Darm-Hirn-Achse und ADHS
Das Darmnervensystem enthält mit 100 Millionen Neuronen in etwas so viele wie das Rückenmark. Beide stellen daher eigenständige Nervensysteme dar.
Die meisten Darmnervensystem-Neuronen befinden sich in:1
- Plexus myentericus Auerbach (in der Muskelwand)
- Plexus submucosus Meissner (an die Schleimhaut anschließend).
Spezialisierte Neuronen des Darmnervensystems beeinflussen innerhalb des Darms (je nach Transmitter und Rezeptor fördernd oder hemmend):1
- Motorik (verschiedene Bewegungsmuster)
- Sekretion (Wasser, Elektrolyte, Hormone)
- Perfusion (Gefäßtonus, die Durchblutung anregend (Vasodilatation) oder hemmend (Vasokonstriktion))
- Resorption
- Signalstoffbildung
Das Darmmikrobiom hat darüber hinaus weitreichende interaktive Auswirkungen auf den menschlichen Körper:2
- gastrointestinal
- Stoffwechsel
- Nährstoffaufnahme
- Kohlenhydrate
- Proteine
- Gallensäure
- Vitamine
- weitere bioaktive Verbindungen
- nicht gastrointestinal (insbesondere in der kindlichen Entwicklungszeit und dann unumkehrbar, bereits vorgeburtlich durch das mütterliche Mikrobiom)
- Gehirnentwicklung
- Reifung des Immunsystems
- Reifung des neuroendokrinen Systems
Das enterische Nervensystem ist über den Vagusnerv mit dem Körper und dem Gehirn verbunden.
Vagale Afferenzen beeinflussen:3
- angstähnliches und angstbezogenes Verhalten
- Links-Rechts-Unterscheidung und Umkehrlernen
- sensomotorisches Gating (Pre-Pulse-Inhibition)
- Aufmerksamkeitskontrolle
- bei assoziativem Lernen
- bei konditionierter Geschmacksaversion
- die Genexpression im Nucleus accumbens
- die Auswirkungen von L. reuteri auf das Sozialverhalten von Autismus-Maus-Modelle (Verbesserung wird durch Vagotomie unterbunden)
Die Darm-Hirn-Achse spielt insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter und in der Kindheit eine Rolle bei der Gehirnentwicklung.4 Das Mikrobiom der Mutter, die Art der Geburt und die Umgebung beeinflussen das Mikrobiom des Kindes. Stillen und gesunde Ernährung versorgen den Darm des Kindes mit wichtigen probiotischen Elementen, während Antibiotika die Darmflora (zer)stören können. Weiter beeinflusst die Darmflora die Neurogenese.4 Mikrobiota sind für eine normale Stressreaktion, angstähnliche Verhaltensweisen, Sozialverhalten und Kognition notwendig und regulieren die Homöostase des zentralen Nervensystems über die Immunfunktion und die Integrität der Blut-Hirn-Schranke.5
Stress kann die Darm-Hirn-Achse erheblich beeinflussen.3
Da Mikrobiota Symptome / Verhaltensweisen nicht nur verbessern, sondern auch verschlechtern können6789, ist dringend davor zu warnen, ohne Bedacht Mikrobiota einzunehmen. Alles, was wirkt, kann auch schaden. Daneben können die Gendisposition und die Ernährungsweise zwischen Vorteilen und Nachteilen eines erhöhten oder verringerten Mikrobiombestandteils unterscheiden. Zuweilen hängt die Wirkung eines Darmbakteriums sogar vom verwendeten Stamm ab.
Befremdlich finden wir die Tatsache, dass es nahezu keine Studien gibt, die eine Verschlechterung von Symptomen oder neurophysiologischen Parametern durch die Gabe von Mikrobiota berichten. Da eine Gabe von Mikrobiota mit der Folge einer Erhöhung des relativen Bestands einer Bakterienart zwangsläufig mit einer relativen Verringerung des Bestands anderer Bakterienarten einhergeht, sehen wir hier das Risiko einer verzerrten Berichterstattung oder dass die Veränderungen in Wirklichkeit womöglich nicht die Folge der Gabe bestimmter Bakterienarten sind, sondern die einer damit einhergehenden anderen Einwirkung, wie z.B. einer Veränderung des Mikrobioms an sich, möglicherweise aufgrund einer Erhöhung der Diversität.10
- 1. Darm-Hirn-Achse
- 2. Wodurch die Darm-Hirn-Achse beeinflusst wird
- 3. Wirkwege des Darmmikrobioms auf das Gehirn
- 4. Darmmikrobiota bei ADHS
- 5. Darmmikrobiom und andere Störungsbilder
1. Darm-Hirn-Achse
1.1. Mikrobiom
Im menschlichen Körper leben Billionen an Mikroorganismen („Mikrobiota“), die zusammen mit ihrem Genom “Mikrobiom” genannt werden. Das Mikrobiom ist die Gesamtheit aller Bakterien, Archaeen, Pilze, Parasiten, Viren und Protozoen sowie ihrer Gene und Stoffwechselprodukte.
Die Mikrobiota des Verdauungstrakts umfassen mehr als 100 Billionen Mikroorganismen aus 300-3000 verschiedenen Arten. Diese verfügen zusammen über 200 Mal so viele Gene wie der Mensch.2
Die Zusammensetzung des Mikrobioms ist bei jedem Menschen anders und verändert sich laufend.
1.2. Mikrobiota / Darmbakterien
Zu den Darmbakterien gehören hauptsächlich die sechs großen Phyla:2
- Bacteroidetes (dominierend)
- Proteobacteria (dominierend)
- Actinomycetes
- Verrucomicrobia
- Fusobacteria
Tabelle: Systematik der Bakterien
1.3. Darmneuronen und verbindende Nerven zum Gehirn
Innerhalb des Darms gibt es zwei Arten von sensorischen Nerven:11
- extrinsische primäre afferente Neuronen
Die Somata dieser Nervenzellen liegen außerhalb des Darms
beim Menschen: 50.000 - intrinsische primäre afferenten Neurone (IPANs)
Die Somata dieser Nervenzellen liegen innerhalb der Darmwand
beim Menschen: 100.000.000
Bestimmte Bakterien und bakterielle Komponenten im Darmlumen können sowohl die extrinsischen als auch die intrinsischen intestinalen sensorischen Systeme modulieren und dadurch Peristaltik, Nozizeption, Gehirnchemie und Stimmung beeinflussen.11
Als Kommunikationsmittel werden unter anderem verwendet:11
- Serotonin
- Substanz P
- Somatostatin
- Cholecystokinin (CCK)
- GABA
- ATP
- Glucagon-ähnliches Peptid-1 (GLP-1)
- Peptid YY (PYY)
- Hormone
- Leptin
- Orexin
Folgende Mikrobiota-Stoffwechselprodukte erhöhten in vitro die Serotoninsynthese im Darm:12
- α-Tocopherol
- Butyrat
- Cholat
- Desoxycholat
- p-Aminobenzoat
- Propionat
- Tyramin
1.3.1. Vagusnerv
Die Kommunikation der Darm-Hirn-Achse (englisch: Gut-Brain-Axis) ist bidirektional. Das Gehirn beeinflusst Top-down die motorischen, sensorischen und sekretorischen Funktionen des Magen-Darm-Trakts über efferente Fasern des Vagusnervs. Der Darm beeinflusst Bottom-up die Funktion des Gehirns, insbesondere der Amygdala und des Hypothalamus, über die afferenten vagalen Fasern.13
Die in allen Schichten der Darmwand vorhandenen afferenten Fasern des Vagusnervs durchqueren nicht die Epithelschicht des Darms, sodass die luminalen Mikrobiota nicht direkt mit ihnen interagieren können. SCFA können die Epithelbarriere überwinden und die Chemorezeptoren des Vagusnervs aktivieren.14
Enteroendokrinen Zellen setzen nach Stimulierung mikrobieller Mustererkennungsrezeptoren auf ihrer luminalen Seite zudem parakrine Faktoren frei, die die Chemorezeptoren des Vagusnervs aktivieren können, wie:14
- Serotonin (5-HT)
- Cholecystokinin (CCK)
- Glucagon-ähnliches Peptid-1 (GLP-1)
- Peptid YY (PYY)
Daneben könnten intrinsische primäre afferente Neuronen (IPAN) des Darmnervensystems (die die Mehrheit der die Darmschleimhaut innervierenden sensorischen Fasern ausmachen) mikrobielle Signale entgegennehmen und in der Folge über intramurale synaptische Übertragung die vagale Aktivität modulieren.14
Der Vagusnerv besitzt eine nikotinische intramurale sensorische Synapse, die Signale von IPAN entgegennehmen kann. Die Mehrzahl der durch L. rhamnosus hervorgerufenen vagalen afferenten Aktionspotenziale hängt von dieser intramuralen synaptischen Übertragung ab und kann durch eine nikotinische oder vollständige synaptische Blockade unterbrochen werden.15
1.3.2. Spinalnerven
Neben dem Vagusnerv verbinden auch Spinalnerven das Darmnervensystem mit dem Gehirn. Spinale Afferenzen sind insbesondere in Bezug auf die mikrobielle Modulation der viszeralen Schmerzwahrnehmung relevant.11
Einer der wichtigsten Schmerz-Rezeptoren im Darm ist das Transient Receptor Potential Vanilloid 1 (TRPV1). TRPV1 wird im Gastrointestinaltrakt hauptsächlich in spinalen und vagalen primären afferenten Neuronen exprimiert. L. reuteri DSM 17938 verringerte die Feuerungsfrequenz nozizeptiver spinaler Fasern, nicht aber die Feuerungsfrequenz vagaler Fasern im Mesenterialnervenbündel. Dies beruht wahrscheinlich einer potenten spezifischen direkten oder indirekten Blockade von TRPV1-Ionenkanälen in extrinsischen spinalen primären sensorischen Fasern und ihren entsprechenden DRG-Zellkörpern. Die antinozizeptive Wirkung des L. rhamousus JB-1-Stammes war dagegen unabhängig vom TRPV1-Antagonismus.11
1.3.3. Rückenmark
Neben dem Vagusnerv und den Spinalnerven dient auch das Rückenmark als afferente Verbindung vom Darmnervensystem zum Gehirn.11
2. Wodurch die Darm-Hirn-Achse beeinflusst wird
2.1. Vagotomie
Wird der Vagusnerv, der das Darmnervensystem mit dem Gehirn verbindet, operativ unterbrochen (Vagotomie), bewirkt dies Verhaltensveränderungen:3
- Zunahme psychiatrisch bedingter Störungen
- neurogene Darmstörungen häufiger16
- verringerte Lokomotorik während der Dunkelphase von Nagetieren
- erhöhte Noradrenalin-Blutplasmawerte
- basal
- nach Immobilisationsstress
- verringerte Proliferation und verringertes Überleben neugeborener Zellen, verringerte Anzahl unreifer Neuronen
- Aktivierung von Mikroglia im Gyrus dentatus des Hippocampus
Bei durch Salmonella typhimurium ausgelöster Darmentzündung, die angstähnliches Verhalten nach sich zieht, bewirkte eine einseitige zervikale Vagotomie:17
- verringerte angstähnliche Verhaltensweise
- verringerte neuronale Aktivierung im Nucleus des Tractus solitaire und in der Amygdala
- Abschwächung der abnormen Gliazellenaktivierung in Hippocampus und Amygdala
- verringerte Serum-Endotoxinwerte
- Anstieg der Salmonellenkonzentration in der Milz verringert
- veränderte Expression von Entzündungszytokinen (u.a. IL-6, IL-1β und TNF-α) im Magen-Darm-Trakt und im Gehirn
- verringerte Expression von IL-22 und CXCL1
- erhöhte Spiegel nützlicher Darmmikrobiota (u.a. Alistipes und Lactobacillus)
- erhöhte GABA-Synthese im Darm
- Gabe von GABA replizierte die positiven Auswirkungen der Vagotomie auf die Verringerung der Darmentzündung und des angstähnlichen Verhaltens bei infizierten Mäusen
- Blockade der GABA-Rezeptoren durch Picrotoxin hob die schützende Wirkung der Vagotomie gegen Darmentzündungen auf, ohne das angstähnliche Verhalten zu beeinflussen
2.2. Antibiotika
Antibiotika verändern die Darmmikrobiotika. Sie beeinflussen nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen deren Auswirkungen auf das Gehirn.18
Eine orale Gabe der Antibiotika Neomycin und Bacitracin zusammen mit dem Antimykotikum Primaricin bewirkte bei erwachsenen BALB/c-Mäusen:19
- vorübergehende Veränderung der Darmmikrobiota-Zusammensetzung
- verstärkter Erkundungstrieb
- verringerte Ängstlichkeit
- BDNF-Spiegel
- verringert in Amygdala
- erhöht im Hippocampus
- Fäkaltransplantation in anderen Mausstamm verursachte bei diesem gleichartige Verhaltensveränderungen
Mäuse, die ab der Entwöhnung (21. postnataler Tag) laufend mit einem Antibiotikacocktail behandelt wurden, zeigten:20
- verarmte und umstrukturierte Darmmikrobiota
- weniger angstähnliches Verhalten
- weniger kognitive Defizite
- erhöhten Tryptophan- und verringerten Kynureninspiegeln im Serum
- verringerte Expression von BDNF, Oxytocin und Vasopressin im Gehirn
Eine Gabe des Antibiotikums Vancomycin in der frühen Lebensphase (4. bis 13. postnataler Tag) an Ratten zeigte:21
- angstähnliches Verhalten unverändert
- kognitive Leistungen unverändert
- langfristiger Anstieg der viszeralen Hypersensibilität nur bei Männchen
- verringerte Alpha-2-Adrenozeptoren und TRPV1 im lumbo-sakralen Abschnitt des Rückenmarks im Erwachsenenalter
Rifaximin verhinderte eine durch chronischen Stress hervorgerufene viszerale Hypersensibilität, Schleimhautentzündung und beeinträchtigte Schleimhautbarrierefunktion bei Ratten22
- dies korrelierte mit Erhöhung von Lactobacillus im Ileum
Neomycin verhinderte die viszerale Hypersensitivität dagegen nicht22
2.3. Vagusnervstimulation
Eine Vagusnervstimulation ist in Europa zur Behandlung von medikamentenresistenter Epilepsie und refraktärer Depression zugelassen.
Für eine Vagusnervstimulation werden operativ in Vollnarkose Elektroden am linken Vagusnerv sowie ein Generator samt Kabel unter die Haut implantiert.
Eine Vagusnervstimulation beeinflusst / wirkt bei:3
- die Stimmungsregulierung
- die Schmerzwahrnehmung (chronische Schmerzen)
- Morbus Crohn
- bestimmten Epilepsien
- erhöht die Neurogenese im Hippocampus von Erwachsenen
- moduliert die Freisetzung von Noradrenalin, 5-HT und Dopamin in Hirnregionen, die mit Angst und Depression in Zusammenhang stehen
- erhöht die Expression von BDNF im Hippocampus, was depressionsähnliche Verhaltensweisen bei Tieren mit chronischem Immobilisationsstress verbesserte
- beeinflusst das Belohnungsverhalten von Mäusen
2.4. Nahrung
Energiereiche Nahrung scheint in Kombination mit bestimmten Bakterienstämmen einerseits und mit ADHS andererseits reaktives aggressives Verhalten zu fördern.23
2.5. Kurzkettige Fettsäuren, SCFA
Zu den primären Funktionen der Mikrobiota gehören:24
- Schutz vor Krankheitserregern durch Steigerung der Schleimproduktion und damit Stabilisierung der Darm-Blut-Schranke
- Unterstützung des Immunsystems
- Produktion von Vitaminen
- Produktion von kurzkettigen Fettsäuren (SCFAs) aus unverdaulichen Kohlenhydraten (“Ballaststoffen”).
Eine ballaststoffarme Diät verringert den SCFA-Spiegel, ebenso tun dies Antibiotika.
SCFA können die Chemorezeptoren des Vagusnervs aktivieren. Die in allen Schichten der Darmwand vorhandenen afferenten Fasern des Vagusnervs durchqueren nicht die Epithelschicht des Darms, sodass die luminalen Mikrobiota nicht direkt mit ihnen interagieren können. SCFA können die Epithelbarriere überwinden.14
Kurzkettige Fettsäuren sind:
Kurzschreibweise der Fettsäure | Trivialname | Systemischer Name | Trivialname Salz/Ester | Systemischer Name Salz/Ester | chemische Formel | typischer Plasmawert25 |
---|---|---|---|---|---|---|
C1:0 (keine SCFA) | Ameisensäure | Methansäure | Formiate | Methanoate | HCOOH | |
C2:0 | Essigsäure | Ethansäure | Acetate | Ethanoate | CH3COOH | 64 μM |
C3:0 | Propionsäure | Propansäure | Propionate | Propanoate | CH3CH2COOH | 2.2 μM |
C4:0 | Buttersäure | Butansäure | Butyrate | Butanoate | CH3(CH2)2COOH | 0.54 μM |
C4:0 | Isobuttersäure | 2-Methylpropansäure | Isobutyrate | 2-Methylpropanoate | (CH3)2CHCOOH | 0.66 μM |
C5:0 | Valeriansäure | Pentansäure | Valerate | Pentanoate | CH3(CH2)3COOH | 0.18 μM |
C5:0 | Isovaleriansäure | 3-Methylbutansäure | Isovalerate | 3-Methylbutanoate | (CH3)2CHCH2COOH | 0.40 μM |
C6:0 | Capronsäure | Hexansäure | Capronate | Hexanoate | CH3(CH2)4COOH | 0.34 μM |
Beim Menschen machen Acetate, Propionate und Butyrate 95 % der SCFA aus, im Verhältnis 3:1:1.3 Eine neuere Studie fand andere und detailliertere Unterschiede, die in der obígen Tabelle dargestellt sind.25
SCFA behoben die Veränderungen, die chronischer psychosozialer Stress an der Darm-Hirn-Achse verursachte.26 SCFAs
- milderten die durch psychosozialen Stress ausgelösten Veränderungen im Belohnungsverhalten
- erhöhten die Reaktionsfähigkeit auf einen akuten Stressor
- erhöhten die In-vivo-Darmdurchlässigkeit
- wirkten antidepressiv
- wirkten anxiolytisch
- beeinflussten nicht die stressbedingte Zunahme der Körpergewichts
2.6. Probiotika
Es gibt Hinweise, dass bei einer Gabe von Präbiotika eine Wirkung (im Gehirn) erst nach mehreren Wochen eintritt, vergleichbar der Wirklatenz von Antidepressiva.27 Mehrere Wochen nach dem Absetzen hatten manche, aber nicht alle Neurotransmitterspiegel im Gehirn wieder den ursprünglichen Wert angenommen.
2.7. Fäkaltransplantation
Keimfrei aufgewachsene Nagetiere haben zwar:11
- eine veränderte Gehirnchemie
- eine erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke
- ein unterentwickeltes Darmnervensystem (ENS)
- eine verringerte periphere 5-HT-Produktion
- eine veränderte Darmmotilität und -physiologie
- zahlreiche Defizite des Immunsystems.
Gleichwohl sind sie besonders geeignet, die Auswirkungen von Fäkaltransplantationen zu untersuchen und haben gezeigt, dass der Transfer der Darmmikrobiota in keimfreie Tiere Verhaltensmerkmale der Spendertiere übertragen kann.11
2.8. Darmflora und Stress
Mikrobiota sind für eine normale Stressreaktion, angstähnliche Verhaltensweisen, Sozialverhalten und Kognition notwendig und regulieren die Homöostase des zentralen Nervensystems über die Immunfunktion und die Integrität der Blut-Hirn-Schranke.5
Vagusnerv und HPA-Achse beeinflussen sich gegenseitig.
Eine Vagalnervstimulation3
- erhöhte bei Nagetieren die Expression von CRF mRNA im Hypothalamus
- erhöhte die Plasmaspiegel ACTH und Corticosteron auffällig
Psychischer Stress erhöhte in Tiermodellen die Durchlässigkeit des Darms und bewirkte eine Verlagerung von Darmbakterien in den Wirt. Die Aktivierung Immunantwort aufgrund der Exposition gegenüber Bakterien und bakteriellen Antigenen jenseits der Epithelbarriere bewirkt eine proinflammatorische Zytokinsekretion und aktiviert schließlich die HPA-Achse.28
Das Darmmikrobiom ist für die Entwicklung und Funktion der HPA-Achse (Stress-Achse) von wesentlicher Bedeutung.292
Keimfrei aufgewachsene Mäuse zeigen eine übertriebene HPA-Achsen-Reaktion und eine verringerte Empfindlichkeit gegenüber negativen Rückkopplungssignalen. Früh gegebene Bifidobacterium infantis kehrten diese Reaktion um.2
Frühkindlicher Stress beeinflusst das Mikrobiom.30
3. Wirkwege des Darmmikrobioms auf das Gehirn
Darmbakterien (Darmmikrobiom, Darmflora) beeinflussen das Nervensystem über verschiedene Mechanismen.31
3.1. Metabolischer / neuroendokriner Pfad
Metabolischer / neuroendokriner Pfad:132
3.1.1. Modulation von Neurotransmittern durch Mikrobiom
Das Mikrobiom moduliert Neurotransmitter31 wie GABA, Serotonin, Dopamin, Noradrenalin13
- unmittelbare Synthese2
- mittelbar über Biosynthesepfade des Wirtsorganismus
- Synthese von Vorstufen von Neurotransmittern (z.B. für Dopamin)2
- durch Sekretion kurzkettiger Fettsäuren (SCFAs)13. Diese:
- aktivieren Mikrogliazellen32
- beeinflussen die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke33
- Unterdrückung der Synthese des pro-inflammatorischen TNF durch Umwandlung von L-Histidin in das immunregulierende Histamin (L. reuteri)34
Bakterien können Neurotransmitter und Hormone synthetisieren und auf diese reagieren:13
Tabelle: Bakterien und Neurotransmittersynthese
Die Produktion von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin in Darmneuronen besagt noch nicht, dass die so synthetisierten Neurotransmitter ins Gehirn gelangen.
- Blut-Hirn-Schranke
Acetylcholin kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und GABA können dies jedoch nicht, sodass diese letztere im Darm produzierten Neurotransmitter die Spiegel im Gehirn nicht unmittelbar verändern. - extrazelluläre Vesikel (EV) können Blut-Hirn-Schranke überwinden
Darmmikrobiota produzieren - wie andere Bakterien auch - extrazelluläre Vesikel (EV).40 Stammen diese von gram negativen Bakterien, werden EV “Outer membrane vesicles (OMV)” genannt.41
Diese EVs in Nano-Größe (20 bis 1000 nm) können die innere Schleimschicht durchdringen, in den Blutkreislauf gelangen und die Blut-Hirn-Schranke zum Gehirn überwinden.424344454647
95 % des Serotonins wird durch enterochromaffine Zellen im Darm gebildet, 5 % im Gehirn. Akkermansia muciniphila, das rund 5 % der Darmbakterien ausmacht und bei dem ein Mangel mit verschiedenen Chronisch-entzündlichen Darmkrankheiten wie Colitis und Morbus Crohn korreliert, beeinflusste über seine EVs den Serotoninspiegel im Hippocampus von Mäusen.42 Eine weitere Studie belegt, dass extrazelluläre Vesikel von Escheria coli in den Hippocampus gelangen.48 - Axonaler Transport
Wir fragen uns, ob im Darm synthetisierte Neurotransmitter über den Vagusnerv ins Gehirn transportiert werden könnten. Bislang gibt es hierfür keine Belege. Es gibt jedoch Hinweise, dass Nervenfasern des Vagusnervs Dopamin beinhalten.49 Weiter können periphere Nerven wie der Vagusnerv Nanopartikel in das Gehirn transportieren.50 Ebenso kann Synuclein aus dem Körper über Nerven ins Gehirn transportiert werden, was hinsichtlich der Entstehung von Parkinson interessant sein dürfte.51 Eine trunkale Vagotomie zeigte in Kohortenstudien eine signifikante Schutzwirkung vor Parkinson.5253 - Beeinflussung des Prodrug-Haushalts
Darmbakterien beeinflussen den Blutspiegel der Vorstufen von Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und GABA, die die Blut-Hirnschranke überwinden können. In der Folge könnte der Blutspiegel über die Synthesemenge der Vorstoffe die Menge der aus ihnen synthetisierten Neurotransmitter im Gehirn beeinflussen. So soll eine leichte Erhöhung von Bifidobacterium im Darm, wie sie bei ADHS gefunden wurde, mit einer erhöhten Produktion von Cyclohexadienyl Dehydratase einhergehen, die ein Vorstoff zu Phenylanalin ist, was ein Vorstoff zu Dopamin ist. Zugleich soll die Erhöhung von Bifidobacterium mit einer verringerten Belohnungsantizipierung einhergehen, was auf einen verringerten Dopaminspiegel im Striatum schließen lassen dürfte.54 Wie diese beiden widersprüchlich scheinenden Pfade zusammenpassen, erklärt sich uns derzeit noch nicht.
3.1.2. Immunsystempfad und Mikrobiom
Das Mikrobiom beeinflusst das Immunsystem über zirkulierende Zytokine.132
3.2. HPA-Achse wird durch Mikrobiom beeinflusst
Das Mikrobiom beeinflusst die HPA-Achsen-Aktivität. Keimfreie (ohne Mirobiota) Mäuse haben eine überaktivierte HPA-Achse mit einer erhöhten Ausschüttung von Stresshormene wie Corticosteron und ACTH bei Fesselungsstress.55
3.3. Nervenpfad des Mikrobioms
Das Mikrobiom beeinflusst das Gehirn über den Nervenpfad.2
- durch Stimulation des Vagusnervs:135639
- Der Vagusnerv hat 80 % afferente Fasern, die sensorische Reize vom Körper an das Gehirn leiten und 20 % efferente Fasern, die motorische Signale vom Gehirn zum Körper transportieren.1
- mittels des enterischen Nervensystems2
3.4. Epigenetik und Mikrobiom
Einfluss auf epigenetische Abläufe im Gehirn (neuroepigenetisch)57
- z.B. durch SCFA (kurzkettige Fettsäuren); diese beeinflussen
- Acetylierung und Butyrylierung von Histonproteinen58
- erleichert Bindung von Transkriptionsfaktoren an DNA und dadurch Transkription von Genen
- posttranslationale Modifikation von Histonen (Crotonylierung, Butyrylierung)596061
- Neuroplastizität (z.B. im visuellen Kortex erwachsener Mäuse)62
- Genexpression in kortikalen Astrozyten63
- Acetylierung und Butyrylierung von Histonproteinen58
- DNA-Methylierung57
- Veränderungen der DNA-Methylierung treten auf beim Lernens und bei der Gedächtniskonsolidierung
- der Ein-Kohlenstoff-Stoffwechselweg64 der DNA-Methylierung wird durch die Verfügbarkeit von Cofaktoren reguliert. Einige davon (wie Cobalamin, Folat, Pyridoxin und Riboflavin) sind Stoffwechselprodukte von Darmbakterien
- Das Darmmikrobiom beeinflusst die DNA-Methylierung in Darmepithelzellen
- Beeinflussung der DNA-Methylierung und Transkription im Gehirn durch Darmmikrobiom ist bislang nicht belegt.
3.5. miRNA (microRNA) und Mikrobiom
Fehlende Darmmikrobiota korrelieren mit Veränderungen in der Expression verschiedener miRNAs, insbesondere in Amygdala und PFC.57
miRNA regulieren z.B.: 57
- die dendritische Morphologie
- die Stacheldichte in den Neuronen des Hippocampus
- die visuelle kortikalen Plastizität (durch Beeinflussung des Stachelumbaus)
- die kortikale Plastizität
4. Darmmikrobiota bei ADHS
4.1. Darmbakterien als mögliche kausale ADHS-Ursache?
Eine Studie fand Hinweise auf eine kausale Ursache von Darmbakterien bei ADHS.65 (Anmerkung: Selbst wenn sich eine Kausalität bestätigen würde, sollte davon ausgegangen werden, dass dies nur einen von vielen verschiedenen möglichen Wegen darstellt, wie ADHS entstehen kann und daher nicht auf alle Betroffene zutreffen würde.)
Eine Studie fand, dass Mäuse, deren Darm mit Darmbakterien von Menschen mit ADHS kontaminiert wurden, strukturelle Veränderungen im Gehirn (weiße Masse, graue Masse, Hippocampus, Capsula interna), eine verringerte Konnektivität zwischen motorischen und visuellen Kortizes rechts im Resting state und eine höhere Angst aufwiesen als Mäuse, bei denen Darmbakterien von Menschen ohne ADHS verwendet wurden.66
Eine Einzelfallstudie berichtet eine Verbesserung der ADHS-Symptome einer jungen Frau durch Darmbakterienaustausch, der in Bezug auf eine rezidivierende Clostridioides-difficile-Infektion erfolgte.67
In der Mikrobiota von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ADHS fanden sich taxonomische Unterschiede im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen:54
- Bei den ADHS-Betroffenen fand sich eine Fülle von Actinobakterien
- die Kapazität des Darmmikrobioms zur Produktion von Monoaminvorläufern (Phenylalanin) war erhöht
- die Häufigkeit der Cyclohexadienyl-Dehydratase (CDT)-Gene im Mikrobiom, die an der Phenylalaninproduktion beteiligt sind, korrelierte negativ mit den Reaktionen auf die Belohnungserwartung im ventralen Striatum (wobei die Aktivierung des ventralen Striatums für die Belohnungserwartung bei ADHS verringert war)
Eine Studie an Urin- und Fäkalproben mittels 1H-Kernresonanzspektroskopie und Flüssigchromatographie-Massenspektrometrie fand geschlechtsspezifische Muster im metabolischen Phänotyp bei ADHS:68
- Urinprofil
- Hippurat (ein Produkt des mikrobiellen Wirts-Co-Stoffwechsels, das die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann)
- erhöht (nur Männer)
- korrelierte negativ mit IQ (bei Männern)
- korrelierte mit fäkalen Metaboliten, die mit dem mikrobiellen Stoffwechsel im Darm in Verbindung stehen.
- Hippurat (ein Produkt des mikrobiellen Wirts-Co-Stoffwechsels, das die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann)
- Fäkalprofil (jeweils unabhängig von ADHS-Medikation, Alter und BMI)
- Stearoyl-Linoleoyl-Glycerin erhöht
- 3,7-Dimethylurat erhöht
- FAD erhöht
- Glycerin-3-Phosphat verringert
- Thymin verringert
- 2(1H)-Chinolinon verringert
- Aspartat verringert
- Xanthin verringert
- Hypoxanthin verringert
- Orotat verringert
Darmmikrobiom und Dopamin
- Das Darmmikrobiom beeinflusst den Dopaminspiegel im PFC und im Striatum von Nagetieren.2
- Eine leichte Erhöhung von Bifidobacterium im Darm, wie sie bei ADHS gefunden wurde, soll mit einer erhöhten Produktion von Cyclohexadienyl Dehydratase einhergehen, die ein Vorstoff zu Phenylanalin ist, was ein Vorstoff zu Dopamin ist. Zugleich soll die Erhöhung von Bifidobacterium mit einer verringerten Belohnungsantizipierung einhergehen, was auf einen verringerten Dopaminspiegel im Striatum schließen lassen dürfte.54 Wie diese beiden widersprüchlich scheinenden Pfade zusammenpassen, erklärt sich uns derzeit noch nicht.
- Die Zusammensetzung des Darmmikrobioms korreliert mit Impulsivität, erhöhten striatalen D1R und verringerten D2R bei zunehmender Anfälligkeit für Alkoholabhängigkeit69
- Eine Darmentzündung kann den Dopaminstoffwechsel beeinträchtigen70
- Eine Infektion mit Citrobacter rodentium löst Mäusen eine entzündliche Darmerkrankung aus. Dadurch wurde neben den intestinalen Mikrobiota auch der Gehirn-Dopamin-Stoffwechsel beeinflusst. Eine zusätzliche Gabe von MPTP (einem Vorläufer des Neurotoxins 1-Methyl-4-phenylpyridinium (MPP+), das durch die Schädigung dopaminerger Neurone Parkinson-Symptome auslösen kann) im Vergleich zur Gabe von Citrobacter rodentium oder MPTP alleine:
- verschlechterte die Verhaltensleistung
- erhöhte die dopaminerge Degeneration und Überaktivierung der Gliazellen im nigrostriatalen Signalweg
- erhöhte die Expression von TLR4 und NF-κB p65 im Dickdarm und im Striatum
- erhöhte die Expression proinflammatorischer Zytokine.
- Eine Infektion mit Citrobacter rodentium löst Mäusen eine entzündliche Darmerkrankung aus. Dadurch wurde neben den intestinalen Mikrobiota auch der Gehirn-Dopamin-Stoffwechsel beeinflusst. Eine zusätzliche Gabe von MPTP (einem Vorläufer des Neurotoxins 1-Methyl-4-phenylpyridinium (MPP+), das durch die Schädigung dopaminerger Neurone Parkinson-Symptome auslösen kann) im Vergleich zur Gabe von Citrobacter rodentium oder MPTP alleine:
4.2. Mikrobiom und kurzkettige Fettsäuren (SCFA) bei ADHS
Studien zu kurzkettigen Fettsäuren fanden bei ADHS verringerte SCFA-Blut-Spiegel:7172
- Erwachsene mit ADHS
- Ameisensäure verringert
- Essigsäure verringert
- Propionsäure verringert
- Bernsteinsäure verringert (C4H6O, eine aliphatische Dicarbonsäure; Lebensmittelzusatzstoff Nummer E 363)
- Kinder mit ADHS
- Ameisensäure niedriger als bei Erwachsenen
- Propionsäure niedriger als bei Erwachsenen
- Isovaleriansäure niedriger als bei Erwachsenen
- Antibiotika-Medikamente in den letzten 2 Jahren bewirkten
- Ameisensäure verringert
- Propionsäure verringert
- Bernsteinsäure verringert
- aktuelle Stimulanzieneinnahme bei Kindern bewirkte
- Essigsäure verringert
- Propionsäure verringert
4.3. Darmmikrobiotaunterschiede bei ADHS
Untersuchungen fanden Abweichungen der Darmflora bei Kindern mit ADHS im Vergleich zu Nichtbetroffenen.24 Dagegen unterscheidet sich die Darmflora zwischen ADHS und ASS nur wenig.73
ADHS korrelierte mit einem undichten Darm (leaky gut), Neuroinflammation und überaktivierten Mikrogliazellen. Die Dickdarm-Mikrobiota weisen eine entzündungsfördernde Verschiebung auf und beherbergen mehr gramnegative Bakterien, die immunauslösende Lipopolysaccharide in ihren Zellwänden enthalten.74
Frühzeitige Störungen der sich entwickelnden Darmmikrobiota können die neurologische Entwicklung beeinflussen und möglicherweise später im Leben zu nachteiligen Ergebnissen für die psychische Gesundheit führen.75
75 Säuglinge erhielten in den ersten 6 Lebensmonaten nach dem Zufallsprinzip entweder Lactobacillus rhamnosus GG oder ein Placebo. Nach 13 Jahren fand sich bei 17 % der Placebogruppe ADHS oder ASS, in der Probiotikagruppe bei keinem. Bei den betroffenen Kindern waren Bifidobakterien im Darmmikrobiom in den ersten 6 Lebensmonaten signifikant verringert.7677
Bekannt ist, dass Kaiserschnitt im Vergleich zu vaginaler Geburt und Flaschenfütterung im Vergleich zu Stillen (insbesondere in den ersten drei Monaten) die Zusammensetzung des Mikrobioms beim Säugling verändert und das ADHS-Risiko erhöht. Mehr hierzu unter Kaiserschnitt im Kapitel Geburtsumstände als ADHS-Ursache und Flaschenfütterung erhöht (bis + 270 %), Stillen verringert ADHS-Risiko (- 23 % bis -74 %) im Kapitel Belastende körperliche oder emotionale Kindheitserfahrungen als ADHS-Ursache
4.3.1. Verringerte Darmbakterien bei ADHS
Liste verringerter Darmbakterien bei ADHS
4.3.2. Erhöhte Darmbakterien bei ADHS
Liste erhöhter Darmbakterien bei ADHS
4.3.3. Alpha-Diversität
Die Studienergebnisse zur Alpha-Diversität der Darm-Mikrobiota bei ADHS sind uneinheitlich.
Die Mehrheit der Studien scheint keine erhöhte Alpha-Diversität festzustellen.
Wir werden an dieser Stelle Studienergebnisse zu diesem Thema sammeln.
Metastudien, Reviews:
- Eine Metaanalyse (k = 4, n = 619 Erwachsene) fand keine Veränderung der Alpha-Diversität bei ADHS.81
- unveränderte Alpha-Diversität99
Studien:
- signifikant niedrigere α-Diversität (Shannon-Index, beobachtete Arten, Faith-PD-Index)100
- unveränderte Alpha-Diversität781018485
- bei Mäusen mit ADHS66
4.3.4. Beta-Diversität
Die Studienergebnisse zur Beta-Diversität der Darm-Mikrobiota bei ADHS sind uneinheitlich.
Die Mehrheit der Studien scheint keine erhöhte Beta-Diversität festzustellen.
Wir werden an dieser Stelle Studienergebnisse zu diesem Thema sammeln.
Metastudien, Reviews:
- Eine Metaanalyse (k = 4, n = 619 Erwachsene) fand in 3 der 4 Studien eine signifikante Korrelation zwischen Beta-Diversität und ADHS.81
- keine abweichende Beta-Diversität99
Studien:
- Eine Studie an n = 73 Probanden fand einen Trend zur Signifikanz der β-Diversität (gewichteter UniFrac).102
- keine relevante Veränderung der Beta-Diversität101
- veränderte Beta-Diversität bei ADHS-C, nicht jedoch bei ADHS-C78
- erhöhte Beta-Diversität bei Mäusen mit ADHS66
4.3.5. Darmmikrobiota bei ADHS und ASS ähnlich
Die Darmmikrobiota bei ADHS und ASS sind sich sowohl in der Alpha- als auch bei der Beta-Diversität recht ähnlich und unterscheiden sich deutlich zu Nichtbetroffenen.
Darüber hinaus wies eine Untergruppe der ADHS- und ASS-Fälle im Vergleich zu nicht betroffenen Kindern eine erhöhte Konzentration an Lipopolysaccharid-bindendem Protein auf, die positiv mit Interleukin IL-8, IL-12 und IL-13 korrelierte. Dies deutet auf eine Störung der Darmbarriere und eine Dysregulation des Immunsystems bei einer Untergruppe von Kindern mit ADHS oder ASS hin.103
Keimfreie Mäuse, die eine Fäkaltranplantation von ASS-Betroffenen erhielten, zeigten danach:104
- charakteristische autistische Verhaltensweisen
- ein alternatives Spleißen von ASD-relevanten Genen im Gehirn
Erhielten ASS-Modell-Mäuse passende mikrobiellen Stoffwechselprodukte, verbesserte dies die Verhaltensanomalien und modulierte die neuronale Erregbarkeit im Gehirn.104
4.3.6. Urinmikrobiota bei ADHS
Eine Untersuchung der Urin-Mikrobioms bei ADHS fand:105
- eine geringere Alpha-Diversität in den Urinbakterien der ADHS-Gruppe
- reduzierte Shannon- und Simpson-Indizes (p < 0,05)
- signifikante Unterschiede in der Beta-Diversität
- häufig waren bei ADHS:
- Phyla Firmicutes
- Actinobacteriota
- Ralstonia (Gattung)
- Afipia (Gattung)
- seltener bei ADHS:
- Phylum Proteobacteria
- Corynebacterium (Gattung)
- Peptoniphilus (Gattung)
- Afipia korrelierte signifikante mit dem Ergebnis der Child Behavior Checklist Attention Problems und der DSM-orientierten ADHS-Subskala
5. Darmmikrobiom und andere Störungsbilder
5.1. Mikrobiota gegen Angst / Depression
5.1.1. Studien an Nagetieren
Lacticaseibacillus rhamnosus JB-1 (Lactobacillus rhamnosus) bewirkte
- nur bei nicht vagotomierten Mäusen:39
- GABA(B1b)-mRNA
- erhöhte Expression im ACC und prälimbischen Kortex
- verringerte Expression in Hippocampus, Amygdala und Locus coeruleus
- GABA(Aα2)-mRNA
- erhöht im Hippocampus
- verringert in der Amygdala
- Corticosteronstressantwort verringert
- Angstverhalten verringert
- Depressionsverhalten verringert
- GABA(B1b)-mRNA
- verhinderte die durch chronischen unvorhersehbaren milden Stress verursachten Verhaltensänderungen bei Ratten106
- angstähnliches Verhalten verringert
- depressionsähnliches Verhalten verringert
- Abnahme der Glutamin- und Glutathionspiegel im Hippocampus vermieden
- Abnahmen von Taurin im Hippocampus verringert.
Eine akute wie chronische Gabe der kurzkettigen Fettsäure Natriumbutyrat zusätzlich zu Fluoxetin bewirkte bei Mäusen eine signifikanten Verringerung der Immobilitätswerte im Schwanzsuspensionstest um 20-40 % im Vergleich zur Gabe nur eines der beiden Mittel.107
Injektion von Natriumbutyrat bewirkte
- eine kurzzeitige Histon-Hyperacetylierung im Hippocampus und im PFC
- einen vorübergehenden, mindestens 50%igen Anstieg des BDNF-Transkripts im PFC
5.1.2. Studien an Menschen
Eine tägliche Gabe einer Kombination aus L. helveticus und B. longum in einer doppelblinden, randomisierten, placebokontrollierten Studie an gesunden Frauen und Männern verringerte gering, aber statistisch signifikant, die Werte für wahrgenommenen Stress, Angst und Depression sowie die 24-Stunden-Cortisolwerte im Urin.108
Eine tägliche Gabe von Lactobacillus casei Shirota in einer doppelblinden, randomisierten, placebokontrollierten Studie an Patienten mit chronischer Fatigue verringerte signifikant Angstsymptome, nicht aber depressive Symptome.109
5.2. Mikrobiota gegen ASS
5.2.1. Studien an Nagetieren
Fructo-Oligosaccharide und Galacto-Oligosaccharide verringerten bei Mäusen durch chronischen Stress induzierte soziale Vermeidung, kognitive Dysfunktion, Anhedonie, Hyperreaktivität der HPA-Achse sowie angst- und depressionsähnliches Verhalten.110
Limosilactobacillus reuteri Gabe bewirkte
- nur bei nicht vagotomierten Mäusen
- Veränderung des Sozialverhaltens bei Autismus-Maus-Modell3
- Verbesserung des Sozialverhaltens in verschiedenen Autismus-Maus-Modellen111
- via Vagusnerv und oxytocinerge und dopaminerge Signalgebung im Gehirn
- nicht durch die Wiederherstellung der Zusammensetzung des Darmmikrobioms an sich
- durch Induktion synaptischer Plastizität im VTA von ASS-Mäusen
- durch (via L. reuteri) erhöhtes Oxytocin112113 in verschiedenen ASS-Mausmodellen:
- genetische ASS-Mausmodelle
- Shank3B-/-114111
- Cntnap2−/−115
- L. reuteri-Spiegel in Cntnap2-/- Mäusen sind verringert
- L. reuteri behob die Defizite der Oxytocin produzierenden Neuronen
- L. reuteri behob die sozialen Defizite sowohl bei jungen als auch bei erwachsenen Cntnap2-/- (KO-I) Mäusen
- L. reuteri behob nicht die bei Cntnap2-/- Mäusen typische Hyperaktivität
- umweltbedingte ASS-Mausmodelle
- idiopathisches ASS-Mausmodell (BTBR)111
- genetische ASS-Mausmodelle
- nicht in Mäusen mit fehlenden oder blockierten Oxytocinrezeptoren in dopaminergen Neuronen
- durch (via L. reuteri) erhöhtes Oxytocin112113 in verschiedenen ASS-Mausmodellen:
- via Vagusnerv und oxytocinerge und dopaminerge Signalgebung im Gehirn
ASS korrelierte in einer anderen Studie ebenfalls mit einer verringerten Plastizität im VTA, die dort durch eine fettreiche Diät der Mutter verursacht wurde. Das ASS-Verhalten wurde dort von den Nachkommen auf keimfrei aufgewachsene Mäuse übertragen.112
In einem präklinischen ASS-Mausmodell verbesserte nur der L. reuteri Stamm ATCC-PTA-6475, nicht aber der Stamm DSM-17938, die sozialen Defizite.117
Eine Studie an Cntnap2−/− und Cntnap2+/+ Mäusen fand, dass beide Mauslinien die von diesem ASS-Mausmodell bekannte Hyperaktivität zeigten. Bei den Cntnap2+/+ war jedoch das Sozialverhalten normalisiert und ebenso das Mikrobiom. Auch dies deutet darauf hin, dass die ASS-typischen Änderungen des Sozialverhaltens durch das Mikrobiom verursacht werden.115
Die Studienergebnisse in Bezug auf L. reuteri bei ASS sind beeindruckend. Die von und in der Einleitung erwähnte Fragestellung, welchen Antell an der Verbesserung die Gabe konkreter Biota (hier: L. reuteri) und welche die Erhöhung der Diversität des Mikrobioms durch Gabe von Mikrobiota an sich hat. dürfte hier wenig Relevanz haben. Das Argument, dass ASS-Betroffene aufgrund von eingeschränkten Nahrungspräferenzen eine beeinträchtigte Darmfloradiversität haben könnten, ist sicherlich beachtenswert, dürfte allerdings nur auf Menschen dun nicht auf Mäuse zutreffen. Selektive Nahrungsgewohnheiten der ASS-Modellmäuse wurden bislang jedenfalls nicht berichtet.
Das gleich gilt für mögliche Einflüsse auf die orale Bakterienflora aufgrund von sensorischen Belastungen, die die Zahnreinigung erschweren.118
B. fragilis verbessert Defizite im kommunikativen, stereotypen, angstähnlichen und sensomotorischen Verhalten in einem ASS-Mausmodell, bei dem ASS durch pränatale Virusgabe verursacht wurde. Weiter korrigierte es die Darmpermeabilität und verändert die Mikrobiom-Zusammensetzung.119
5.2.2. Studien an Menschen
Eine doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Studie zur Wirkung von L. reuteri bei Kindern mit ASS fand:117
- signifikant verbesserte soziale Funktionsfähigkeit über verschiedene Messgrößen hinweg
- keine Veränderung von
- ASS-Gesamtschweregrad
- repetitiven Verhaltensweisen
- Mikrobiomzusammensetzung
- Immunprofil
Eine Studie an Kindern mit ASS berichtet über eine positive Wirkung einer Eliminationsdiät auf gastrointestinale Beschwerden und einem Präbiotikum auf Sozialverhalten.120
5.3. Mikrobiota und Multiple Sklerose
Limosilactobacillus reuteri verbesserte in einer Studie den Schweregrad der experimentellen Autoimmun-Enzephalomyelitis bei Mäusen, die als Modell für Multiple Sklerose dient, was auf einen Mangel an L. reuteri bei MS hindeutet.8 Zwei andere Studie fanden dagegen ein Übermaß an L. reuteri als Risikofaktor für MS.89
Möglicherweise könnten bei für MS genetisch anfälligen Menschen die Darmmikrobiota und die Ernährung synergistisch wirken, wobei ernährungsabhängige mikrobielle Stoffwechselprodukte im Darm als Schlüsselmechanismus für die Krankheit dienen. Aufgrund dieser Gen-Darmmikrobiota-Wechselwirkungen könnten spezifische mikrobielle Taxa je nach MS-Risiko-Allelen oder anderen Gen-Polymorphismen andere Auswirkungen haben, die zudem in hohem Maße von der Nahrungsaufnahme abhängen. Dies könnte erklären, warum die Ergebnisse bei unterschiedlichen geografischen, ernährungsbedingten und genetischen Gegebenheiten voneinander abweichen. Eine prophylaktische oder therapeutische Modulation des Darmmikrobioms zur Vorbeugung oder Behandlung von MS würde deshalb eine sorgfältige und personalisierte Berücksichtigung der Genanlagen, der Darmmikrobiota-Zusammensetzung und der Ernährungsgewohnheiten erfordern.121 Dies deckt sich mit der Fähigkeit von L. helveticus, das angstähnliches Verhalten bei Mäusen nur in Abhängigkeit von Genotyp Ernährung abschwächen kann.122
Auf andere Störungsbilder übertragen sollten widersprüchliche Ergebnisse von Wirkungen bestimmter Mikrobiota auf bestimmte Symptome als Warnung vor einer unbedachten Testung der Wirkung an Individuen betrachtet werden.
5.4. Mirobiota und systemischer Lupus erythematodes (SLE)
In des Toll-like-Rezeptor 7 (TLR7)-Mausmodells für systemischen Lupus erythematodes (SLE) erhöhte L. reuteri die Autoimmunmanifestationen unter spezifisch-pathogenen und gnotobiotischen Bedingungen, insbesondere durch eine Zunahme der plasmazytoiden dendritischen Zellen und der Interferon-Signalisierung. Die Häufigkeit und Verlagerung von L. reuteri in andere Organe konnte durch resistente Stärke in der Nahrung mittels SCFA verringert werden. Resistente Stärke verringerte zudem plasmazytoide dendritische Zellen, Interferon-Signalwege und Sterblichkeit.123
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