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Psychische und psychiatrische Störungen

Psychische und psychiatrische Störungen

Autor: Ulrich Brennecke
Review 08/2024: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero

2.5.1. Angststörungen (Jahresprävalenz: 22,9 % (Frauen), 9,7 % (Männer))

Prävalenz: 22,9 % aller Frauen, 9,7 % aller Männer innerhalb eines Jahres.12
Prävalenz bei Mädchen unter 18 Jahren: 7,85 %.3
Angststörungen bestehen komorbid bei 25 % der ADHS-Betroffenen,4 16,7 % der ADHS-betroffenen Kinder und 27,2 % der ADHS-Betroffenen Erwachsenen.5 Andere Quellen nennen 15 % bis 35 %6 bzw. 35,6 % bei Erwachsenen in England 2007.7

Leistungsängste sind besonders häufig.8

Gemeinsame Symptome von Angststörungen und ADHS:9

  • Innere Unruhe
  • Konzentrationsprobleme
  • Aufmerksamkeit verringert
  • Stimmungsschwankungen
  • Schlafprobleme

ADHS-Symptome, die für Angststörungen untypisch sind:

  • hoher Redefluss (Logorrhö, Polyphrasie)
  • Gedankenjagen, Gedankenkreisen
  • Impulsivität (untypisch für ADHS-I)
  • Beeinträchtigte Exekutivfunktion10

Symptome von Angststörungen, die für ADHS untypisch sind:

  • Fatigue
  • Muskelspannung

Angstzustände bei ADHS können teilweise die Impulsivität und die Reaktionshemmungsdefizite verringern, die Arbeitsgedächtnisdefizite verschlimmern und scheinen sich von reinen Angstzuständen qualitativ zu unterscheiden. Komorbide Angst bei ADHS hat offenbar abweichende Ausdrucksformen:611

  • erhöht scheinen
    • negativer Affekt
    • Stimmungsstörungen
    • störendes Sozialverhalten
    • Aufmerksamkeitsprobleme
    • Schulphobie
  • verringert scheinen
    • ängstliches / phobisches Verhalten
    • soziale Kompetenz
2.5.1.1. Panikstörung (3,2 bis 3,6 %)

Prävalenz Panikstörung: 3,2 % bis 3,6 %12

2.5.1.2. Generalisierte Angststörung (1,9 bis 31,1 %)

Prävalenz generalisierte Angststörung: 1,9 % bis 31,1 %12

2.5.2. Ausscheidungsstörungen (Einnässen, Einkoten) (Kinder: 18,5 %)

18,5 % der Kinder mit ADHS sind betroffen.5

2.5.3. Affektive Störungen (10 bis 17 %)

Prävalenz:
Lebenszeit: 10 % bis 17 %13
unter 18 Jahren: Mädchen 2,54 %, Jungen 1,10 %.14

Affektive Störungen werden bei 27,9 % der ADHS-betroffenen Kinder und bei 57,9 % der ADHS-betroffenen Erwachsenen beschrieben5. Weiter wird eine Prävalenz von 37,1 % für Stimmungsinstabilität und 29,9 % für Depression bei Erwachsenen in England 2007 genannt.15

2.5.3.1. Depression (10 % (Männer) 20 % (Frauen))

Eine Depression ist abzugrenzen von einer bloßer Dysphorie bei Inaktivität, die ein typisches Symptom von ADHS ist und keine Depression darstellt. Eine Behandlung mit Antidepressiva wäre hier fehlerhaft.
Ausführlich hierzu unter Depression und Dysphorie bei ADHS in diesem Kapitel.

12 % bis 50 % der Kinder mit ADHS leiden zugleich an einer Depression, was 5 Mal häufiger ist als bei Kindern ohne ADHS.6 Eine Studie an jungen erwachsenen Depressions-Betroffenen berichtet eine ADHS-Lebenszeitprävalenz von 25,9 %,16 was ebenfalls rund das fünffache ist.
Die Lebenszeitprävalenz einer Major Depression beträgt 15 %17; Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer, also Frauen 20 %, Männer 10 %.

Bei Kindern mit ADHS tritt eine emotionale Dysregulation vor einer komorbid eintretenden Depression auf.1819 Dies verwundert nicht, da emotionale Dysregulation ein originäres ADHS-Symptom ist, während Depression als komorbide Störung hinzutreten kann. Gleichwohl scheint das Maß der emotionalen Dysregulation bei Kindern mit ADHS die Wahrscheinlichkeit einer späteren Depression zu moderieren.20

Gemeinsame Symptome von Depression und ADHS:9

  • Innere Unruhe (bei atypischer Depression typisch, weniger bei melancholischer Depression)
  • Konzentrationsprobleme
  • Aufmerksamkeitsprobleme21
  • Gedächtnisprobleme21
  • Schlafprobleme
  • Tagesmüdigkeit (bei atypischer Depression typisch, bei melancholischer Depression untypisch, bei ADHS möglich)
  • negatives Selbstbild8

ADHS-Symptome, die für Depression untypisch sind:

  • schnelle Stimmungsschwankungen
  • Dysphorie nur bei Inaktivität
  • hoher Redefluss (Logorrhö, Polyphrasie)
  • Gedankenjagen, Gedankenkreisen
  • Impulsivität (untypisch für ADHS-I, untypisch für melancholische Depression)
  • Probleme mit der kognitiven Kontrolle22

Symptome von Depression, die für ADHS untypisch sind:

  • dauerhafte depressive Stimmung (auch bei Dingen, die eigentlich interessieren)
  • Stimmungstief morgens (melancholische Depression)
  • Stimmungstief abends (atypische Depression)
  • Gewichtsverlust (bei ADHS allenfalls als Nebenwirkung von Stimulanzien)
  • Verringertes Interesse an Aktivitäten (bei ADHS eher Rückzug aufgrund von erhöhter Sensiblität oder Sozialphobie)
  • Suizidale Gedanken
  • Geringes Belohnungsstreben22

Bei ADHS-Betroffenen tritt eine Depression typischerweise Jahre nach dem Auftreten der ADHS-Symptome hinzu.23 In diesem Fall muss neben der bestehenden Depression unbedingt auch das zu Grunde liegende ADHS behandelt werden, das häufig die Ursache der Depression darstellt. Andernfalls würde mit der Depression lediglich ein Folgesymptom von ADHS behandelt.242311
Rund 34 % aller behandlungsresistenten Depressionen liegt ein bis dahin unerkanntes ADHS zugrunde.

2.5.3.2. Bipolare Störung (Jahresprävalenz: 3,1 % (Frauen), 2,8 % (Männer))

Prävalenz: 3,1 % aller Frauen, 2,8 % aller Männer innerhalb eines Jahres1

Bipolare Störung ist insbesondere durch einen Wechsel zwischen depressiver und manischer Symptomatik gekennzeichnet. Die Wechsel können in unterschiedlicher Geschwindigkeit erfolgen. Nicht immer erfolgt ein Wechsel in ein Vollbild der manischen Episoden.

ADHS tritt bei Bipolar-Betroffenen überdurchschnittlich häufig auf, die Komorbidität mit ADHS ist allerdings wohl schwächer als in Bezug auf andere psychische Störungen.6 Die ADHS-Prävalenz bei Bipolar-Betroffenen unterscheidet sich nach dem Alter, in dem die bipolare Störung erstmals auftritt:25

  • Kindesalter: 80 bis 95 % haben komorbides ADHS
  • Jugend: ca. 50 % haben komorbides ADHS
  • Erwachsenenalter: ca. 25 % haben komorbides ADHS

In einer Reaktionstest-Untersuchung zeigten ADHS- wie Bipolar-Betroffene eine signifikant erhöhte Variabilität seltener langsamer Reaktionen als Kontrollen, während Bipolar-Betroffene im Vergleich zu ADHS-Betroffenen und Kontrollen eine signifikant erhöhte Geschwindigkeit und Variabilität typischer Reaktionen im Flanker-Task zeigten.26

2.5.3.2.1. Depressive Episode der bipolaren Störung

Die gemeinsamen und unterschiedlichen Symptome von depressiver Episode der bipolaren Störung und ADHS entsprechen denen von Depression und ADHS.

Sieh hierzu oben unter Depression sowie unter Depression und Dysphorie bei ADHS im Abschnitt⇒ Vertiefte Darstellung einzelner ADHS Symptome im Kapitel*⇒ Symptome.*

2.5.3.2.2. Manische Episode der bipolaren Störung

Gemeinsame Symptome von manischer Episode der bipolaren Störung und ADHS:

  • Konzentrationsprobleme9
  • Aufmerksamkeitsprobleme219
  • Gedächtnisprobleme219
  • Schlafprobleme9
  • Tagesmüdigkeit (bei atypischer Depression typisch, bei melancholischer Depression untypisch, bei ADHS möglich)9
  • schnelle Stimmungsschwankungen27 9
  • Gedankenjagen, Gedankenkreisen27 9
  • Impulsivität (untypisch für ADHS-I)279
  • Probleme zu entspannen (ADHS-HI, Bipolar in manischer Phase)27
  • Regulierung der eigenen Erregung.Innere Unruhe, Rastlosigkeit27
  • Hypersexualität25

ADHS-Symptome, die für manische Episoden untypisch sind:

  • Dysphorie nur bei Inaktivität

Symptome von Bipolar die für ADHS untypisch sind:

  • Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen

Bei ADHS sind Stimmungsschwankungen eher durch Trigger ausgelöst (reaktiv) und vergehen bei Ablenkung schnell wieder, während bipolare manische Phasen eher durchgängiger und langanhaltender sind.28

2.5.3.3. Zyklothymia (13 %)

Zyklothymia (Cyclothymie) ist ein chronisch bestehender schneller Wechsel von Stimmungen und Antrieb, ohne die Intensität der Symptome einer Bipolaren Störung zu erreichen. Es wechseln sich hypomane und depressive Phasen ab. Zyklothymia hat eine Prävalenz von 13 % in der Allgemeinbevölkerung.

Zyklothymia wurde bei 75 % aller Bipolar-Betroffenen gefunden und tritt bei ADHS und Depression deutlich erhöht auf.29

2.5.4. Umschriebene Entwicklungsstörungen (Teilleistungsstörungen) nach ICD-10 (ca. 10 bis 15 % (?))

Teilleistungsstörungen sollen (vor allem beim ADHS-I-Subtyp ohne Hyperaktivität) eine häufige Komorbidität sein.
Dyspraxie ist dagegen eine rein motorische Entwicklungsstörung, die eher mit ADHS-HI (ohne Unaufmerksamkeit) verwechselt wird.

2.5.4.1. Dyspraxie (5 bis 6 %)

Prävalenz 5 bis 6 %3031

Dyspraxie wird auch das “Syndrom des tollpatschigen Kindes” oder “Syndrom des ungeschickten Kindes” bezeichnet.
Dyspraxie ist eine Entwicklungsstörung, die das ganze Leben lang anhält.
Dyspraxie tritt sehr häufig komorbid zu ADHS oder ASS auf.
Kinder mit Dyspraxie zeigen keine Abweichungen bei der Intelligenz.

Es gibt verschiedene Formen von Dyspraxie.

2.5.4.1.1. Motorische Dyspraxie / Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF)

Probleme mit:

  • motorischer Verlangsamung
  • Gleichgewichtsprobleme
    • beeinträchtigtes Gangbild
    • Schwierigkeiten beim Anziehen im Stehen
  • Ungeschicklichkeit bei komplexen Bewegungsabläufen, die Gleichgewicht und Gewandtheit erfordern32
    • Ball fangen
    • hüpfen
    • springen
    • klettern
    • Rad fahren
    • schwimmen
    • Paartanz
  • beeinträchtigte Automatisierung feinmotorischer und grobmotorischer Tätigkeiten
    • beeinträchtigte Handschrift
      • Schwierigkeiten, den Stift mit dem richtigen Druck zu führen
      • Probleme, Grenzen des Blattes einzuhalten.
      • schreiben am Computer geht sehr viel besser
    • Probleme, Schnürsenkel oder Schleifen zu binden
    • Probleme, Knöpfe zu schließen
    • Schwierigkeiten beim Essen mit Messer und Gabel
    • Probleme, eine Figur sauber auszuschneiden
    • häufiges fallen lassen von Dingen
    • Probleme beim vorsichtigen Umgang mit Gläsern oder Geschirr
    • Schwierigkeiten beim Einschenken in Gläser
    • Probleme beim Basteln oder Verpacken von Geschenken
  • Schwierigkeit beim Erwerb neuer motorischer Fähigkeiten
  • beeinträchtigte Auge-Hand-Koordination
  • häufiges Verwechseln von rechts und links
  • Probleme mit der Reihenfolge der Kleidungsstücke beim Anziehen
  • schnelles Ermüden bei körperlicher Tätigkeit
    • Sport
    • Wandern
    • körperlich bewegtes Spielen
  • leichte Ablenkbarkeit bei Aufgaben
    • zu viele Informationen auf einem Blatt verwirren
    • verbesserte Aufgabenleistung bei größerem Zeilenabstand, größerer Schrift

Keine Probleme mit:

  • Hyperaktivität.
2.5.4.1.2. Ideomotorische Dyspraxie

Probleme mit:33

  • Ausführung des eigenen Handlungsplanes
  • Handlungen vollständig ausfüllen
  • Schreibschwierigkeiten
  • Handlungsschwierigkeiten
  • Ausführung verstandener Anweisungen beeinträchtigt
  • Reihenfolge wird leicht durcheinander gebracht
  • Beeinträchtigung eines phantasievollen oder kreativen Spiels

Keine Probleme mit:

  • Bewegungsabfolgen beschreiben
  • Fehler anderer erkennen
  • lesen
  • reden
2.5.4.1.3. Ideatorische Dyspraxie

Schwierigkeiten bei der Planung und Beschreibung motorischer Handlungen, sie haben jedoch keine motorische Einschränkung.33

Probleme mit:

  • Serien bilden (mit Merkschwäche verbunden)
  • Handlungsabfolgen beschreiben
  • Wörter lesen
  • schnell arbeiten
  • Ordnung halten

Keine Probleme mit:

  • einzelne Bewegungsabläufe nachmachen
  • Wörter schreiben
2.5.4.1.4. Verbale Dyspraxie

Ca. 30 % der Kinder mit Dyspraxie haben zugleich eine verbale Entwicklungsverzögerung = verbale Dyspraxie.34

Verbale Dyspraxie ist eine Störung der Planung der Sprechmotorik. Die Sprachorgane sind nicht beeinträchtigt (Zunge, Stimmbänder).

  • Probleme der Planung der Sprechbewegungen
  • Schwierigkeiten, die richtigen Wörter zur richtigen Zeit in der richtigen Reihenfolge auszusprechen.
  • häufiges Husten oder Verschlucken bei der Nahrungsaufnahme
    • Abfolge von saugen, schlucken und atmen erschwert
    • hohe Speichelproduktion bei Nahrungsumstellung von Brei auf feste Mahlzeiten
  • Sprachentwicklung deutlich verzögert
    • deutlich späterer Beginn, zu sprechen
    • anfangs nur wenige „Lall-Laute“
    • später häufig Vokalsprache ohne Konsonanten („Oaaaa“, „Eeea“).
  • häufig zugleich Probleme mit Grobmotorik (siehe motorische Dyspraxie)
    • stolpern
    • sich anstoßen, viele blaue Flecken
    • Lernschwierigkeiten
      • lesen
      • buchstabieren

Die Risikofaktoren für die Entstehung von Dyspraxie sind bislang noch ungeklärt. Wie bei ADHS scheinen Umwelteinflüsse während Schwangerschaft und Geburt das Risiko zu erhöhen.

2.5.4.2. Entwicklungsbezogene Koordinationsstörungen

Inwieweit sich der Begriff der Entwicklungsbezogenen Koordinationsstörungen von demjenigen der Umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen und Developmental coordination disorder (DCD) unterscheidet, ist unklar.

Es soll unterschiedliche Subtypen mit sechs Hauptsymptomgruppen geben:

  1. generelle Instabilität / leichtes Zittern
  2. verminderter Muskeltonus
  3. erhöhter Muskeltonus
  4. Unfähigkeit, eine gleichmäßige Bewegung auszuführen, bzw. einzelne Bewegungselemente in eine Gesamtbewegung zu verbinden
  5. Unfähigkeit, schriftliche Symbole zu bilden
  6. Schwierigkeiten bei der visuellen Perzeption, verbunden mit der Entwicklung der Augenmuskeln

Betroffene von Entwicklungsbezogenen Koordinationsstörungen sollen zu 50 % auch ADHS haben.

Das Risiko von ADHS ist auch bei Kindern von 4 bis 5 Jahren mit einer Developmental coordination disorder erhöht.35 Allerdings scheint die DSM-5-Skala hier seltener zu greifen.36

2.5.4.3. Teilleistungsstörungen

Die Komorbidität von ADHS und Lernstörungen wird zwischen 10 % und 90 % angegeben.6
Lernstörungen sollen mit ADHS-I häufiger als mit ADHS-HI korrelieren.37 Bei ADHS-Betroffenen sollen Schreibstörungen doppelt so häufig sein wie Lese-, Rechen- oder Rechtschreibstörungen.38

2.5.4.2.1. Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) (5 %)

Während Legasthenie eine genetisch verursachte Störung darstellt, ist eine Leseschwäche eine erworbene Störung und leichter durch Üben zu verbessern.
Legasthenie bei 17,6 % der ADHS-betroffenen Kinder vor5 und soll bei ADHS-I häufiger auftreten als bei ADHS-HI.39
Analysen neuropsychologischer Messwerte deuten darauf hin, dass ein gleichzeitige Auftreten von Legasthenie und ADHS zumindest teilweise auf Schwächen bei der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit und dem Arbeitsgedächtnis zurückzuführen sein könnte. Bei einer psychoedukativen Beurteilung von Leseschwäche sollte stets auch auf ADHS und andere emotionale und Verhaltensschwierigkeiten geachtet werden.40
Kognitive Profile sind bessere Prädiktoren für das Erreichen von Lese- und Schreibfähigkeiten als diagnostische Ergebnisse bei Kindern mit starken ADHS-Symptomen.41

2.5.4.2.2. Rechenstörung (Dyskalkulie) (5 %)

Dyskalkulie ist eine genetisch verursachte Störung, während Rechenschwäche eine erworbene Störung und leichter durch Üben zu verbessern ist.
Dyskalkulie soll bei ADHS-I häufiger auftreten als bei ADHS-HI.39

2.5.5. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, PTSD) (5 % (Männer), 10 % (Frauen))

Prävalenz: 10 % aller erwachsenen Frauen und 5 % aller erwachsenen Männer erleiden eine posttraumatische Belastungsstörung.4243
60 % aller Männer und 50 % aller Frauen haben mindestens ein potentiell traumatisierendes Erlebnis im Leben.44
Hiervon erleiden eine PTBS (PTSD):

  • Vergewaltigungsopfer: 49 %45
  • Schwere Prügel oder körperliche Angriffe: 31,9 %45
  • Verbrechensopfer: 25 %45
  • Sexuelle Übergriffe ohne Vergewaltigung: 23,7 %45
  • Schwerer Unfall (Auto oder Zug): 16,8 %45
  • Schießerei oder Messerstecherei: 15,4 %45
  • Plötzlicher Tod einer nahestehenden oder geliebten Person: 14,3 %45
  • Kindliche lebensbedrohliche Krankheit: 10,9 %45
  • Opfer potentiell traumatischer Erlebnisse ohne Verbrechen: 9,4 %45
  • Zeugen eines Mords oder eines gewalttätigen Angriffs: 7,3 %45
  • Naturkatastrophe: 3,9 %45

Schlafprobleme sind bei ADHS wie bei PTBS häufig. Bei PTBS entstehen diese oft in den ersten 2 Wochen nach dem traumatisierenden Ereignis und sind häufig von persistierenden Alpträumen geprägt,46 was für ADHS ebenfalls nicht typisch ist. Bei ADHS bestehen die Schlafstörungen dagegen meist bereits lebenslang.

Die Subskala “Posttraumatische Belastungsstörung” der Child Behavior Checklist (PTSD-CBCL) kann PTBS von ADHS gut unterscheiden.47

Während ADHS mit verringerten Dopamin- und Noradrenalinspiegel einhergeht, wird bei PTSD eine übermäßigen Noradrenalin-Freisetzung vermutet.48 Da Noradrenalin (wie Dopamin) in Form einer Inverted-U-Kurve wirkt49, könnte dies erklären, warum bei manchen Betroffenen ADHS-Medikamente (die Dopamin und Noradrenalin erhöhen) keine Verbesserung bewirken.

  • Beziehungsverhalten:
    • k-PTBS: Oft paranoid/misstrauischer Blick auf andere Menschen. Keine Angst verlassen zu werden. Ggf. bewusste Entscheidung für eine Beziehung50
    • ADHS: keine Angst vor Verlassen werden50
  • Stimmungsschwankungen:
    • k-PTBS: Kein grundsätzliches Ausagieren, aber chronifizierte Depressionen und Daueranspannung50
    • ADHS: Kann schnell wütend werden. Ärger fast immer von kurzer Dauer und nicht regelhaft auf interaktionelle Auslöser gerichtet50
  • Risikoverhalten:
    • k-PTBS: Gefahrensituationen werden nicht als solche erkannt50
    • ADHS: Innere Motiv: Spaß haben oder Entspannung durch Überreizung50

Differenzierung des Maßes der Traumatisierung durch das IES-R (Impact of Event Scale - Revised). Beispielgrafik bei Semmler.

2.5.6. Tic-Störungen, Tourette-Syndrom (1 % bis 15 %)

Quelle2

Prävalenz: 1 % im Grundschulalter (unterschiedlicher Schweregrad), 15 % im Grundschulalter (incl. leichter und vorübergehende Formen).51
Tic-Störungen liegen bei 9,5 % der ADHS-betroffenen Kinder vor.5
31 %52 bis 55 %53 der Kinder mit Tic-Störungen zeigen auch ADHS.

2.5.7. Internetsucht (3,9 %)

Prävalenz: unter Studierenden in Deutschland 3,9 % (2019) bis 7,8 % (2020, Corona-Lockdown-Jahr)54
Internetsucht wurde durch eine Studie in zwei Subtypen unterschieden: einen Subtyp, der mit Impulsivität und ADHS-HI korrelierte und einen anderen Subtyp, der mit Zwanghaftigkeit korrelierte.55

2.5.8. Störung des Sozialverhaltens / Conduct Disorder (1,5 % bis 5 %)

Quelle2

Häufige Symptome:56

  • Aggressives Verhalten
  • Lügen
  • Stehlen
  • Brandstiftung
  • Weglaufen von zu Hause und der Schule

Conduct Disorder wird in der Regel von komorbiden Störungen begleitet. Häufig sind:56

  • ADHS
    • Probleme mit der kognitiven Kontrolle22
  • Oppositionelle Trotzstörung (ODD)
    • hohes Belohnungsstreben22
  • Depression (insbesondere bei Jugendlichen)
    • geringes Belohnungsstreben22
  • Angststörung (insbesondere bei Jugendlichen)

Prävalenz: im Grundschulalter ca. 1,5 %, bei Jugendlichen ca. 5 %.57
Eine oppositionelle Störung soll bei 46,9 % der ADHS-betroffenen Kinder vorliegen, Störungen des Sozialverhaltens bei weiteren 18,5 %.5
Komorbidität zwischen ADHS-HI und der Störung des Sozialverhaltens wird je nach Studiendesign und Richtung des Zusammenhangs mit 15 bis 85 % der Fälle angegeben, insgesamt somit 4,7 fach häufiger als bei Nichtbetroffenen.58
Oppositionelles Trotzverhalten und andere Sozialstörungen werden von einzelnen Fachleuten als Subtyp von ADHS (Rage-Typ) betrachtet. Wir vermuten darin eher eine eigene Störung, die eine hohe Komorbidität zu ADHS hat.

Abgrenzung zu ADHS: Aggression bei (rein) ADHS-Betroffenen reaktiv, Verteidigungsmotiv, keine Schädigungsabsicht.5960 Aggressivität entsteht bei ADHS-Betroffenen häufig aus einer Fehleinschätzung der Situationen, wonach sie sich (vermeintlich zu recht) verteidigen. ADHS-Betroffene zeigen also eine reaktive und keine proaktive Aggressivität.61

2.5.9. Emotional instabile Persönlichkeitsstörung / Borderline-Persönlichkeitsstörung (1 - 5 % (Frauen), 1 % (Männer))

Dieser Abschnitt wurde in einen eigenen Beitrag ausgelagert: Emotional instabile Persönlichkeitsstörung / Borderline-Persönlichkeitsstörung

2.5.10. Zwangsstörung (1 bis 3 %)

Quelle2

Prävalenz: Lebenszeitprävalenz von 1 bis 3 %,6263 nach anderen Quellen 4,2 % aller Frauen, 3,5 % aller Männer innerhalb eines Jahres.1
Mädchen unter 18 Jahren: Prävalenz 0,96 %, Jungen 0,63 %.14

Olfaktorische Störungen (Störungen des Geruchsempfindens) sind bei ASS und Zwangsstörungen häufig, nicht jedoch bei ADHS.64

2.5.11. Antisoziale Persönlichkeitsstörung (0,2 - 3 %)

Quelle65

  • Hohe Impulsivität
  • Starkes Novelty Seeking / Sensation Seeking
  • Selbstbezogenheit / Egozentrik
  • mangelnde Empathie gegenüber anderen
    • nicht fühlen können, wie andere sich fühlen

Untergruppen der antisozialen Persönlichkeitsstörung:

  • impulsiver Typus
    • häufige Komorbidität zu ADHS-HI / ADHS-C
    • emotional hochempfindsam / hyperreagibel
    • erhöhte Erregbarkeit
    • hohe Impulsivität
    • reaktive Aggression – als unmittelbare Reaktion auf Auslöser
    • geringe Stresstoleranz
  • psychopathischer Typus
    • seltene Komorbidität zu ADHS-HI / ADHS-C
    • emotional unsensibel / hyporeagibel
    • aktive Aggression – zweckgerichtet, instrumentelle Gewalt
    • keine erhöhte Erregung bei Frustration
    • keine verringerte Stresstoleranz

Abgrenzung zu ADHS: Aggression bei (rein) ADHS-Betroffenen reaktiv, Verteidigungsmotiv, keine Schädigungsabsicht 59 60 Aggressivität entsteht bei ADHS-Betroffenen häufig aus einer Fehleinschätzung der Situationen, wonach sie sich (vermeintlich zu recht) verteidigen. Wir sehen darin einen Zusammenhang zu Rejection Sensitvity als überschießende Empfindlichkeit auf vermeintliche oder tatsächliche Zurückweisung / Kränkbarkeit. ADHS-Betroffene zeigen also eine reaktive und keine proaktive Aggressivität.61
ADHS-Betroffene erkennen ihre plötzliche aggressive oder verbale Entgleisungen oder Impulskontrollstörungen oft mit nur wenig Abstand als unangemessen und können sich meist entschuldigen, im Gegensatz zu Betroffenen mit psychopathischen Persönlichkeitsstrukturen.66

Gemeinsame Symptome von antisozialer Persönlichkeitsstörung und ADHS:9

  • Impulsivität (untypisch für ADHS-I)
  • schnelle Stimmungsschwankungen

ADHS-Symptome, die für antisoziale Persönlichkeitsstörung untypisch sind:

  • Innere Unruhe (bei atypischer Depression typisch, weniger bei melancholischer Depression)
  • Konzentrationsprobleme
  • Aufmerksamkeitsprobleme
  • Dysphorie bei Inaktivität
  • hoher Redefluss (Logorrhö, Polyphrasie)
  • Gedankenjagen, Gedankenkreisen

Symptome von antisozialer Persönlichkeitsstörung, die für ADHS untypisch sind:

  • Kriminelles Verhalten
  • Täuschung anderer
  • Missachtung von sich selbst und anderen
  • Mangel an Reue

2.5.12. Narzissmus (0,5 bis 2,5 %)

Prävalenz 0,5 % bis 2,5 %.

Narzissmus und ADHS teilen einige möglichen Symptome. Ähnlich sind:

2.5.13. Schizophrene Störung (1 %)

Die Lebenszeitprävalenz liegt bei ca. 1 %.67
Mädchen unter 18 Jahren: Prävalenz 0,76 %, Jungen 0,48 %.14

Schizophrenie ist hochgradig erblich (wie ADHS ca. 80 %)68 und entwickelt sich in der Regel erst nach der Jugend. Üblicherweise gehen jedoch Vorstufen aus der Kindheit voraus, die nicht der Schizophrenie selbst ähneln, sondern genetisch Schizophrenie zu indizieren scheinen.69

Die Negativ-Symptome von Schizophrenie beruhen auf Dopaminmangel. Sie ähneln den ADHS-Symptomen.
Die Positiv-Symptome beruhen dagegen auf einer übermäßige subkortikalen präsynaptischen Dopaminübertragung (Dopaminhypothese). Diese wird zwar durch antipsychotische Dopamin-D2-Rezeptor-Antagonisten verringert, bei Schizophrenie scheinen jedoch D2-/D3-Rezeptoren nur sehr gering erhöht und DAT überhaupt nicht verändert zu sein, sodass andere Medikamentierungsansätze sinnvoller sein dürften.70
Der übermäßige subkortikale Dopaminantrieb beruht wahrscheinlich auf Veränderungen der kortikalen Funktion, insbesondere der Verringerung der kortikalen NMDA-Rezeptor-vermittelten Glutamatsignalisierung, die die kortikale Dopamin- und GABA-Funktion beeinträchtigt. Diese kortikalen Veränderungen bewirken vermutlich die kognitiven Beeinträchtigungen und negativen Symptomen der Schizophrenie.68

Auch bei Schizophrenie wird ein Zusammenwirken von genetischen Faktoren, Umwelteinflüssen sowie physischen und psychologischen Faktoren als Ursache angenommen. Als Umwelteinflüsse für Schizophrenie wurden emotionale Traumata, sozialer Stress oder halluzinogene Drogen festgestellt.
Gene + frühkindlicher Stress als Ursache anderer psychischer Störungen

Das bei Schizophrenie (als eines von 50 oder mehr Kandidatengenen) involvierte COMT rs4680 verstärkt den Abbau von Dopamin und Noradrenalin, indem es ein aktiveres und thermisch stabileres COMT-Enzym bildet.71 Dies bewirkt höhere schizotypische Symptome.
Dies lässt sich mit der neuere Dopaminhypothese vereinbaren, nach der die Positivsymptome von Schizophrenie nicht durch einen allgemein erhöhten Dopaminspiegel im frontalen Cortex (und im Nucleus accumbens, einem Teil des Striatums), sondern durch eine erhöhte Aktivität (firing rate) des mesolimbischen Systems verursacht werden, die wiederum durch einen Dopaminmangel im ventralen Tegmentum hervorgerufen oder beeinflusst werden.71

Schizophrenie und Aufmerksamkeit:

  • Sensibilität für sensorische Stimulation erhöht59
  • Hochsensibilität bewirkt Reizüberflutung59
  • Aufmerksamkeitsselektion für einzelne Ereignisse gestört59
  • Konzentration / Konzentrationsaufrechterhaltung auf relevante Aspekte einer Aufgabe gestört.59

Symptome von Schizophrenie, die für ADHS untypisch sind:

  • Zeichnungen sind unräumlich, keine dreidimensionale Darstellung
  • Ironie / Sarkasmus werden nicht verstanden
  • Olfaktorische Störungen.64

2.5.14. Psychosen (1 %)

2.5.15. Autismusspektrumstörung (ASS) (0,9 %)

Quellen72732

Prävalenz ASS: ca. 0,9 %74
Wie viele ASS-Betroffene auch ADHS-Symptome zeigen, ist offen. Eine Metaanalyse von 23 Artikeln fand für ASS ohne intellektuelle Beeinträchtigung Ergebnisse von 2,6 bis 95,5 %.75 Einzelne Quellen gehen davon aus, dass rund 42 %76 bis 50 %7778 aller ASS-Betroffenen auch an ADHS leiden.
Ein Review kam zu dem Ergebnis, dass ADHS und ASS ein Kontinuum sein könnten.79
Wahrscheinlich haben ADHS und Autismus gemeinsame neurologische/genetische Wurzeln.80

  • Tiefgreifende Entwicklungsstörung
    Prävalenz: ca. 0,6 %74
  • Autismus81
    Prävalenz: ca. 0,3 %74
  • Asperger
    Prävalenz: ca. 0,084 %74
  • Desintegrative Störung81
    Prävalenz: 0,008 % (Ein Betroffener Mensch unter 12500 Menschen)74
  • Rett-Syndrom81
    Prävalenz: 0,006 % (Ein Betroffener Mensch unter 10000 bis 17000 Menschen)8274
    Betrifft nur Mädchen
    Symptome des Rett-Syndroms:82
    • Stereotypien der Hände (washing movements)
    • teilweises autistisches Verhalten
    • Demenz
    • verringertes Kopfwachstum
    • epileptische Anfälle (späteres Stadium)
    • Spastiken (späteres Stadium)
    • Apraxien
    • Muskelschwund
    • Bewegungsstörungen im Bereich des Thorax
    • Sozialverhalten und Spielentwicklung stark gehemmt
    • Sozialinteresse besteht weiter
  • ASS wie ADHS zeigen eine Downregulation von Neuroligin-Genen, die bei ASD noch ausgeprägter war.83

Differentialdiagnostik zu ADHS:

Kinder mit ASS hatten 15 oder mehr der 30 Symptome (Durchschnitt: 22 = 73 %) der Checklist for Autism Spectrum Disorder symptoms, während Kinder mit ADHS im Durchschnitt 4 Symptome hatten (13,3 %), keines davon 15 oder mehr. ADHS-Symptome waren dagegen bei Kindern mit ASS weit verbreitet.84
ADHS-betroffene Kinder zeigten erhöhte Werte im Social Responsiveness Scale (SRS), die jedoch nicht an die Werte von ASS-Betroffenen heranreichten.85

Für ASS spricht:86

  • Unaufmerksamkeit eher aufgrund zu großer Detailorientierung bei ASS (gegenüber einem Übersehen von Details bei ADHS)78
  • Konzentration bricht bei Störung von Routinen zusammen bei ASS (gegenüber fehlender Routinen und schnellem springen zwischen verschiedenen Dingen bei ADHS)
  • Unerwartetes wird eher als unangenehme Irritation und Störung der eigenen Struktur gesehen (denn als willkommene Abwechslung bei ADHS)
  • Routinen aufgrund eigenem Bedürfnis nach Struktur (gegenüber mühsames angewöhnen von Routinen, um Struktur nicht zu sehr zu verlieren bei ADHS)
  • Hohe Schwierigkeiten in sozialen Situationen aufgrund innerer Unsicherheit, wie sich richtig zu verhalten ist (gegenüber Anecken durch unbedachte Verhaltensweisen bei ADHS)
  • Schwierigkeiten, soziale Spielregeln zu erfassen (gegenüber Schwierigkeiten, die gut erfassten sozialen Spielregeln einzuhalten bei ADHS)
  • Hohe Detailverliebtheit sprengt Zeitrahmen für Tätigkeiten (gegenüber Projektabbrüchen aufgrund Interessenwechsel bei ADHS)
  • Braucht Ordnung für eigene innere Struktur, findet in Unordnung eher Dinge wieder (gegenüber Ordnung aufgrund anderer Prioritäten nicht halten können bei ADHS)
  • Abweichung vom Plan führt zu Irritation (gegenüber häufiger Abweichungen vom Plan aufgrund eigener Spontanität und Impulsivität)
  • reduzierte Flexibilität (gegenüber eher gering beeinträchtigter Flexibilität bei ADHS)
  • Konzentration kann bei längeren und repetitiven Aufgaben aufrecht erhalten werden (gegenüber Schwierigkeiten bei Aufrechterhaltung von Konzentration bei monotonen langweiligen Aufgaben bei ADHS)
  • Motorische Unruhe eher in unruhigen Situationen zum abreagieren (gegenüber motorischer Unruhe in ruhigen Situationen zum stimulieren bei ADHS)
  • Motorische Unruhe eher aus Aversion gegen etwas = weglaufen (gegenüber aus Interesse an etwas = hinlaufen bei ADHS)
  • Lockere Gespräche oder Smalltalk unbeliebt, da eigene Denkstrukturen durchkreuzt werden; zuweilen Kompensation durch strikte Gesprächsführung (bei ADHS sei dies nicht vorhanden; unserer Auffasung nach ist dies bei ADHS schon vorhanden, aber schwächer)
  • Fehlendes Gefühl für Situation und Stimmung (bei ADHS vorhanden)
  • Unterbrechen anderer selten (wie ADHS-I, anders als ADHS-HI / ADHS-C)
  • In einem eher dunklen, völlig reizarmen Raum warten zu müssen ist eine eher angenehme Vorstellung (bei ADHS-HI / ADHS-C sehr unangenehm; bei ADHS-I beides möglich)

Bei ASS scheint die intracorticale Bahnung (Fazilitation) unbeeinträchtigt, während bei ASS mit komorbidem ADHS die intracorticale Bahnung gestört zu sein scheint. Dies könnte einen Biomarker darstellen, um ASS und ADHS zu unterscheiden.87

Bahnung ist neurophysiologisch die Förderung eines Reflexes oder einer Nervenzellen-Aktivität durch das Absenken der Reizschwelle für die Weiterleitung des Aktionspotentials einer Nervenzelle. Bahnung entsteht hauptsächlich bei wiederholter Erregung derselben Nerven-Bahnen oder durch die Summierung unterschwelliger Reize.88

ASS wie ADHS zeigten gegenüber Kontrollen langsamere orientierende Reaktionen auf relativ unerwartete räumliche Zielstimuli, was bei ASS mit höheren Amplituden der Pupillenerweiterung einherging. ADHS zeigte kürzere cue-evozierte Pupillenerweiterungs-Latenzen als ASS und Kontrollen.89

Mehrere Untersuchungen befassten sich mit Unterschieden zwischen ASS und ADHS.

ASS-Symptome, die für ADHS untypisch sind:

  • geringeres verbales Verständnis bei ASS als bei ADHS90
  • geringerer Wortschatz bei ASS90
  • geringeres Verstehen bei ASS90
  • schlechtere Bildkonzepte bei ASS90
  • schlechtere Bildvervollständigung bei ASS90
  • langsamere Verarbeitungsgeschwindigkeit bei ASS90
  • geringeres soziales Urteilsvermögen bei ASS90
  • schlechtere Reaktion auf Namensruf im Alter von 24 Monaten bei ASS91
  • höheres Shifting bei ASS92
  • schlechtere emotionale Selbstregulation bei ASS92
  • ASS zeigt wie Legasthenie Defizite in der globalen Bewegungsverarbeitung, anders als ADHS. ASS und Legasthenie zeigen eine signifikant niedrigere Flimmerverschmelzungsfrequenz als gesunde Kontrollen oder ADHS-Probanden.93
  • Selbstberuhigung durch repetitives Verhalten und Routinen94
  • Beziehungsbedürfnis stark differenziert Wichtig, Sozialkontakte in Frequenz und Intensität steuern zu können. Nicht nachtragend, sondern pragmatisch.50
  • Shutdown: Erstarren und nicht mehr reagieren können.50
  • Meltdown: Offenes aggressives ausrasten, auch mit körperlichen Angriffen oder Schubsen, um eigene Grenzen zu verteidigen.50
    • hier auch zuweilen Selbstverletzendes verhalten zum Spannuingsabbau möglich50

ADHS-Symptome, die für ASS untypisch sind:

  • schlechteres Arbeitsgedächtnis typisch für bei ADHS, weniger für ASS9092
  • Aufmerksamkeitsregulierungsprobleme94
  • Planungs- und Organisationsprobleme (die maßgeblich durch das Arbeitsgedächtnis bestimmt werden) typisch für ADHS, weniger für ASS92
  • Inhibitionsprobleme typisch für ADHS, weniger bei ASS92
  • weniger Punkte im Digit Span bei ADHS als bei ASS90
  • schlechtere graphomotorische Verarbeitung bei ADHS90
  • Novelty Seeking typisch für ADHS, nicht für ASS94
  • Hyperaktivität94
  • überdurchschnittlich viele Blicke in die Augen des Gegenübers, bereits im Vergleich zu Nichtbetroffenen95
  • Risikoverhalten: Spaß durch Überreizung50

ADHS wie ASS zeigen strukturelle Anomalien im PFC, im Kleinhirn und in den Basalganglien. Betroffene mit komorbider ASS und ADHS zeigten keine signifikanten Unterschiede in den Volumina des PFC, des Kleinhirns oder den Basalganglien. Sie wiesen jedoch signifikant geringere Volumina des linken postzentralen Gyrus auf, jedoch nur Kinder, nicht aber Jugendliche.96
Ein Review verglich die katecholaminerge und cholinerge Neuromodulation bei ASS und ADHS. Die Autoren kanmen zu dem Ergebnis:97

  • Stimulanzien eine praktikable Behandlungsoption für eine (möglicherweise genetisch definierte) ASS-Subgruppe sein könnten
  • eine Störung des Kleinhirns (Cerebellum) ist bei ASS viel häufiger als bei ADHS
    • in beiden Fällen könnte dies eine Noradrenalin- oder Acetylcholin-gesteuerte Behandlungsoption eröffnen
  • ein Defizit des kortikalen Salienznetzwerks ist in Untergruppen von ASS wie ADHS beträchtlich
    • Biomarker wie die Augenblinzelrate oder pupillometrische Daten können Wirksamkeit einer gezielten Behandlung eines dem zugrunde liegenden Defizits mittels Dopamin, Noradrenalin oder Acetylcholin vorhersagen, bei ADHS wie bei ASS

ASS sei von hoher Aggression und Risikoverhalten gekennzeichnet. Darüber hinaus sei ASS überdurchschnittlich häufig bei Kindesmissbrauch involviert.98 Aggression und Hochrisikoverhalten sind auch Kennzeichen des ADHS-HI-Subtyps.

Ein Reviewartikel fand bei ADHS ca. verdoppelte, bei ASS ca. halbierte Noradrenalinwerte im Blut, im Vergleich zu Nichtbetroffenen. Der Serotoninblutspiegel war dagegen bei bei ASS um das vierfache erhöht, bei ADHS um mehr als das vierfache verringert.99

Auch bei Kindern mit ADHS war die Fähigkeit, Ironie zu erkennen, beeinträchtigt.100

2.5.16. Fragiles X – Syndrom (0,22 % (Männer) bis 0,66 % (Frauen))

Prävalenz: 1/150 (0,66 %) Frauen, 1/456 (0,22 %) Männern in den USA101
Quelle242

2.5.17. Pervasive developmental disorders (PDD) (0,06 %)

Prävalenz: 60/100.000 (0,06 %)

PDD ist gekennzeichnet durch schwere Defizite im Sozialverhalten und in der Kommunikation, sowie durch repetitive und stereotype Interessen und Verhaltensweisen. Es bestehen häufig Komorbiditäten zu verminderter Intelligenz, ADHS, Aggression und Zwangsstörungen.102

2.5.18. Wilson Disease (0,0033 %)

Wilson Disease (Prävalenz: 1 von 30.000 Menschen, 0,0033 %) geht mit überhöhten Kupferspiegeln einher.
Betroffene von Wilson Disease zeigen mit ADHS verwechselbare Symptome.103
Wilson Disease geht mit einem ATP7B-Gendefekt einher und zeigt einen Kupferüberschuss.
Obwohl Dopamin-β-Hydroxylase, die Dopamin zu Noradrenalin umwandelt, hierfür von Kupfer abhängig ist, scheint diese bei Wilsons Disease nicht involviert zu sein.

2.5.19. Monoamin-Neurotransmitterstörungen

Als Monoamin-Neurotransmitterstörungen werden genetische Defekte an Transportern oder Defizite an Vorstoffen, Cofaktoren oder Abbauenzymen von Monoaminen (z.B. Dopamin) bezeichnet.104

Symptome eines schweren Dopamindefizits können sein:105

Symptome eines schweren Serotonindefizits können sein:105

  • Temperaturprobleme
  • Schwitzen
  • Dystonie

Um Defizite von Vorstoffen und spezifische spezifische Stoffwechseldefekte aufzuspüren ist die Messung von Pterinen (insbesondere Biopterin und Neopterin) im Urin hilfreich:

2.5.19.1. Genetisch bedingte BH4-Störungen (ca. 0,0002 %)

Genetisch bedingte Störungen der Tetrahydrobiopterin-Synthese (BH4, ein wichtiges Enzym für die Dopaminsynthese) wie

  • autosomal rezessiver (AR) Guanosintriphosphat-Cyclohydrolase-Mangel (GTPCH-Mangel)
    • Prävalenz unter 1 / 1.000.000 (unter 0,0001 %)106
    • 46 % aller BH4-Störungen
  • 6-Pyruvoyl-Tetrahydropterin-Synthase-Mangel (PTPS)
    • Prävalenz: 1 / 500.000 bis 1/ 1.000.000 (0,0001 % bis 0,0002 %) 107
    • 54 % aller BH4-Störungen

scheinen ADHS und andere psychische Störungen wie Angstzustände, Depressionen, Aggression oder oppositionelles Trotzverhalten mitzuverursachen.108

Siehe hierzu auch Tyrosinhydroxylase im Beitrag Dopaminbildung.

2.5.19.2. Fehlende oder stark verringerte DAT

Es gibt (selten) Menschen ohne oder mit sehr stark verringerten DAT. Diese zeigen indes weitere Symptome, die nicht ADHS-typisch sind (z.B. frühkindliche Parkinson-Dystonie) und werden daher selten mit ADHS und eher mit Cerebralparese fehldiagnostiziert. Viele Betroffene sterben bereits als Teenager.109 Ein Überschuss an extrazellulärem Dopamin führt durch Aktivierung von präsynaptischen D2-Autorepezptoren zu einer verminderten Produktion von Dopamin (und damit zu einer verringerten Einlagerung von Dopamin in die Vesikel) sowie zu einer Downregulierung oder Desensibilisierung von Dopaminrezeptoren, wodurch ein Mangel an phasischem Dopamin und ein Dopaminwirkmangel entsteht.104

2.5.20. Vorwiegend milieubedingte Verhaltensauffälligkeiten

Vorwiegend milieubedingte Verhaltensauffälligkeiten meint beispielsweise mangelnde Zuwendung und Anregung, körperliche und/oder seelische Misshandlung, Medienabusus, intrafamiliäre Koflikte und Geschwisterkonflikten2
Nach unserem Verständnis entspricht diese Beschreibung dem umweltbedingten Ursachenanteil der meisten psychischen Störungen wie ADHS, Depressionen, Angststörungen, Borderline etc., die sämtlich entstehen können, indem umweltbedingte Ursachen, meist Stresserfahrungen in den ersten 6 Lebensjahren, eine bestehende genetische Disposition mittels epigentischer Veränderung dauerhaft manifestieren. Vorwiegend milieubedingte Verhaltensauffälligkeiten sind daher ungeeignet, eine eigenes Störungsbild zu definieren.
Wie ADHS entsteht: Gene oder Gene + Umwelt
Gene + frühkindlicher Stress als Ursache anderer psychischer Störungen

2.5.21. Oppositionelles Trotzverhalten (ODD)

ADHS sei insbesondere von Problemen mit der kognitiven Kontrolle gekennzeichnet, Oppositionelle Trotzstörung (ODD) dagegen von hohem Belohnungsstreben.22

2.5.22. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)

Englisch: Auditory processing disorders (APD)110
AVWS ist ein eigenständiges Störungsbild (ICD-10: F80.20).
Prävalenz: 2 bis 3 %, Jungen 4 bis 6 %, Mädchen 1 bis 2 %111

Selbst leise Töne und Geräusche werden normal gehört. Das periphere Gehör ist intakt.
Beeinträchtigt ist die Verarbeitung und Wahrnehmung des Gehörten.
Die Beeinträchtigung beruht nicht auf einer Intelligenzminderung. Nonverbale Intelligenz ist unbeeinträchtigt.
Funktionsdefiziten in der auditiven Informationsverarbeitung und Wahrnehmung:

  • die korrekte auditive Wahrnehmung ist erschwert bis verunmöglicht - auditive Agnosie
  • neuronale Weiterleitung, Vorverarbeitung oder Verarbeitung akustischer oder sprachlicher Signale ist beeinträchtigt, z.B.:
    • Lokalisation (Richtung und Entfernung der Schallquelle)
    • Diskrimination (Unterscheiden von Zeit-, Frequenz- oder Intensitätsveränderungen)
    • Selektion (Herausfiltern von Störgeräuschen)
    • Dichotisches Hören (beidohriges Hören)

Folgen können Schwierigkeiten in schwierigen Hörsituationen sein, wie z.B.

  • Sprache bei Störgeräuschen verstehen
  • Sprache von mehreren gleichzeitigen Sprechern verstehen

Bei gleichzeitiger Beeinträchtigung der Unterscheidung von Tönen, Sprachlauten und Geräuschen (was häufig der Fall ist) können Lese- und Schreibschwierigkeiten entstehen.
Daher gilt AVWS als neurokognitives Risiko, insbesondere für schulisches Lernen.

Häufige Komorbiditäten von AVWS sind:110

  • Sprachentwicklungsstörungen
  • umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
    • z.B. Lese-Rechtschreib-Störungen
  • supramodale Aufmerksamkeitsprobleme (Aufmerksamkeitsstörungen)
  • tiefgreifende Entwicklungsstörungen (z.B. ASS

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Diese Seite wurde am 02.01.2025 zuletzt aktualisiert.