemäß können Tests nur das Bestehen von Symptomen als Momentaufnahme feststellen, was jedoch noch keinen Unterschied zwischen akutem Stress und ADHS belegt.
Möglicherweise könnte ADHS subtypenspezifisch mittels des Dexamethason-/ACTH-/CRH-Tests oder anderen messbaren endokrinen Stressreaktionen von akutem Stress unterscheiden werden.
ADHS hat mithin innerhalb der psychischen Störungen eine Sonderstellung.
- Schwierige Diagnostik. ADHS wird aufgrund seiner recht allgemeinen Stresssymptomatik besonders häufig verwechselt und (unter- wie über-) fehldiagnostiziert – eben weil ADHS kein besonders eigenartiges und spezifisches Symptom hat, das eine eindeutige Diagnose erleichtert.
- Leichte Behandlung. Keine andere psychische Störung ist derart gut (akut medikamentös und langfristig therapeutisch) behandelbar.
5. ADHS und Stress: ein sich selbst verstärkendes System¶
Wir sehen in der hohen Korrelation zwischen ADHS-Symptomen und niedrigem Selbstwertgefühl bzw. depressiven Symptomen einen Hinweis darauf, dass dysfunktionale Stressregulationssysteme, die sich bei ADHS einmal aufgrund genetischer Disposition und auslösenden ungünstigen Umständen manifestiert haben, in der Folge ein sich selbst verstärkendes System bilden. Die unangenehmen Symptome von ADHS verstärken den Stress, der zusätzliche Stresssymptome hervorruft, die mit den ADHS-Symptomen deckungsgleich sein können. Es ergibt sich eine Abwärtsspirale von Stress und hierauf als Resonanz antwortenden ADHS-Symptomen, die weiteren Stress verursachen. Dieser Mechanismus wurde mehrfach beschrieben, für psychische Störungen allgemein wie für ADHS im Besonderen, unter anderem an einer großen Kohortenstudie in Schweden.
Weiterhin ist insbesondere bei ADHS-HI und ADHS-C das Symptom der Erholungsunfähigkeit stark vertreten. Erholungsunfähigkeit ist ein funktionales Stresssymptom: Es ist überlebensförderlich, sich so lange nicht dem Genuss und der Entspannung hinzugeben, wie eine überlebensbedrohende Gefahr besteht. Es ist ebenso ein originäres ADHS-Symptom des ADHS-HI- und Mischtyps.
Das ist der Grund, warum Achtsamkeitstechniken (z.B. Yoga, Meditation, ChiGong etc.) insbesondere von ADHS-HI-Betroffenen als äußerst aversiv wahrgenommen werden. Damit nimmt der Stress den Betroffenen die Möglichkeit, den Stress durch Entspannungs- und Achtsamkeitstechniken zu reduzieren.
Gleiches gilt für das Symptom der Dysphorie bei Inaktivität. Auch dieses Symptom zielt darauf ab, dass der Betreffende aktiv bleibt, um den Stressor zu bekämpfen. Ist jedoch, wie bei ADHS, kein adäquater Stressor vorhanden, ist das Stresssymptom sinnlos.
Zwischen negativen Lebensereignissen und psychischen Erkrankungen besteht ein bidirektionaler Zusammenhang.
Ausgeprägtes ADHS verursacht weitere negative Lebensereignisse.
Am stärksten mit negativen Lebensereignissen korrelieren
- Schwere der ADHS-HI-Ausprägung
- weibliches Geschlecht
- niedriger sozioökonomischer Status und
- komorbide emotionale Störungen
Die Schwere der Ausprägung einer ADHS-HI korreliert stärker mit kürzlich eingetretenen negativen Lebensereignissen als mit der Ausprägung weiterer komorbider Störungen.
Eine Untersuchung der Stressbelastung von Kindern mit ADHS fand, dass starke Stressbelastung in der Kindheit und Jugend mit schwerem ADHS-HI- bzw. ADHS-I-Verlauf bis ins Erwachsenenalter einherging, während Kinder mit einer schwachen Stressbelastung häufig ein remittierendes ADHS (ADHS-HI wie ADHS-I) zeigten. Eine schwedische Kohortenstudie bestätigt dies.
Als Stressoren in der Jugend, die ein persistierendes ADHS prophezeien, wurden genannt:
-
chronische Krankheiten
- Behinderungen des Kindes
- Behinderungen eines anderen unmittelbaren Familienmitglieds
- hoher Arbeitsdruck in der Schule
- Probleme zu Hause
- Nachbarschaftsprobleme
- Arbeitslosigkeit
- finanzielle Schwierigkeiten
- weniger Freunde als das Kind haben möchte
- Mobbing
- anhaltende Konflikte mit Familienmitgliedern
- anhaltende Konflikte mit einer Person außerhalb der Familie
- Familienmitglieder mit anhaltenden Konflikten
6. Der Unterschied: Stress geht mit dem Stressor, ADHS bleibt¶
Stress hat gegenüber ADHS den “Vorteil”, dass er auch einmal wieder enden kann. Mit dem Ende der Stressbelastung verschwinden bei gesunden Menschen zugleich die Stresssymptome.
Auch ADHS kann man scheinbar “loswerden”, indem man sich in eine komplett reizarme Umgebung zurückzieht. ADHS-Betroffene verlieren ihre Symptome, wenn sie mehrere Wochen auf einer abgeschiedenen Berghütte verbracht haben (ohne Handy und Internet).
Der Unterschied zeigt sich, wenn beide in eine normale Lebensumgebung zurückkehren, die keine besonderen Stressauslöser beinhalten. Dem Nichtbetroffenen wird es weiter gut gehen, während der ADHS-Betroffene unmittelbar das alte Symptombild entwickelt.
7. ADHS-Komorbiditäten als dysfunktionale Stresssymptome¶
Die häufigsten Komorbiditäten von ADHS sind
- Angst- / Panikzustände
- Depressionen
- Zwänge
- Sucht
All diese Phänomene sind in ihren Grundformen ebenfalls typische Stresssymptome.
Doch hier wird bereits deutlich: auch wenn Dysphorie bei Inaktivität eine (bei tatsächlicher Bedrohung) hilfreiche Stressreaktion ist, ist offensichtlich, dass Depressionen, Zwangsstörungen und Angstzuständen weit mehr zugrunde liegt als ein momentaner, akuter Stresszustand. Bei derartigen Störungen sind einzelne, spezifische Stresssymptome außer Kontrolle geraten (dysfunktional geworden), während bei ADHS das Gleichgewicht zwischen den Stresssymptomen (im Sinne einer “gesunden” Stressreaktion unter der Annahme einer bestehenden Gefahr) noch weitgehend gewahrt ist. Bei ADHS ist der Zustand gestört (dass Stress besteht, obwohl kein entsprechender Stressor vorhanden ist), während die Stressreaktion selbst physiologisch weitgehend korrekt arbeitet.
Akuter cortisolerger Stress kann die Stresssymptome verursachen, die denjenigen von ADHS entsprechen, nicht jedoch ohne weiteres Symptome einer schweren Depression oder schweren zwanghaften Verhaltens.
Es ist allerdings erwiesen, dass einerseits Depressionen durch lang anhaltender Stress verursacht werden können – und andererseits, dass Depressive sich in einem Zustand erhöhten Dauerstresses befinden. Frühkindliche Stressbelastung in Verbindung mit der für Depressionen relevanten genetischen Disposition führt zu einer hohen Depressionsanfälligkeit.
⇒ Wie ADHS entsteht: Gene + Umwelt
Bis hierher decken sich auslösende Ursache und fortwirkende Wirkungsweise von Depression und ADHS. Bei Depressionen hält ein Mangel an Serotonin, einem Hormon, das dem Stressabbau dient, den erhöhten Dauerstresszustand aufrecht. Bei ADHS ist vornehmlich der Dopaminhaushalt, in zweiter Linie der Noradrenalinhaushalt sowie daneben, wenn auch leichter, der Acetylcholinhaushalt und der Serotoninhaushalt (Stichwort: Dysphorie bei Inaktivität) verändert.
Stress inhibiert zudem den Melatoninhaushalt, der normalerweise Stresszuständen entgegenwirkt.
8. Korrelation von Stressempfindlichkeit und ADHS im Tiermodell¶
Die Spontaneous(ly) hypertensive rat (SHR) ist eine genetisch selektierte Ratte, die als Tiermodell für ADHS-HI und Bluthochdruck gilt.
Die Tiere besitzen Gene, durch die sie (ohne frühkindliche Stresserfahrung) im Alter von 15 Monaten Bluthochdruck entwickeln. Gleichzeitig gelten sie in der ADHS-Forschung als wissenschaftliches Tiermodell für ADHS-HI (mit Hyperaktivität).
Mit zunehmendem Alter und parallel zum zunehmenden Bluthochdruck wird bei den Tieren eine ansteigende Empfindlichkeit der HPA-Achse auf Stress beobachtet.
Die ADHS-Symptome wie auch der Bluthochdruck sind bei der SHR durch gezielte Behandlung der HPA-Achse mit Dexamethason behebbar.
Leider ist anzunehmen, dass die Mechanismen zur Behebung des ADHS bei der SHR nur bei der (fixen) genetischen Konstellation, wie sie bei der SHR vorliegt, zuverlässig funktioniert. Diese Behandlungsmethode ist daher – auch aus wissenschaftlicher Sicht – nicht 1:1 auf die Behandlung anderer genetischer Konstellationen oder auf alle ADHS-Betroffenen übertragbar. Bei denjenigen, deren ADHS-Symptome auf genau diesem neurophysiologischen Weg zustande kommen, könnten sie jedoch anwendbar sein.
⇒ Spontaneous hypertensive rat (SHR)