Die Stresssysteme des Menschen - Grundlagen von Stress
Chronischer cortisolerger Stress, also eine lang anhaltende schwere (meist psychische) Belastung, die als bedrohlich oder angsteinflößend wahrgenommen wird, kann alle Symptome von ADHS hervorrufen. ⇒ ADHS-Symptome sind Stresssymptome
Dennoch ist ADHS etwas anderes als chronischer Stress: Stresssymptome gehen mit dem Stressor, ADHS bleibt.
ADHS kann viele verschiedene Ursachen haben. Defekte der Stresssysteme sind eine mögliche Ursache, weshalb es hilfreich ist, die Stresssysteme des Menschen zu verstehen.
Der Mensch reagiert auf Belastungssituationen mit einer Stressreaktion, die von verschiedenen Stresssystemen im Körper gesteuert wird. Die wichtigsten sind das ZNS (Gehirn und Rückenmark), die HPA-Achse, das Vegetative Nervensystem und die HSA-Achse. Diese Stresssysteme regulieren sich gegenseitig und bilden ein fehlertolerantes System, das auch den Ausfall einzelner Bestandteile verkraften kann.
Das Gehirn kann Signale sowohl endokrin (chemisch, langsam) als auch neural (elektrisch, schnell) übertragen. Die HPA-Achse (Stressachse) wird endokrin, das vegetative Nervensystem (VNS) neural angesteuert. Insbesondere die HPA-Achse spielt bei der Regulation von Stress eine wichtige Rolle und ist bei ADHS häufig überaktiviert. ADHS-Betroffene weisen oft einen verringerten basalen Cortisolspiegel auf, während die phasische Cortisolstressantwort je nach ADHS-Subtyp unterschiedlich sein kann.
Stress kann psychisch oder physisch (Infektionen, Gifte, Verletzungen) ausgelöst werden. Unkontrollierbarer Stress und das Risiko der Ablehnung oder des Nicht-Dazugehörens sind besonders starke Stressoren. Die Stressreaktion hängt von verschiedenen Faktoren wie Genen, epigenetischen Veränderungen, Umweltfaktoren und dem Alter des Individuums ab.
Die Amygdala ist eine zentrale Instanz zur Bewertung von Stressoren und aktiviert die verschiedenen Stresssysteme. Der noradrenerge Locus coeruleus reguliert neben der Aufmerksamkeit auch Stressreaktionen.
Stressoren lösen eine Stressreaktionskette aus, die in vier Phasen eskalieren kann: Problemwahrnehmung, Alarmphase, Widerstandsphase und Erschöpfungsphase.
Die Vorphase des Stresses wird durch unspezifische Aktivierung von Neuronen im assoziativen Cortex des PFC ausgelöst, was zu einer noradrenergen Aktivierung des zentralen und vegetativen Nervensystems führt.
Bei akutem Stress steigt der Noradrenalinspiegel im Gehirn an, während chronischer Stress zu einer verringerten Cortisolausschüttung führt.
Die Widerstands- und Erschöpfungsphase des Stresses führen zu dauerhaften schädlichen Veränderungen in den Stresssystemen.
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1. Die Stresssysteme des Menschen
- 1.1. Zentraler Ablauf und Steuerung von Stressreaktionen
- 1.2. Endokrine und neuronale Signalübertragung
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1.3. Die wichtigsten Stressregulationssysteme
- 1.3.1. Das zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark, ZNS)
- 1.3.2. Das vegetative (autonome) Nervensystem: Sympathikus / Parasympathikus
- 1.3.3. Die HPA-Achse (Stressachse) des Körpers
- 1.3.4. Zusammenarbeit von VNS und HPA-Achse
- 1.3.5. Die Amygdala im limbischen System: der Stressdirigent
- 1.3.6. Locus coeruleus
- 1.3.7. Hypothalamus-Sympathikus-Adipozyten-Achse (HSA-Achse)
- 1.4. Stressarten
- 2. Die Stressreaktionskette / Stressphasen
- 3. Veränderte Hormon- und Neurotransmitterwerte je nach Stressphase
- 4. Stressauslöser (Stressoren)
- 5. Stressbeendigung
1. Die Stresssysteme des Menschen
Beschreibungen von Stress in den verschiedensten Konzepten gibt es bereits seit Anbeginn der medizinischen Wissenschaft.1 Die verschiedenen Stresstheorien und die wichtigsten Beiträge zu deren Weiterentwicklung von Bernard (1878), Cannon (1929), Selye (1974), Mason (1971), Hennesy und Levine (1979), Krantz und Lazar (1987), Munck und Guyre (1986), Levine und Ursin (1991), Weiner (1991), Chrousos und Gold (1992), Goldstein (1995), McEwen (1998) listen Pacák und Palkovit auf.2
Stress ist eine gesunde Reaktion des menschlichen Organismus auf Belastungssituationen. Die Stressreaktion unterscheidet sich grundsätzlich danach, ob die Belastungssituation bedrohlich/angsterregend empfunden wird oder nicht, da dabei verschiedene Stresssysteme angesprochen werden.
An der menschlichen Stressreaktion sind vor allem Monoamine (Dopamin, Noradrenalin, Serotonin) und Neuropeptide entscheidend beteiligt.3
Der menschliche Körper verfügt über mehrere Systeme, die Stress regulieren. Diese bilden ein komplexes Netzwerk, das sich gegenseitig ergänzt und beeinflusst. Dadurch entsteht ein fehlertolerantes System, das auch den Ausfall einzelner Gene oder Teile der Stressregulationssysteme so verkraftet, dass das Überleben des Individuums nicht gefährdet ist.
1.1. Zentraler Ablauf und Steuerung von Stressreaktionen
Eine Stressreaktion erfolgt durch ein Zusammenspiel verschiedener Gehirnbereiche.
Im ersten Schritt erfolgt eine Integration sensorischer Informationen durch den PFC, um deren Bedeutung und Wichtigkeit kognitiv zu bewerten und die passenden Bewältigungsstrategien bereitzustellen.
Dadurch werden emotionale Reaktionen über das limbische System ausgelöst, die wiederum die physiologischen Stresssysteme wie die HPA-Achse und das autonome Nervensystem aktivieren.456
Eine zusammenfassende Darstellung der beteiligten Gehirnregionen erfolgt unten unter 1.3.
1.2. Endokrine und neuronale Signalübertragung
Das Gehirn kann Signale auf zwei verschiedene Arten triggern: endokrin (langsam) und neural (schnell).
Die endokrine Informationsvermittlung erfolgt durch Hormone, die über das Blut transportiert werden. Dieser Übertragungsweg ist langsam.7
Die HPA-Achse wird endokrin angesteuert.
Die neurale Informationsvermittlung erfolgt durch direkte Nervenverbindungen. Innerhalb der Nerven werden Informationen als elektrische Signale transportiert und an den Verbindungsstellen der Nerven, den Synapsen, durch Neurotransmitter verstärkt oder abgeschwächt (inhibiert). Dieser Übertragungsweg ist schnell.8
Das vegetative Nervensystem (VNS) wird neural angesteuert.
Mehr hierzu unter ⇒ Neurotransmitter und Stress
1.3. Die wichtigsten Stressregulationssysteme
Der menschliche Körper verfügt über mehrere Systeme, die Stress regulieren. Diese bilden ein komplexes Netzwerk, das sich gegenseitig ergänzt und beeinflusst. Dadurch entsteht ein fehlertolerantes System, das auch den Ausfall einzelner Gene oder Teile der Stressregulationssysteme so verkraftet, dass das Überleben des Individuums nicht gefährdet ist.
Die stärkste Bindung an die bei Stress besonders relevanten Botenstoffe Noradrenalin, CRH und Cortisol weisen auf:9
- mPFC
-
PVN, Nucleus paraventricularis
- produziert Oxytocin
- produziert Antidiuretisches Hormon (gering)
- produziert CRH
- Amygdala
- Laterales Septum
- wird gehemmt durch GABA
- wird angeregt durch Glutamat
- Hippocampus
-
Locus coeruleus
mehr zum Locus coeruleus siehe unten- wird angeregt durch Orexin
- produziert Noradrenalin
- stimuliert Sympathikus
-
dorsale Raphe-Kerne
mehr zu den dorsalen Raphe-Kernen siehe unten- produziert Serotonin
- Nucleus tractus solitarii
Das Nervensystem des Menschen unterteilt sich in
- zentrales Nervensystem (ZNS, Gehirn und Rückenmark) und peripheres Nervensystem (PNS, Körper)
Das PNS ist ein räumlich abgegrenzter Teil des ZNS ohne Funktionsabgrenzung - vegetatives Nervensystem (VNS, auch autonomes Nervensystem)
- sympathisches Nervensystem (Sympathikus, aktivierend)
- parasympathisches Nervensystem (Vagus oder Parasympathikus, hemmend)
- somatisches Nervensystem (willkürliches Nervensystem, ermöglicht bewusste Wahrnehmung)
- enterisches Nervensystem (ENS, Verdauungsnervensystem)
Hiervon sind insbesondere das ZNS und das VNS in die Stressregulation eingebunden.
1.3.1. Das zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark, ZNS)
Bei leichten Herausforderungen wird zunächst der Dopaminspiegel im PFC und der Noradrenalinspiegel leicht angehoben. Beides verbessert die kognitive Leistungsfähigkeit (Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit).
Wird das Problem dadurch nicht gelöst (der Stressor nicht beseitigt), steigen die Dopamin- und Noradrenalinspiegel weiter, was den PFC deaktiviert und die Verhaltenssteuerung auf andere Gehirnregionen überträgt. ⇒ Neurotransmitter bei Stress Noradrenalin aktiviert die weiteren Stresssysteme, hier insbesondere das vegetative Nervensystem und die HPA-Achse (Stressachse).
Die Deaktivierung des PFC enthemmt die HPA-Achse, die vom PFC kontrolliert wird, zusätzlich.
Der Cortex hat eine zentrale Rolle bei der Regulation des autonomen Nervensystems und steuert diese unmittelbar mittels10
- anteriorer Cortex
- posteriorer Cortex
- orbitofrontaler Cortex
- Inselrinde (Insula)
- mPFC
- motorischer Cortex
- somatosensorischer Cortex
Dadurch können unmittelbar beeinflusst werden:11
- Sympathikus
- aktivierend
- inhibierend
- Parasympathikus
- aktivierend
- inhibierend
Das vegetative Nervensystem reguliert:
- Adrenalinsekretion
- Cortisolsekretion
- arterieller Blutdruck
- Herzschlagfrequenz
- Herzrhythmus
- Schlagvolumen
- Herzminutenvolumen
- Gefäßdurchblutung der Skelettmuskulatur
- Pupillenreaktion
- Speichelfluss
- Atmungsfrequenz
- Atmungstiefe
- Nierendurchblutung
- Magenbewegungen
- Darmbewegungen
- systemischer Widerstand im Herzkreislaufsystem
- strukturelle Myokardschädigungen des Herzens
Psychischer Stress verändert die funktionelle Konnektivität des vmPFC mit verschiedenen Hirnarealen, die an der Stressverarbeitung beteiligt sind:12
- Erhöhte funktionelle Konnektivität des vmPFC bei psychischem Stress:
- Insula
- Amygdala
- anteriorer cingulärer Cortex
- dorsales Aufmerksamkeitszentrum
- ventrales Aufmerksamkeitszentrum
- Frontoparietalnetz (während der Erholungsphase weiter zunehmend)
- Verringerte funktionelle Konnektivität des vmPFC bei psychischem Stress:
- hinterer cingulärer Cortex
- Thalamus
- Default-Mode-Network
Bis auf die Konnektivität zu den frontoparietalen Netzen entsprach diese in der Erholungsphase nach dem Stressor den Vor-Stress-Werten.
Hirnverletzungen können deshalb nicht nur sensorische, motorische und kognitive Störungen, sondern auch verschiedenste körperliche Störungen bewirken, z.B.
- Immunfunktionen,1314 mittels
- direkter neuraler Beeinflussung von Parasympathikus und Sympathikus (VNS)
- indirekter neuroendokriner Beeinflussung (z.B. der HPA-Achse)
- Herzerkrankungen15
- EKG-Abnormitäten
- Störungen der Repolarisationsphase, identisch wie bei ischämischen Herzkrankheiten, jedoch ohne jegliche thrombotische Verschlüsse der Koronararterien
- Verlängerung des QT-Intervalls
- Senkung der ST-Strecke
- abgeflachte oder invertierte (negative) T-Wellen
- Störungen der Repolarisationsphase, identisch wie bei ischämischen Herzkrankheiten, jedoch ohne jegliche thrombotische Verschlüsse der Koronararterien
- Herzrhythmusstörungen
häufig bei- intrazerebralen oder subarachnoidalen Blutungen
- ischämischen Hirninfarkten
- Epilepsie
- Serum-Enzymveränderungen
- Myofibrillen-Degeneration
ohne Stenose der Koronararterien sind Hirnerkrankungen eine häufige Ursache des plötzlichen Herztodes durch Myofibrillen-Degeneration
- EKG-Abnormitäten
- Lungen- und Atemwegserkrankungen16
- Diabetes17
- Beeinträchtigung der Schmerzwahrnehmung18
Daneben bewirkt die kognitive Einschätzung von Situationen durch den Cortex zugleich emotionale Reaktionen, die eine mittelbare Steuerung der vegetativen Körperprozesse über die Amygdala und den Hypothalamus bewirken.19
1.3.1.1. Noradrenalin und Stress
Im ZNS wird Stress vornehmlich durch Noradrenalin moduliert:20
- leicht erhöhte Noradrenalinspiegel
- regen die Funktion des PFC an
- stark erhöhte Noradrenalinspiegel
- schalten den PFC ab
- analytisches Denken beeinträchtigt
- kognitive Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt
- Kontrolle der HPA-Achse beeinträchtigt
- verstärken die sensomotorischen und affektiven Regionen des Gehirns (was Wahrnehmung und Emotion intensiviert)
- schalten den PFC ab
1.3.1.2. Dopamin und Stress
Stress aktiviert unmittelbar das dopaminerge System im Gehirn (ZNS),21 das bei ADHS zentral beeinträchtigt ist.
1.3.1.2.1. Dopaminspiegeländerungen durch Stress
- kurzfristiger Stress erhöht den Dopaminspiegel im PFC massiv.
- Erhöhte Dopaminspiegel im PFC führen wohl zu einer Verringerung des Dopaminspiegels im Nucleus accumbens im Striatum (Verstärkungszentrum).
- langfristiger Stress führt über eine Downregulation (Verringerung der Anzahl der Dopamintransporter und Dopaminrezeptoren im PFC) zu einer Verschlechterung der Wirkung von Dopamin im PFC.
- langfristiger Stress ist (trotz des nach der Downregulation verringerten Dopaminspiegels) mit einer Übererregung des PFC verbunden, die zu einer Verringerung des Dopaminspiegels im Nucleus accumbens im Striatum (Verstärkungszentrum) führt.
1.3.1.2.2. Unterschiedliche Dopaminspiegeländerungen je nach Stressor
Unterschiedliche Stressoren bewirken unterschiedliche Dopaminreaktionen.22
Mehr hierzu unter ⇒ Neurotransmitter und Stress
1.3.1.2.3. Dopaminerge neurologische Korrelate verschiedener Stressreaktionen
Unterschiedliche Stressreaktionen haben unterschiedliche dopaminerge neurologische Korrelate.
Dies betrifft ADHS ebenso wie komorbide Störungen.
Mehr hierzu unter ⇒ Neurotransmitter und Stress
1.3.1.3. Serotonin und Stress
Die dorsalen Raphe-Kerne, in denen Serotonin gebildet wird, haben eine stresshemmende Funktion.23
- Begrenzung überschießender Stressreaktion
- via 5-HT-1a-Autorezeptor Hemmung von
- Angst
- Panik
- Appetit
- Emesis
- Sucht
- Impulsivität
- via 5-HT-2a-Rezeptor Stimulation von
- Stimmung
- Perzeption
- Sexualität
- Schlaf
- Regeneration
- Gefäßtonus
- Atmung
- Körpertemperatur
1.3.2. Das vegetative (autonome) Nervensystem: Sympathikus / Parasympathikus
Sympathikus (anregend) und Parasympathikus (hemmend) regeln gemeinsam ein Gleichgewicht von Aktivierung und Entspannung.
- Es wird zunächst bei bewältigbarem Stress ohne Bedrohungsinhalt (kurzzeitigem Stress, Anstrengungssituationen oder schwerer Krankheit) aktiviert.
- Das VNS vermittelt Stress vornehmlich durch Acetylcholin und Adrenalin im Körper. Adrenalin aktiviert andere Bereiche des Körpers als cortisolerger Stress. Da Adrenalin – wie Noradrenalin und anders als Cortisol24 – die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann, wirkt im Körper entstandenes Adrenalin allein auf die Organe des Körpers.
- Kurzzeitiger wie lang anhaltender Stress bewirken die
- Freisetzung von Arginin-Vasopressin (AVP).
- Erhöhung von Prolaktin im Plasma
- Erhöhung von β-Endorphin im Blut
β-Endorphin erhöht die Dopaminausschüttung. Allerdings kann β-Endorphin nur in geringem Maß die Blut-Hirn-Schranke überwinden, weshalb β-Endorphin im Körper allenfalls indirekt eine dopaminerge Wirkung im Gehirn haben kann
- Oxytocin ist ein Antistresshormon
- Siehe hierzu: ⇒ Das vegetative Nervensystem: Sympathikus / Parasympathikus
1.3.3. Die HPA-Achse (Stressachse) des Körpers
Die HPA-Achse ist bei ADHS das am meisten involvierte Stresssystem.
Die HPA-Achse wird bei unkontrollierbaren Stresssituationen aktiviert. Durch ein hintereinander geschaltetes Netzwerk aus Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde werden nacheinander mehrere Stresshormone ausgeschüttet (CRH, ACTH, Cortisol) und so der “ultimative” Alarmzustand ausgelöst: jetzt geht es ums nackte Überleben. Die HPA-Achse löst die meisten Stresssymptome aus. Stresssymptome sind beim Überlebenskampf für das Individuum nützlich.
⇒ Stressnutzen – der überlebensfördernde Zweck der Stresssymptome
Nachdem die extrem erhöhten Dopamin- und Noradrenalinspiegel im Gehirn (die unter anderem die HPA-Achse aktiviert haben) zugleich den für das langsame, analytische Denken zuständigen PFC heruntergefahren haben, um genaue, aber langsame durch ungenaue aber schnelle Reaktionsmöglichkeiten zu ersetzen, wird die Steuerung der Verhaltenssysteme nun durch andere Gehirnregionen wahrgenommen. Die Verhaltenssteuerung folgt jetzt einem anderen Leitbild: das Überleben, hier und jetzt, tritt in den Vordergrund, alles andere wird abgewertet.
Die cortisolerge Reaktion der HPA-Achse erfolgt langsamer bzw. später als die schnelle adrenerge Stressreaktion des vegetativen Nervensystems. Auch ihre Deaktivierung ist langsamer. Das letzte der 3 ausgeschütteten Stresshormone der HPA-Achse, Cortisol, vermittelt am Ende der Stresshormonstafette auch die Wieder-Abschaltung der HPA-Achse. Denn Stress ist ein Ausnahmezustand, eine Art Turbo-Modus des Körpers und des Geistes, der nur kurzfristig hilfreich und langfristig schädlich ist.
Bei ADHS-I ist die HPA-Achse und der PFC aufgrund einer überhöhten endokrinen Stressantwort im ersten Schritt zu schnell und zu intensiv aktiviert und im zweiten Schritt zu häufig abgeschaltet (Unteraktivierung). Bei ADHS-HI bleibt die HPA-Achse zu lange aktiviert, weil aufgrund einer abgeflachten endokrinen Stressantwort die Abschaltung durch einen ausreichend hohen Cortisolspiegel nicht funktioniert (Daueraktivierung).2526
Eine umfassende Darstellung der schädlichen Auswirkungen von frühkindlichem oder lang anhaltendem Stress auf die HPA-Achse findet sich unter ⇒ Stressschäden – Auswirkungen von frühem / langanhaltendem Stress.
Da die HPA-Achse für das Verständnis von Stress und ADHS essentiell ist, wird auf die ausführliche Darstellung unter ⇒ Die HPA-Achse / Stressregulationsachse verwiesen.
1.3.4. Zusammenarbeit von VNS und HPA-Achse
Die beiden Stresssysteme VNS und HPA-Achse haben aufgrund der unterschiedlichen zeitlichen Ansprache (VNS: neuronal angesteuert = schnell, HPA-Achse: hormonell angesteuert = langsam) verschiedene Aufgaben und ergänzen sich gegenseitig.
Der Nucleus coeruleus, der die meisten noradrenergen Nervenzellen des Gehirns enthält, und der Teil der sympatho-adrenomedullären Achse des Sympathikus (und damit des VNS) ist, kommuniziert intensiv mit dem Hypothalamus, der die erste Stufe der HPA-Achse ist. Die Informationen laufen dabei in beide Richtungen.27
1.3.5. Die Amygdala im limbischen System: der Stressdirigent
Die Amygdala (Teil des limbischen Systems) ist die zentrale Instanz zur Bewertung von Stressoren auf ihre Bedrohung und triggert die Stressreaktionen des Gehirns.28 Die Amygdala erhält Informationen aus dem gesamten Körper und Gehirn und bewertet diese auf ihr Gefahrenpotenzial. Eine Schädigung der Amygdala in Richtung einer Überempfindlichkeit bewirkt eine hohe Ängstlichkeit und Furchtbereitschaft. Bewertet die Amygdala Situationen als bedrohlich, aktiviert sie stufenweise die verschiedenen Stresssysteme.
Teile der Amygdala sind:
- laterale Amygdala (LA)
- basolaterale Amygdala (BLA) → kalkuliertes Handeln
- zentral-mediale Amygdala (CMA) → impulsgesteuertes gefühlsmäßiges Verhalten
Wird die Amygdala durch Medikamente gehemmt, entfallen auch die Stress-/ADHS-Symptome.
Ob dieser Ansatz, z.B. durch sehr niedrig dosierte Anxiolytika wie z.B. Trimipramin (Einstiegsdosierung tagsüber 1 Tropfen, Zieldosierung unter 10 Tropfen) bei ADHS hilfreich sein könnte, sollte evaluiert werden. Ein ADHS-Betroffener berichtete von einer Stress senkenden Wirkung von 2 Tropfen, wobei dieser auch von guten Erfolgen auf sein ADHS-HI mit minimalster Stimulanziendosierungen berichtete.
Die Amygdala erhält Informationen von vielen Organen und Systemen über aktuelle Stressoren.
⇒ Die Amygdala – der Stressdirigent.
1.3.5.1. Limbisches System aktiviert die Stresssysteme
Stressoren aktivieren limbische Strukturen im Hirnstamm und / oder im Vorderhirn.
- Limbische Strukturen im Hirnstamm aktivieren (Bottom-Up):
- über direkte Projektionen auf den Nucleus paraventricularis des Hypothalamus (PVN) die HPA-Achse (HPA) und
- über direkte präganglionäre Projektionen das vegetative Nervensystems (ANS).
- Limbische Regionen des Vorderhirns haben dagegen keine direkten Verbindungen mit der HPA-Achse oder dem ANS. Sie nutzen intervenierende Synapsen zur Steuerung der autonomen oder neuroendokrinen Neuronen (Top-down-Regulation).
Viele Anteil dieser intervenierenden Neuronen befindet sich in Kernen des Hypothalamus, die auch auf den homöostatischen Status ansprechen, was einen Mechanismus ergibt, mit dem die absteigende limbische Information entsprechend dem physiologischen Status moduliert werden kann (mittleres Management).29 - Verschiedene limbische Hirnregionen beeinflussen die Aktivierung der HPA-Achse:30
- mPFC
- zentrale Amygdala (CeA)
- ventrales Subikulum (vSUB)
- mediale Amygdala (MeA)
-
laterales Septum (LS)
Keine dieser Regionen adressiert direkt den paraventrikulären Hypothalamus (PVN). Alle Projektionen dieser Regionen senden an bestimmte Regionen von- Hirnstamm
- Hypothalamus
- Bed nucleus of the stria terminalis (BST)
- Diese Regionen aktivieren wiederum den medialen paraventrikulären Hypothalamus (PVN)
- Limbische Strukturen können prognostizierte Stressoren durch eine vorherige Aktivierung des PVN mittels Wechselwirkungen mit reaktiven Stressschaltungen modulieren. Die Überlagerung von limbischem Input auf Hirnstamm- und hypothalamische Stresseffekte bildet ein hierarchisches System, das mittels direkter PVN-Projektionen sowohl reflexive (reaktive) als auch vorweggenommene (antizipierte) Stressreaktionen vermittelt.
Die Projektionen dieser limbischen Bereiche überschneiden sich erheblich, wenn auch nicht vollständig. Die Gesamtstressreaktion hängt daher von der Zusammenwirkung dieser Strukturen ab. 30
1.3.6. Locus coeruleus
Der Locus coeruleus reguliert Aufmerksamkeit und ist ein wichtiger Vermittler von Stressreaktionen.
Er wird durch Orexin aktiviert und sendet das von ihm produzierte Noradrenalin an etliche Gehirnregionen, die in Stresssysteme eingebunden sind.
- angeregt durch Orexin
- Afferenzen (erhaltene Signale) von:
-
mPFC
- konstanter anregender Input entsprechend dem Aktivitätslevel
- Nucleus paragigantocellularis
- integriert autonome Reize und Umweltreize
- Nucleus prepositus perihypoglossalis
- steuert horizontale und vertikale Augenbewegungen, Blickfolgebewegungen und Blickfixierung
-
lateraler Hypothalamus
- produziert Orexin
-
mPFC
- produziert Noradrenalin
- Efferenzen (sendet Signale) an:
- Amygdala
- Hippocampus
- Hirnstamm
- Rückenmark
- Cerebellum
- Cortex
- Hypothalamus
- Tectum (dorsales Mesencephalon)
- Thalamus
- Ventrales Tegmentum
Eine chronische Aktivierung des Locus coeruleus scheint eine Verringerung der Stressreaktion zu bewirken31
Eine chemische Deaktivierung des Locus coeruleus verringerte akut und kurzfristig die Reaktion der HPA-Achse. Nach 4 Wochen chronischem Stress war die HPA-Achsen-Reaktion jedoch trotz deaktiviertem LC wieder vollständig hergestellt.32 Dies deutet darauf hin, dass der vorrangig akute Stressreaktionen zu vermitteln scheint.
1.3.7. Hypothalamus-Sympathikus-Adipozyten-Achse (HSA-Achse)
Die HSA-Achse wird bei Eustress, also bei positiv wahrgenommenem Stress (Flow) aktiviert.333435
Die HSA-Achse wird im Tiermodell bei Ratten in sogenannter Enriched Environments (EE), also Umgebungen mit viel sozialem Kontakt zu anderen Tieren, reichlich Anregung durch Spielmöglichkeiten und Auslauf angesprochen (im Vergleich zu sozial isolierter Haltung). EE aktivieren jedoch auch das VNS und die HPA-Achse, ohne jedoch negative Auswirkungen zu verursachen. Dies könnte möglicherweise daran liegen, dass kurzfristige Aktivierungen des VNS und der HPA-Achse einer gesunden Lebensweise mit Aktivierung / Forderung / Entspannung entsprechen. Bekanntlich ist erst eine Daueraktivierung des VNS und der HPA-Achse schädlich.
Die Aktivierung der HSA-Achse im Enriched Environement bewirkte jedenfalls ein signifikantes Schrumpfen von viral verursachten Tumoren.34
1.4. Stressarten
Es gibt verschiedene Arten von Stressoren.
1.4.1. Psychische Stressoren
Psychische Stressoren unterteilen sich in36
- externe Stressoren
- Bedrohung
- Neues/Ungewohntes/Unerwartetes
- Unsicherheit
- Vernachlässigung
- Ausgrenzung
- interne Stressoren
- Denkmuster
- negative Verstärkung
1.4.2. Physische Stressoren
Physischer Stress sind Belastungen des Körpers, wie z.B.
- Kälte
- Hitze
- Lärm
- körperliche Einwirkung
- Verletzungen
- chemische Einwirkungen
- Gifte
1.4.3. Oxidativer Stress
1.4.3.1. Was ist Oxidativer Stress
Oxidativer Stress ist eine durch ein Übermaß an reaktiven Sauerstoffverbindungen (ROS – reactive oxygen species) geprägte Stoffwechsellage. Oxidativer Stress wird nicht durch psychosoziale Belastungen, sondern z.B. durch Krankheit oder schlechte/unausgewogene Ernährung ausgelöst.
Oxidativer Stress ist unter anderem an neurodegenerativen Prozessen von Gehirnzellen beteiligt.3738
1.4.3.2. Oxidativer Stress und Alterung
ROS werden von der „Free Radical Theory of Ageing“394041424344 für das Altern des Körpers verantwortlich gemacht. Diese scheint die wichtigste der hunderten von Theorien über Alterungsprozesse zu sein, wobei bisher keine davon allgemein wissenschaftlich akzeptiert ist.45
Nach dieser Theorie führt eine erhöhte Stoffwechselrate zu erhöhter ROS-Bildung, die Zellschäden verursachen, welche mit der Zeit so weit kumulieren, dass sie das antioxidative Schutzsystem überfordern und Dysfunktionen und Apoptose auslösen.
1.4.3.3. Entstehung von ROS
ROS entstehen vor allem durch die mitochondriale Atmungskette sowie daneben als Folgeprodukte metabolischer Reaktionen im Zellplasma, im endoplasmatischen Retikulum, in der Plasmamembran und in Peroxisomen. ROS können lebensnotwendige Moleküle der Zellen (z.B. DNA, Proteine, Lipide) irreversibel schädigen. Wird das natürliche Redoxgleichgewichts zugunsten oxidativer Bedingungen beeinflusst, fördert dies ROS und damit molekulare Schäden, die Krankheiten, Alterung und Tod verursachen können. Im finden sich mehr oxidierte Proteinen, DNA-Moleküle und Lipiden bestimmt [Sohal et al. 1993, Stadtman 1992]. ROS sind mit der Entstehung von degenerativen Erkrankungen assoziiert [Alam et al. 1997a, Alam et al. 1997b, Coyle und Puttfarcken 1993]. Antioxidantien [Vina et al. 1992] oder eine Überexpression von antioxidativen Enzymen [Orr und Sohal 1994] bekämpfen ROS und verlängern Lebenserwartung in Drosophila.45
Neuere Veröffentlichungen zeigen aber, dass Antioxidantien nicht immer die erwarteten positiven Ergebnisse erreichen und z. T. auch ungünstige Effekte erzielen [Howes 2006, Le Bourg und Fournier 2004, Riccioni et al. 2007]
1.4.3.4. Positive und negative Wirkung von ROS
ROS haben neben schädigenden jedoch auch vorteilhafte Wirkungen, z.B. im Fall von Zelldegeneration zur Vermeidung von Krebs.46
ROS und Neurodegeneration
Positive Wirkung von ROS: Grundlegende Bedeutung für
- neuronale Entwicklung
- synaptische Plastizität
- Gedächtnisbildung
- Energieversorgung
Negative Wirkung von ROS:
Neuronen weisen eine relativ geringe antioxidative Aktivität auf und sind daher für oxidative Schäden besonders anfällig. - Defekte in den Mitochondrien können die ROS-Erzeugung verstärken und über eine Aktivierung von JNK und sterol-regulierenden Elementbindungsproteinen (SREBP) zu einer Kumulation von Lipidtropfen führen, die Neurodegeneration auslösen.47
- Eine Unterdrückung von ROS mittels einer Hochregulierung der schweren Ferritin-Kette durch NF-kappa B hemmt eine durch TNF-α induzierte Apoptose48
- Eine Reduzierung der ROS-Spiegel durch von PGC-1α erhöhte antioxidative Enzyme GPx1 und SOD2 könnte Nervenzellen vor oxidativen Schäden schützen48
- ROS können durch Methylquecksilber49 oder Mangan50 erhöht werden und dann neurotoxisch wirken
- Bei Down-Syndrom und Parkinson führen erhöhte ROS in der Substantia nigra pars compacta zur neuronalen Apoptose dopaminerger Neuronen. Antioxidantien oder Katalase könnten die Apoptose verhindern 51
- Oxidativer Stress erhöht die Expression von mRNA für saures Gliafaserprotein, was zu einer Hyperaktivierung der Astrozyten mit anschließender Schädigung der Astrozyten führt.3752
- NRROS könnte das zentrale Nervensystem vor EAE schützen, indem es oxidative Schäden durch den Abbau von NOX2 am endoplasmatischen Retikulum reduziert53
- CRH und Mifepriston (letzteres ist ein starker Antagonist von Glucocorticoid- und Progesteronrezeptoren) schützen Neuronen vor durch oxidativen Stress ausgelösten Zelltod.5455
- CRH schützt CRH-Rezeptor-Typ-1-Zellen gegen durch oxidativen Stress ausgelösten Zelltod.55 Diese Schutzfunktion von CRH erfolgt durch einen Anstieg der Ausschüttung von “nonamyloidogenic soluble amyloid β-precursor protein” und eine Unterdrückung des “nuclear factor-κB”.56
1.4.3.5. Oxidativer Stress und ADHS
Bei ADHS wurde ein Ungleichgewicht zwischen Oxidanten und Antioxidanten mit erhöhten Melatoninwerten im Blutserum festgestellt.57 Melatonin soll oxidativem Stress entgegenwirken.58
Eine Studie fand bei Kindern wie bei Erwachsenen mit ADHS erhebliche Veränderungen im Bereich von oxidativem Stress und antioxidativen Proteinen (MAD, SOD, PON1, ARES, TOS, TAS, OSI).5960
1.4.3.6. Methylphenidat und ROS
MPH förderte in Endothelzellen die ROS-Bildung durch Aktivierung der Rac1-abhängigen NADPH-Oxidase (NOX) und c-Src-Aktivierung an der Plasmamembran.61
MPH in niedriger Dosierung verringerte oxidativen Stress und schützte so vor durch Hypoxie induzierte mitochondriale Schäden in menschlichen Neuroblastomzellen.62
MPH verringerte nach 5 Tagen die ROS in Mitochondrien von C. elegans, wobei die ROS in den ersten Tagen noch erhöht waren.45
2. Die Stressreaktionskette / Stressphasen
Stressoren lösen eine Stressreaktionskette aus, die in vier Phasen eskalieren kann.63 Überschreitet ein Stressor ein bestimmtes Maß an Intensität, wird die nächsthöhere Ebene aktiviert.1
- Problemwahrnehmung (Vorphase)
- Alarmphase
- Widerstandsphase
- Erschöpfungsphase
Das im Folgenden dargestellte Modell stellt die aufeinander aufbauenden zeitlichen Stufen der Stressreaktion in schematischer, modellhafter Art und Weise dar.
Die Aussage, dass ein Zusammenbruch der Stresssysteme mit einem Hypocortisolismus einhergeht, ist jedoch differenziert zu betrachten. Es ist zwischen dem Cortisolspiegel über den Tag (basaler = tonischer Cortisolspiegel) und der Cortisolstressantwort (phasische Veränderung des Cortisolspiegels auf akuten Stress) zu unterscheiden.
Bei ADHS ist – wie häufig bei chronischem Stress64 – der basale Cortisolspiegel verringert (leichter tonischer Hypocortisolismus). Dies betrifft alle ADHS-Subtypen.
Die phasische (kurzfristige) Cortisolstressantwort ist bei ADHS-I und melancholischer wie psychotischer Depression häufig überhöht (phasischer Hypercortisolismus), während bei ADHS-HI und atypischer wie bipolarer Depression oft eine abgeflachte Cortisolstressantwort (phasischer Hypocortisolismus) besteht.
ADHS-I, melancholische und psychotische Depression sind nach diesseitigem Verständnis keine Störungen, die auf der Alarmphase von Stress stehengeblieben wären. Insofern ist die folgende Darstellung eher beispielhaft für den Fall eines entstehenden Hypocortisolismus zu sehen.
2.1. Problemwahrnehmung (Vorphase, Stressphase 0)
- Wahrnehmungen, die nicht von Erfahrungswerten (abgespeicherten Gedächtnisinhalten) gedeckt sind
- → bewirken eine unspezifische Aktivierung von Neuronen des assoziativen Cortex des PFC
- → Ausbreitung ins limbische System
- → noradrenerge Aktivierung des zentralen (ZNS) und des vegetativen (Sympathikus) Nervensystems
- → mäßige Noradrenalinausschüttung
- aktiviert PFC (Denkfähigkeit erhöht)
- → Bereits sehr leichter Stress erhöht bei Gesunden die Dopaminausschüttung im PFC65
- unterstützt Filterung irrelevanter Informationen (fokussierte Aufmerksamkeit = Wahrnehmungsfähigkeit erhöht)
- unterstützt bei Neuentstehung / Verstärkung bestehender neuronaler Verschaltungen, die bei Problemlösung hilfreich waren
- wenn Problem dadurch nicht gelöst, erfolgt durch weitere noradrenerge Eskalation
→ Übergang in Alarmphase
2.2. Alarmphase (Stressphase 1: weiterer Noradrenalinanstieg aktiviert VNS und HPA-Achse – akuter Stress)
- weiter gestiegener Noradrenalinspiegel im Gehirn
- → dadurch Aktivierung des Hypothalamus (erste Stufe der HPA-Achse)
-
Hypothalamus aktiviert mehrere Stresssysteme
-
CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon)-Ausschüttung des Hypothalamus
- → aktiviert Hypophysen-Vorderlappen = zweite Stufe der HPA-Achse
- Oxytocin- und Vasopressin-Ausschüttung des Hypothalamus
- → aktiviert Vegetatives Nervensystem
-
CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon)-Ausschüttung des Hypothalamus
-
Hypothalamus aktiviert mehrere Stresssysteme
- → stark erhöhter Noradrenalinspiegel stört die Funktion des PFC.6667 Starker Stress beeinträchtigt die Funktion des PFC.68
- → dadurch Aktivierung des Hypothalamus (erste Stufe der HPA-Achse)
-
a. Vegetatives Nervensystem:
- Oxytocin- und Vasopressin-Ausschüttung des Hypothalamus
- neuronal (via Nerven = elektrisch = schnell) an Hypophyse
- → aktiviert Hypophysen-Hinterlappen
Hinterlappen ist Nervengewebe, das die vom Hypothalamus ausgeschütteten Stresshormone Oxytocin und Vasopressin (ADH) zwischenspeichert und zu gegebener Zeit ins Blut freisetzt; Vasopression ist nicht stressrelevant, sondern reguliert über die Nierenfunktion das Flüssigkeitsvolumen des Körpers.- Erhöhter Durst und eine dadurch erhöhte Wasseraufnahme sind häufig beobachtete Stresssymptome.69 Da Stress darauf abzielt, den Blutdruck zu erhöhen, um den Körper optimal auf Kampf oder Flucht vorzubereiten, ist eine erhöhte Flüssigkeitsaufnahme ein unmittelbar sinnvolles Instrument.70 Flüssigkeitsaufnahme verringert die Stressreaktion deutlich.71
Durst wird allerdings nicht als typisches ADHS-Symptom beschrieben. Durst wird im Zusammenhang mit ADHS lediglich zuweilen als milde Nebenwirkung von MPH beschrieben.
- Erhöhter Durst und eine dadurch erhöhte Wasseraufnahme sind häufig beobachtete Stresssymptome.69 Da Stress darauf abzielt, den Blutdruck zu erhöhen, um den Körper optimal auf Kampf oder Flucht vorzubereiten, ist eine erhöhte Flüssigkeitsaufnahme ein unmittelbar sinnvolles Instrument.70 Flüssigkeitsaufnahme verringert die Stressreaktion deutlich.71
-
b. HPA-Achse:
- Vasopressin- und CRH-Ausschüttung des Hypothalamus
- endokrin (via Blut = langsam) an Hypophyse
- → dadurch Aktivierung des Hypophysen-Vorderlappens
Vorderlappen ist Drüsengewebe, das Hormone produziert und freisetzt-
Ausschüttung glandotroper Hormone ins Blut
-
ACTH
→ aktiviert Nebennierenrinde (3. Stufe der HPA-Achse) zur Cortisolausschüttung - β-Endorphin:
kann die dopaminerge Erregungsleitung manipulieren. Dopaminausschüttung in synaptischen Spalt wird erhöht. - daneben Ausschüttung nicht stressrelevanter Hormone:
- FSH (Follikel stimulierendes Hormon)
fördert Eizellenreifung bei Frauen, Spermienentwicklung bei Männern - TSH (Thyroidea stimulierendes Hormon):
stimuliert Schilddrüsenfunktion - LH (luteinisierendes Hormon):
regelt zusammen mit FSH den weiblichen Zyklus - Prolaktin:
stimuliert Wachstum der Brustdrüsen und der Milchproduktion -
Wachstumshormon (GH, Growth Hormon)
fördert Wachstum vor Pubertät und Wachstum der Organe.
- FSH (Follikel stimulierendes Hormon)
-
ACTH
- das bei kurzfristigem wie langanhaltendem Stress ausgeschüttete Vasopressin und der aktivierte Sympathikus fördern ebenfalls die ACTH-Freisetzung
-
Ausschüttung glandotroper Hormone ins Blut
- → dadurch Aktivierung der Nebennierenrinde
- Glucocorticoid-Ausschüttung (Stresshormone, vor allem Cortisol)
- Akuter Stress (Alarmphase) erhöht den Cortisolspiegel phasisch zur Aktivierung eines Problemlöseverhaltens
-
chronischer Stress erhöht den Spiegel von Cortisol und anderen Stresshormonen tonisch und phasisch (Hypercortisolismus)
- Cortisol ist auf Dauer neurotoxisch.72
- Unkontrollierbarer Stress führt bei Gesunden zu starkem Anstieg von Dopamin und Noradrenalin im PFC737475
In lebensbedrohlichen Situationen profitiert das Individuum für Kampf oder Flucht mehr von der Geschwindigkeit von Reaktionen (wie sie die älteren, posterioren Gehirnbereiche leisten) von der Genauigkeit der langsamen analytischen Vorgänge des PFC. Die Verhaltenskontrolle wird daher an diese älteren posterioren Gehirnteile ausgelagert, die instinktiv, spontan und schneller reagieren.
- Glucocorticoid-Ausschüttung (Stresshormone, vor allem Cortisol)
-
Wirkungen von Vegetativem Nervensystem und HPA-Achse
- → durch Cortisol Destabilisierung bestehender neuronaler Verschaltungen
- Vorteil:
- Gedächtnisinhalte, die für Problemlösung weniger hilfreich sind, können leichter gelöscht werden (eingefahrene Bahnen können verlassen werden)
- Nachteil:
- Auflösung bestehender erfolgreicher Problemlösungsstrategien
- mögliche Lösungsfindung ist energieaufwendig, da neu zu erstellen und nicht mehr bzw. noch nicht wieder automatisiert abrufbar
- Vorteil:
- → kurzfristige Stimulation der Gluconeogenese
- Anstieg des Blutzuckerspiegels
- → erhöhte Verfügbarkeit von Kohlehydraten
- Anstieg des Blutzuckerspiegels
- → Aktivierung verschiedener peripherer Organe
- Blutdruckerhöhung
- sauerstoffreiches Blut zu Skelettmuskeln
- Blutzufuhr Haut und Eingeweide reduziert
- Gerinnungsfähigkeit des Bluts wird erhöht
- Vorteil: weniger Blutverlust bei Verletzungen
- Nachteil: erhöhtes Thrombose- und Herzinfarktrisiko
- Unterdrückung entzündlicher Abwehrmechanismen durch Cortisol
- Vorteil: kein kurzfristiger Energieverlust durch Immunreaktion
- Nachteil: Schwächung der zellgebundenen spezifischen Immunabwehr (erhöhtes Infektionsrisiko); noch Wochen nach Stresserfahrung nachweisbar
- Hormonrezeptoren verschiedener Bereiche nehmen glandotrope Hormone aus Blut auf, was Ausschüttung effektorischer Hormone bewirkt.
- Schilddrüse
→ Thyroxinausschüttung - Keimdrüsen
→ Ausschüttung von Östrogen und Progesteron (Frauen) bzw. Testosteron (Männer) - Nebennierenrinde
→ Cortisolausschüttung - Bauchspeicheldrüse
→ Verdauungssekret (Pankreassaft), Glukagon, Insulin, Somatostatin, pankreatisches Polypeptid, Ghrelin - Thymus
→ Ausschüttung von Thymosin, Thymopoetin I und II - Nieren A
→ Renin-Ausschüttung - Magen-Darm-Trakt
→ Gastrin-Ausschüttung
- Schilddrüse
- TH1-/TH2-Shift
Unterdrückung der Entzündungsreaktionen (TH1)
Stärkung der Fremdkörperabwehr (TH2)
- wenn Problem dadurch nicht gelöst wird: Übergang in Widerstandsphase
- → durch Cortisol Destabilisierung bestehender neuronaler Verschaltungen
2.3. Widerstandsphase (Stressphase 2 – chronisch werdender Stress)
- erhöhte Ausschüttung von Mineralocorticoiden als Spätwirkung ständiger ACTH-Ausschüttung
- Glucocorticoidbildung (Cortisol) wird unterdrückt
- → fehlende Unterdrückung der durch CRH erhöhten Entzündungsreaktionen
- Folge: häufigere Entzündungsprobleme
z.B. Magen- oder Darmgeschwüre, Neurodermitis, Asthma etc.
- Folge: häufigere Entzündungsprobleme
- → fehlende Bekämpfung von Fremdkörpern
- Folge: Allergien können jetzt häufiger auftreten
- → fehlende Unterdrückung der durch CRH erhöhten Entzündungsreaktionen
- wenn Problem dadurch nicht gelöst wird: Übergang in Erschöpfungsstadium
2.4. Erschöpfungsphase (Stressphase 3 – chronisch gewordener Stress)
- Zusammenbruch der hormonellen Steuerung
- Noradrenalinmangel
- Dopaminmangel
- Serotoninmangel
- Schrumpfung (Atrophie) der Nebennierenrinde
- Cortisolmangel (basaler Hypocortisolismus)
Dieses Modell ist lediglich ein Beispiel für eine mögliche Art des Zusammenbruchs der Stresssysteme. Bei manchen Menschen geht ein Zusammenbruch der Stresssysteme mit einer abgeflachten endokrinen Stressantwort (wie hier dargestellt) und bei anderen mit einer überhöhten endokrinen Stressantwort einher. Nach unserem Eindruck ist dies keine Frage der Stressphasen, sondern eine Frage, in welche Richtung das zusammenbrechende Stresssystem fällt.
Welche Stressoren in einem Individuum auf welchem (neuronalen/neurobiologischen) Weg welche Stressreaktionen auslösen, hängt von Genen, epigenetischen Veränderungen und Umweltfaktoren ab.76 Außerdem dürfte das Alter des Individuums ein Rolle spielen.
Allen Wegen gemeinsam ist, dass lang anhaltender (chronischer) Stress in der Widerstands- und Erschöpfungsphase zu tiefgreifenden dauerhaften schädlichen Veränderungen führt.
Eine ausführliche Darstellung der vielfältigen einzelnen Schadensmechanismen findet sich unter
⇒ Stressschäden – Auswirkungen von langanhaltendem Stress.
3. Veränderte Hormon- und Neurotransmitterwerte je nach Stressphase
3.1. Zusammenbruch des Cortisolsystems über die Stressphasen
Stress hat verschiedene Phasen. Junger (akuter) Stress hat ein anderes Cortisoltagesbild (basale Cortisolspiegel) als chronischer oder lang anhaltender adaptierter Stress.
Unbelasteter Zustand:77
- morgens: ∅ 7,5 ng/ml
- mittags: ∅ 3 ng/ml, kurzes Mittagshoch auf 4 ng/ml
- abends: ∅ 1,5 ng/ml
Akuter Stress (nicht dauerhaft):77
- morgens: ∅ 12 ng/ml
- mittags: ∅ 3 ng/ml, kurzes Mittagshoch auf 4 ng/ml
- abends: ∅ 1,5 ng/ml
Chronischer Stress (noch nicht zu lange andauernd, noch nicht adaptiert):77
- morgens: ∅ 9 ng/ml
- mittags: ∅ 8 ng/ml, kurzes Mittagshoch auf 10 ng/ml
- abends: ∅ 3 ng/ml
Chronischer Stress (lange andauernd, bereits adaptiert – BurnOut):77
- morgens: ∅ 4 ng/ml
- mittags: ∅ 2,5 ng/ml, kurzes Mittagshoch auf 3 ng/ml
- abends: ∅ 1,5 ng/ml
Gleichlautende Ergebnisse erzielte ein Studie zur Veränderung der Cortisolstressantwort über die Dauer von Depressionen bei Jugendlichen. Neu auftretende Depressionen korrelierten mit einer erhöhten Cortisolreaktion, während chronische Depressionen mit einer abgeflachten Cortisolstressantwort korrelierten. Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass depressive Probleme zunächst die Cortisol-Reaktionen auf Stress erhöhen, dass sich dieses Muster jedoch umkehrt, wenn depressive Probleme über längere Zeiträume bestehen bleiben.78
Die Entwicklung der Cortisolspiegel bei adaptierten lang anhaltendem chronischem Stress zeigt eine Downregulation des Cortisolsystems. Das dürfte dem entsprechen, was bei ADHS zugleich mit dem Dopaminsystem passiert: bei ADHS sind die Dopaminspiegel (im Vergleich zu Nichtbetroffenen) systematisch verringert. Bei akutem Stress sind die Dopaminspiegel zunächst erhöht, eine zu lange Belastung mit zu viel Dopamin (Noradrenalin, Serotonin) führt zu einer Downregulation, d.h. die Neurotransmitterspiegel sinken ab – die Stresssymptomatik jedoch bleibt nicht nur, sondern verstärkt sich, da die Stressregulation, die gesunde Hormon- und Neurotransmittersysteme leisten können, beeinträchtigt ist.
Leider sind die basalen Cortisolwerte von Mensch zu Mensch so unterschiedlich, dass aus Cortisolwertmessungen eines einzelnen Menschen keine individuelle Diagnose abgelesen werden kann. Misst man jedoch viele Menschen in einer Gruppe und ermittelt die Durchschnittswerte (∅), wird das Bild der Veränderung der Cortisolspiegel im Zusammenhang mit den gemeinsamen Eigenschaften der Gruppe deutlich.
3.2. Zusammenbruch von Neurotransmittersystemen über die Stressphasen
Vergleichbare Veränderungen wie mit den Cortisolwerten über die verschiedenen Stressphasen zeigen sich offenbar auch bei Neurotransmittersystemen. Während akuter Stress mit erhöhten Dopamin- und Noradrenalinwerten korreliert, ist chronischer Stress – zumindest bei bestimmten Stressoren – mit verringerten Noradrenalin- und Dopaminspiegeln verbunden.
3.2.1. Veränderungen des dopaminergen Systems durch chronischen Stress
Akuter Stress bewirkt Einschränkungen der Exekutivfunktionen über erhöhte Dopaminspiegel, die den dlPFC beeinträchtigen.79 Chronischer Stress bewirkt verringerte Dopaminspiegel im PFC, welche die Funktion des Arbeitsgedächtnisses im dlPFC und damit der Exekutivfunktionen beeinträchtigen.80
3.2.2. Veränderungen des noradrenergen Systems durch chronischen Stress
Ein Beispiel für lang anhaltende Veränderungen des noradrenergen Systems durch chronischen Stress ist die Noradrenalin-Rezeptor-Hypothese der Depression, die nachfolgend anhand der Beschreibung von Fuchs, Flügge (2004) dargestellt wird:81
- Stress erhöht die Noradrenalin-Konzentration.
- Bei dauerhaft erhöhtem Noradrenalinspiegel verringert sich zunächst die Anzahl der alpha2-Adrenozeptoren in den Zielregionen der noradrenergen Nervenzellen (Downregulation).
Die Downregulation erfolgt präsynaptisch (an den noradrenergen Terminalien) wie postsynaptisch (z.B. glutamaterge Neurone). - Die präsynaptische Downregulation beeinträchtigt die negative Rückkopplungshemmung der Noradrenalinausschüttung. Deshalb bleiben die noradrenergen Nervenzellen bei einer Stressaktivierung nach der Downregulation der Noradrenalin-Rezeptoren dauerhaft aktiviert.
- Die dauerhafte Aktivierung führt zu einer Erschöpfung der Noradrenalin-Nervenzellen, sodass die Noradrenalinmenge nun sinkt.
- Als Reaktion hierauf können sich die postsynaptischen (noradrenergen) alpha2-Adrenozeptoren wieder heraufregulieren.
4. Stressauslöser (Stressoren)
Stressoren können Infektionen bzw. Verletzungen sein, ebenso wie psychische Belastungen.
Umwelteinflüsse werden vor allem als Stressoren wahrgenommen, wenn eine Situation
- neu82
- unvorhersagbar82
- unkontrollierbar8382
- mehrdeutig82
oder - mit dem Risiko sozialer Ablehnung verbunden ist.83
4.1. Unkontrollierbar
Insbesondere eine als unkontrollierbar wahrgenommene Bedrohung des Selbstwertes führt zu Stress und in der Folge zu vermehrter Cortisolausschüttung.8485 Lärm oder Filme lösen dagegen weniger häufig cortisolergen Stress aus, da sie selten unkontrollierbar und selbstbild- oder existenzbedrohend sind.
In heutiger Zeit kann unkontrollierbarer Stress z.B. durch Scheidung (Ablehnung, Ausschluss aus Familie), schwere Krankheiten (die von der Körperseite her genau dieselben Stresssysteme adressieren wir psychischer Stress von außen), Mobbing (Ausschluss aus der Gruppe) oder schwere Probleme in Schule oder Beruf hervorgerufen werden. Kinder, die nach einem Umzug in der neuen Schule keinen Anschluss finden oder die in ihrer Klasse gemobbt werden, erleben sich existenziell als Außenseiter und nicht-dazugehörend. (Unerkannt) Hochbegabte werden aufgrund ihres spezifischen Andersseins häufig gemobbt und finden schwerer gleichartig denkende und deshalb seltener Anschluss. Hochbegabung führt typischerweise zur Ausprägung spezifischer Charaktertraits, was wesentlich gravierender zu einem Gefühl des Andersseins führen kann als das etwas schnellere Denken. Mehr hierzu unter ⇒ Hochbegabung und ADHS.
4.2. Risiko der Ablehnung / des Nicht-Dazu-Gehörens
Nicht dazuzugehören oder abgelehnt zu werden, ist der stärkste Stressor, der in Studien reproduzierbar ist. (Metaanalyse von k = 208 Studien)86 Hintergrund ist einmal mehr die Millionen Jahre alte Prägung unserer Stresssysteme aus der Zeit vor der Sesshaftigkeit. Aus einer Nomadengruppe ausgeschlossen zu werden war mit einem hohen Todesrisiko verbunden – für Frauen noch mehr als für Männer, die häufiger als Jäger und Krieger ausgebildet waren und daher einige Tage allein leben konnten. Wahrscheinlich haben Frauen deshalb spezifische Stressreaktionen wie “Tend and Befriend”.
4.3. Endokrine Stressreaktion und einzelne Stresselemente
Die cortisolerge und adrenerge Stressreaktion ist am stärksten und langanhaltendsten, wenn die Faktoren unkontrollierbar und drohende soziale Ablehnung zusammenkommen.83
Die Ausschüttung von Adrenalin seitens des sympathischen Nervensystems korreliert bei gesunden Probanden und passiv empfangenem Stress (ohne eigene Einflussnahmemöglichkeit) linear mit der subjektiven Stresswahrnehmung. Der Adrenalin-Stress-Pegel ist ebenfalls von den genannten Aktivierungsfaktoren abhängig. aber anders als das blutdruckstabilisierende Noradrenalin, gewöhnungsempfänglich.87
Adrenalin- und Noradrenalinspiegel reagieren nicht nur auf unangenehme Aufregung, sondern ebenso auf angenehme Aufregung. Eine anregende Komödie hebt den Adrenalinspiegel bei Gesunden ebenso wie ein Horrorfilm, wobei ein besonders angstauslösender Film die höchsten Werte erzielt.88 Ein gewinnträchtiges Bingo-Spiel erhöht den Adrenalinspiegel sogar stärker als ein kognitiver Leistungstest unter Zeitdruck.89
Fallschirmspingerneulinge haben unmittelbar vor ihrem allerersten Sprung einen 10-fach erhöhten Cortisolspiegel. Mit weiteren Sprüngen verringert sich dieser Wert, bleibt aber vor jedem Sprung erhöht.
Nachmittags ist eine stressbedingte Cortisolerhöhung am ausgeprägtesten.83
Psychologische Tests sprechen (psycho)sozialen Stress (öffentliche Rede / lautes Kopfrechnen vor einer dies beurteilenden Gruppe) an, auf den Cortisol bevorzugt anspricht. Dies adressiert das Motiv der Zugehörigkeit. Beim ersten Testdurchgang haben 80 % der Probanden einen erhöhten Cortisolspiegel. Testwiederholungen bewirken mittels Verringerung von Neuheit und Unvorhersehbarkeit eine Verringerung, sodass beim 3. bis 5. Durchgang nur noch ein Drittel der Probanden einen erhöhten Cortisolspiegel hat – bei aber identischer subjektiver Stressempfindung und identischen übrigen Parametern (Adrenalin, Noradrenalin, Puls).90
Ein signifikanter Unterschied ergibt sich indes bei Tests von in diesem Zustand zu lernenden Vokabeln. Die Probanden ohne Cortisolanstieg hatten eine einwandfreie Gedächtnisleistung, während jenes Drittel der Probanden mit Cortisolanstieg (und von diesen wiederum vor allem die weiblichen Mitglieder) zugleich auch erhebliche Gedächtniseinbussen aufwies.
Diese Wirkung konnte bei anderen Probanden durch eine Cortisolgabe reproduziert werden.90 Entgegen der Annahme, dass dies auf eine Hemmung von Abrufprozessen zurückzuführen sei91 zeigen sich kaum Abrufbeeinträchtigungen, wenn das Cortisol erst nach dem Lernen der Vokabeln oder kurz vor deren Abruf gegeben wird, weshalb anzunehmen ist, dass Cortisol den Lernvorgang / Abspeicherungsvorgang beeinträchtigt.
Die Probanden mit erhöhtem Cortisolspiegel waren in Persönlichkeitsfragebögen selbstunsicherer, weniger extrovertiert und tendenziell neurotischer.90 Auch dies deutet auf eine Korrelation zwischen Introversion und erhöhter Cortisolstressantwort hin, wie sie bei ADHS-I häufiger aufzutreten scheint.
5. Stressbeendigung
Die Stresssysteme des Menschen sind auf die Bewältigung kurzfristiger Notsituationen ausgelegt. Hierfür werden Kraftreserven aktiviert und Notmaßnahmen in Gang gesetzt.
Eine zu lange Aktivierung der Stresssysteme ist jedoch schädlich. Wer dauerhaft auf “130 %” läuft, geht an dieser Überlastung kaputt.
Das Stresshormon Cortisol, das (nach den Stresshormonen CRH und ACTH) als letztes Stresshormon am Ende der Kette der HPA-Achse ausgeschüttet wird, hat neben der Aufgabe der Aktivierung bestimmter bei Stress sinnvoller Notverhaltensweisen (⇒ Stressnutzen – der überlebensfördernde Zweck von Stresssymptomen) noch eine weitere Aufgabe: Cortisol fährt die Stresssysteme wieder herunter und bewirkt damit, dass auch das Cortisol selbst nicht weiter ausgeschüttet wird.
Diese Beendigung ist wichtig, denn Stresshormone sind bei zu langer Einwirkung neurotoxisch, also giftig.
Bei ADHS-HI ist diese Beendigung des Stresszustands beeinträchtigt. ADHS-HI- und ADHS-C-Betroffene (mit Hyperaktivität) haben auf akute Stressoren häufig eine zu geringe Cortisolantwort, die in der Folge die Stressachse nicht richtig abschaltet.
ADHS-I-Betroffene (ohne Hyperaktivität) haben dagegen eine zu hohe Cortisolantwort, was eine zu frühe / zu häufige Abschaltung der Stresssysteme bewirkt. Die parallel hierzu bestehende zu hohe Noradrenalinantwort bewirkt eine zu schnelle / zu häufige Abschaltung des PFC.
Mehr zu CRH, Cortisol und den Cortisolstressantworten bei ADHS unter ⇒ Die HPA-Achse / Stressregulationsachse.
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