3. Belastende körperliche oder emotionale Kindheitserfahrungen als ADHS-Ursache
Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
Belastende körperliche oder psychische Kindheitserfahrungen können eine Mitursache von ADHS sein.
Bei Säuglingen:
Flaschenfütterung erhöht das ADHS-Risiko, während Stillen das Risiko verringert. Schreibabys, Fütterungs- und Schlafprobleme bei Säuglingen, subependymale Pseudozysten sowie Antihistaminika in den ersten Lebensjahren erhöhen das ADHS-Risiko.
Bei Kleinkindern und Kindern:
Eine Exposition gegenüber Passivrauchen, Luftverschmutzung (insbesondere Feinstaub und Stickoxide) sowie verschiedenen Schadstoffe wie Blei, Mangan oder Phtalaten stehen im Zusammenhang mit einem erhöhten ADHS-Risiko.
Chirurgische Eingriffe unter Narkose, Neurodermitis, bakterielle Infektionen, Gehirnerschütterungen sind ebenso wie belastende psychische Kindheitserfahrungen wie Traumata, chronischer Stress oder das Aufwachsen im Heim sind ADHS-Risikofaktoren.
Ein mangelndes Bindungsverhalten der Mutter oder der Eltern im Kindesalter, Stress der Mutter im Kindesalter oder psychische Probleme der Eltern erhöhen das Risiko von ADHS bei Kindern ebenso wie ein niedriger sozioökonomischer Status, ein niedriger Bildungsstand oder eine Erwerbslosigkeit der Eltern.
Eine frühere Einschulung und ein junges Alter eines Kindes innerhalb einer Klasse sind weitere Risikofaktoren.
In der Pubertät:
Eine hohe Stressbelastung in der Pubertät gilt als Risikofaktor für eine Persistenz von ADHS bis ins Erwachsenenalter.
Die %-Werte geben die mögliche ADHS-Risikoerhöhung durch die jeweilige Ursache an.
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3.1. Belastende körperliche Kindheitserfahrungen als (Mit-)Ursache von ADHS
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3.1.1. Neugeborene, Säuglinge
- 3.1.1.1. Schreikinder (+ 30 bis + 1181 %)
- 3.1.1.2. Flaschenfütterung erhöht (bis + 270 %), Stillen verringert ADHS-Risiko (- 23 % bis -74 %)
- 3.1.1.3. Fütterungsprobleme bei Säuglingen
- 3.1.1.4. Schlafprobleme bei Säuglingen
- 3.1.1.5. Subependymale Pseudozysten
- 3.1.1.6. Valproinsäure
- 3.1.1.7. D-3-Insuffizienz in den ersten 12 Monaten
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3.1.2. Kinder
- 3.1.2.1. Bakterielle Infektionen (+ 693 %)
- 3.1.2.2. D-3-Insuffizienz (+157 %)
- 3.1.2.3. Chirurgische Eingriffe unter Narkose / Anästhesie (+ 39 %)
- 3.1.2.4. Neurodermitis / atopisches Ekzem / atopische Dermatitis in Kindheit
- 3.1.2.4. Antihistaminika in den ersten Lebensjahren
- 3.1.2.5. Passivrauchen – Rauchende Personen in der Umgebung in den ersten Lebensjahren (+ 42 % bis + 170 %)
- 3.1.2.6. Luftverschmutzung in der Kindheit
- 3.1.2.7. Gehirnerschütterungen und Schädel-Hirn-Traumata (+ 68 %)
- 3.1.2.8. Chlorpyrifos
- 3.1.2.9. Zuckerkonsum
- 3.1.2.10. Ozonexposition
- 3.1.2.11. Hyperthyreose / Schilddrüsenüberfunktion (+ 70 %)
- 3.1.2.12. Perfluorooctansulfonat (PFOS) (+ 77 %)
- 3.1.2.13. β-Hexachlorcyclohexan (β-HCH) (+ 75 %)
- 3.1.2.14. Blei (+ 160 % bis + 306 %)
- 3.1.2.15. Quecksilber (+ 168 %)
- 3.1.2.16. Mangan (+ 163 %)
- 3.1.2.17. Arsen
- 3.1.2.18. Phtalate (+ 212 % (Mädchen) bis + 254 % (Jungen) )
- 3.1.2.19. Fieberkrämpfe (+ 28 % bis + 66 %; + 640 % bei Frühgeborenen)
- 3.1.2.20. Frühpubertät (Pubertas praecox) (+ 40 %)
- 3.1.2.21. Pyrethroid-Pestizide
- 3.1.2.22. Metopische Synostose (+ 500 %)
- 3.1.2.23. Organophosphate
- 3.1.2.24. Polychlorierte Biphenyle (PCB)
- 3.1.2.25. Schlafmangel
- 3.1.2.26. Kraniosynostose
- 3.1.2.27. Akne vulgaris
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3.1.1. Neugeborene, Säuglinge
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3.2. Belastende psychische Kindheitserfahrungen als (Mit-)Ursache von ADHS
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3.2.1. Stress
- 3.2.1.1. Frühe massive Stresserfahrungen
- 3.2.1.2. Stresserfahrungen in Kindheit und früher Jugend bewirken persistierendes ADHS im Erwachsenenalter
- 3.2.1.3. Aufwachsen im Heim
- 3.2.1.4. Aufwachsen in Adoption
- 3.2.1.5. Aufwachsen in dysfunktionaler Nachbarschaft
- 3.2.1.6. Relativ frühere Einschulung / ältere Klassenkameraden
- 3.2.1.7. Wenig Grünwuchs in der Umgebung von Kindergarten / Schule / Wohnung (+ 20 %)
- 3.2.1.8. Autoverkehrsdichte auf nächstgelegener Straße (+ 10 %)
- 3.2.1.9. Lärm von Straßen und Nachbarn
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3.2.2. Eltern
- 3.2.2.1. Mangelndes Bindungsverhalten der Mutter/Eltern in den (ersten) Kindheitsjahren
- 3.2.2.2. Emotional zurückgezogenes Vaterverhalten im Säuglingsalter
- 3.2.2.3. Stress der Mutter im Kindesalter
- 3.2.2.4. Psychische Probleme der Eltern
- 3.2.2.5. Unvollständige Familien
- 3.2.2.6. Familiäre Instabilität, ständiger Streit zwischen den Eltern
- 3.2.2.7. Junges Alter der Eltern (+ 14 % bis + 92 %)
- 3.2.2.8. Niedriger sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie (+ 50 % bis + 130 %)
- 3.2.2.9. Niedriger Bildungsstand der Eltern (+ 3,5 % bis + 4,9 %)
- 3.2.2.10. Erwerbslosigkeit der Eltern (+ 2,1 %)
- 3.2.2.11. Geringeres Reflektionsvermögen der Eltern über ihre Elternfunktion
- 3.2.2.12. Niedrige Bildungsabschlüsse und ADHS gegenseitig kausal
- 3.2.3. Medien
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3.2.1. Stress
- 3.3. Merkmale ohne Risikoerhöhung von ADHS
- 3.4. Merkmale mit Risikoverringerung von ADHS
3.1. Belastende körperliche Kindheitserfahrungen als (Mit-)Ursache von ADHS
3.1.1. Neugeborene, Säuglinge
3.1.1.1. Schreikinder (+ 30 bis + 1181 %)
3.1.1.1.1. Faktoren, die das Risiko für Schreikinder erhöhen
Sind die Eltern schwere Raucher, oder raucht die Mutter während der Schwangerschaft, erhöht sich das Risiko für ein Schreikind um 30 bis 150 % (etliche Studien); die größte Studie hierzu (n = 5845) nennt ein um 69 % erhöhtes Risiko.1
Daneben bestehen etliche weitere mögliche Ursachen, die systematisch ausgeschlossen werden sollten.2
3.1.1.1.2. Risikoerhöhung für ADHS bei Schreikindern
Schreibabys haben ein signifikant erhöhtes ADHS-Risiko.34 Eine andere Studie berichtet von einem 11,8 Mal höheren Risiko, im Alter von 8 bis 10 Jahren Hyperaktivität auszubilden (plus 1181 %), Verhaltensprobleme und eine negative emotionale Ausrichtung wurden doppelt so häufig wie bei Nichtbetroffenen berichtet.5
Details
Bei einer üblichen Prävalenz von 5 bis 10 % für ADHS (alle Subtypen) würde eine Erhöhung des Risikos um das 11,8-fache bedeuten, sodass 60 bis 100 % aller Schreikinder eine ADHS-Form ausbilden.
Daneben wird von Studien berichtet, wonach (ehemalige) Schreikinder mit 3,5 Jahren nach Einschätzung der Mütter zwar häufiger Verhaltensauffälligkeiten haben, jedoch keine Probleme bei Aufmerksamkeitsspanne, Verhaltensregulation und Soziabilität.6 Schreikinder lösen bei ihren Eltern erheblichen Stress aus. 5,6 % aller Schreikinder bringen ihre Eltern so weit, dass Misshandlungen und Vernachlässigung erfolgen, bis hin zu erheblicher Körperverletzung (schütteln, schlagen).1
Dies belegt den erheblichen Stress, den das betroffene Baby über die eigentliche Ursache, die es zum Schreien bringt, hinaus erlebt. Es entwickelt sich ein sich selbst verstärkendes System: Stress des Kindes verursacht Schreien, dies verursacht Stress bei den Eltern, der wiederum den Stress des Kindes verstärkt.
Das Schreien wird derzeit nicht als ein eigenes, erstes Symptom von ADHS betrachtet.
3.1.1.2. Flaschenfütterung erhöht (bis + 270 %), Stillen verringert ADHS-Risiko (- 23 % bis -74 %)
Säuglinge, die nicht gestillt wurden, zeigten als Kinder ein erhöhtes ADHS-Risiko, während Kinder, die als Säuglinge gestillt wurden, ein verringertes ADHS-Risiko aufwiesen.78910
- 3,71-faches ADHS-Risiko (OR = 3,71). (Metaanalyse von k = 11 Studien).11
- knapp 3-faches ADHS-Risiko.12
- ca. 1,55-faches ADHS-Risiko (OR = 1,55)13
Kinder mit ADHS wurden 1,51-mal so häufig weniger als 3 Monate ausschließlich gestillt und um 52 % seltener mehr als 3 Monate ausschließlich gestillt. Kinder mit ADHS hatten eine signifikant (2,44 Monate) kürzere Stilldauer (SMD: Hedges’ g = - 0,36).(Metaanalyse von k = 11 Studien). 11
Ausschließlich brustgestillte Kinder hatten im Vergleich zu Kindern, die ausschließlich Flaschennahrung erhielten, ein
- um 23 % verringertes ADHS-Risiko14
- ein um 36 % verringertes ASS-Risiko14
- um 38 % verringertes ADHS-Risiko bei ausschließlichem Stillen über mindestens 6 Monate, nach Bereinigung um potenzielle Störfaktoren15
- Jeder zusätzliche Monat der Stilldauer verringerte das ADHS-Risiko um 8 %15
- Jeder zusätzliche Monat der exklusiven Stilldauer verringerte das ADHS-Risiko um ca. 8 % (statistisch jedoch nicht signifikant)15
Teilweise brustgestillte Kinder hatten ein
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um 9 % verringertes ADHS-Risiko14
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um 11 % verringertes ASS-Risiko 14
-
Ob Beikost im Alter vor 6 Monaten oder später gegeben wurde, hatte keinen Einfluss1415
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In einer kleinen libanesischen Korrelationsstudie (n = 119) verringerte Stillen das ADHS-Risiko um 74 % (OR = 0,263).16
Das ADHS-Risiko verringert sich mit der Dauer des Stillens.171819
Eine Studie fand keine ADHS-präventive Wirkung durch Stillen.20
Muttermilch enthält viele Stoffe, die für die Entwicklung von Babys essenziell sind, wie z.B. mehrfach ungesättigte Fettsäuren.9
Unklar ist, welchen Einfluss hierauf das Stillen durch die Brust bzw. die Nahrung selbst hat. Körper- und Hautkontakt hat einen erheblichen Einfluss auf das Wohlbefinden und die positive Entwicklung von Kindern.
Es ist bekannt, dass Bisphenol A das ADHS-Risiko erhöht. Bisphenol A war 2007 noch wesentlich häufiger in Babyfläschchen enthalten als 2011, was erklären könnte, warum eine Untersuchung bei 2007 mittels Fläschchen ernährten Kindern noch ein fünffach erhöhtes ADHS-Risiko fand, bei in 2011 mittels Fläschchen ernährten Kindern dagegen keine Risikoerhöhung mehr vorfand.21
3.1.1.3. Fütterungsprobleme bei Säuglingen
Fütterungsprobleme bei Säuglingen korrelieren mit ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter.4
3.1.1.4. Schlafprobleme bei Säuglingen
Schlafprobleme bei Säuglingen korrelieren mit ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter.4
3.1.1.5. Subependymale Pseudozysten
Subependymale Pseudozysten bei Neugeborenen erhöhen das Risiko für ADHS und Autismus.22
3.1.1.6. Valproinsäure
Untersuchungen an Mäusen legen nahe, dass eine Valproatgabe bei Neugeborenen dauerhafte Schäden verursachen könnte, die denen von ASS und teilweise von ADHS ähneln.23
3.1.1.7. D-3-Insuffizienz in den ersten 12 Monaten
Eine Vitamin-D3-Spiegel von weniger als 25 ng/ml in den ersten 12 Lebensmonaten war dosisabhängig mit einem erhöhten ADHS-Risiko im Kindesalter verbunden. Dies galt auch für ASS und Emotionale Verhaltensstörungen.24
Dies deckt sich mit den Befunden eines erhöhten ADHS-Risikos bei einem D3-Mangel der Mutter in der Schwangerschaft (siehe dort).
3.1.2. Kinder
3.1.2.1. Bakterielle Infektionen (+ 693 %)
Schwere bakterielle Infektionen in Kindheit oder Jugend erhöhen das Risiko von schweren psychischen Störungen massiv (HR):25
- ASS: 13,80
-
ADHS: 6,93
- ADHS-Medikamenteneinnahme: 11,81
- Tic-Störung: 6,19
- OCD: 3,93
- bipolare Störung: 2,50
- depressive Störungen: 1,93
- Antidepressiva-Einnahme: 2,96
- Stimmungsstabilisatoren-Einnahme: 4,51
- atypische Antipsychotika-Einnahme: 4,23
- Schizophrenie26
Unter den untersuchten Bakterienarten (Streptokokken, Staphylokokken, Pseudomonas, Klebsiella, Hämophilus, Mykoplasmen, Tuberkulose, Meningokokken, Escherichia, Chlamydien und Scrub-Typhus) waren Streptokokken mit den meisten Störungsbildern verbunden. ADHS war mit acht bakteriellen Erregerinfektionen assoziiert.25
Die Prävalenz einer Streptococcus agalactiae-Infektion (Gruppe B Streptokokken, GBS) bei Säuglingen betrug 0,07 %.
GBS bewirkte:27
- erhöhte Säuglingssterblichkeit (19,41-fach)
- langfristige neurologische Entwicklungsstörungen (3,49-fach)
GBS-Meningitis erhöhte das Risiko von27
- ADHS
- zerebraler Lähmung
- Epilepsie
- Hörbehinderung
- tiefgreifende und spezifische Entwicklungsstörungen
Antibiotikagabe im zweiten Lebensjahr erhöhte in einer sehr großen Studie das Risiko für ADHS um 20 bis 33 % und für Schlafprobleme um 24 bis 50 %.28 Eine noch größere Studie aus Korea fand eine Erhöhung des ADHS-Risikos dosisabhängig um 10 %, wobei pränatale und frühkindliche Gaben zusammen das Risiko weiter erhöhten.29
Eine kleinere Studie fand häufigere Verhaltensschwierigkeiten und depressive Symptome an 3 1/2 Jahre alten Kindern, die im ersten Lebensjahr Antibiotika erhalten hatten.30 Zwei andere Studien fanden keine erhöhten Risiken psychischer Störungen bei Antibiotikagabe in den ersten 1 31 bis 232 Lebensjahren.
3.1.2.1.1. Bakterielle Meningitis (Hirnhautentzündung) (+ 150 % bis + 280 %)
Kinder mit bakterieller Meningitis (nicht aber mit enteroviraler Meningitis) hatten in der Folge ein erhöhtes Risiko für ADHS oder ADHS-Medikamenteneinnahme:33
- Meningitis in den ersten 90 Lebenstagen;
- ADHS-Risiko 2,8-fach (aHR 2,8)
- ADHS-Medikamenten-Einnahme 2,2-fach
- ASS-Risiko 1,9-fach
- Verhaltens- und emotionale Störungen 2-fach
- Lern- und intellektuelle Entwicklungsstörungen 4,2-fach
- Meningitis zwischen Tag 90 und 18 Jahren:
- ADHS-Risiko 1,4-fach
- ADHS-Medikamenten-Einnahme 1,5-fach
- Lern- und intellektuelle Entwicklungsstörungen 1,5-fach
3.1.2.2. D-3-Insuffizienz (+157 %)
Eine Metastudie an 10.334 Kindern und Jugendlichen fand bei einer D3-Insuffizienz (zwischen 10 und 30 mg/nl im Blutpasma) ein 2,57-faches ADHS-Risiko.34
3.1.2.3. Chirurgische Eingriffe unter Narkose / Anästhesie (+ 39 %)
Kinder, die im Alter bis 5 Jahre einen einzelnen chirurgischen Eingriff unter Anästhesie erfuhren, nahmen in späteren Jahren mit einer um 37 % höheren Wahrscheinlichkeit ADHS-Medikamente ein.35 Eine koreanische Kohortenstudie fand ein um 41 % erhöhtes ADHS-Risiko als Folge einer Vollnarkose in früher Kindheit. Zudem korrelierte die Dauer der Vollnarkose mit einem erhöhten ADHS-Risiko.36
Eine Studie fand eine Erhöhung des ADHS-Risikos bei einmaliger Anästhesie anlässlich einer OP im Alter von bis zu 5 Jahren um 37 %, bei mehrmaliger um 75 %.37
Eine Kohortenstudie an n = 15.072 Kindern, von denen die Hälfte im Alter von 0-3 Jahren Anästhetika erhalten hatte, fand ein um 39 % erhöhtes ADHS-Risiko.Die Häufigkeit der Anästhetika-Expositionen, die Dauer der Exposition, männliches Geschlecht und Operationen am zentralen Nervensystem waren signifikante Risikofaktoren für ADHS in der Zukunft.38
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen weitere Studien.3940
Eine Metastudie fand eine Erhöhung des späteren ADHS-Risikos durch Allgemeinanästhesie im Kindesalter von 25 % (RR = 1,26).41
- 38 % (RR = 1,38) durch einmalige Vollnarkose von max. 60 Minuten im Kindesalter
- 55 % (RR = 1,55) durch einmalige Vollnarkose von max. 61 bis 120 Minuten oder mehr als 120 Minuten im Kindesalter
- 61 % (RR = 1,61) nach mehreren Vollnarkosen
Eine Kohortenstudie in Taiwan fand dagegen kein erhöhtes ADHS-Risiko durch Anästhetika in den ersten 3 Lebensjahren.42
Offen dürfte sein, inwieweit die Wahrscheinlichkeit eines chirurgischen Eingriffs unter Anästhesie bereits durch die erhöhte Unfallwahrscheinlichkeit von ADHS-Betroffenen beeinflusst wird. Sieh hierzu unter ⇒ Folgen von ADHS.
3.1.2.4. Neurodermitis / atopisches Ekzem / atopische Dermatitis in Kindheit
Neurodermitis / atopisches Ekzem / atopische Dermatitis in der Kindheit korreliert mit einem erhöhten ADHS-Risiko.43
Eine Kohortenstudie fand dagegen kein nennenswert (+ 2 %) erhöhtes Risiko von ADHS bei Neurodermitis in der Kindheit.44
Eine Kohortenstudie an n = 69.732.807 Menschen fand bei atopischer Dermatitis ein erhöhtes Risiko von Lernschwierigkeiten (OR = 1,77) und Gedächtnisproblemen (OR = 1,69).
Die Risikoerhöhung war ungleich verteilt: Bei Kindern mit neurologischen Entwicklungsstörungen wie ADHS war das Risiko von Gedächtnis- oder Lernschwierigkeiten auf das 2- bis 3-fache erhöht. Bei Kindern ohne neurologische Entwicklungsstörungen veränderte atopische Dermatitis das Risiko von Lern- oder Gedächtnisschwierigkeiten dagegen nicht.45
Eine Studie fand Hinweise, dass eine Anfälligkeit für Atopische Dermatitis kausal das Risiko von ADHS (+ 11,6 %) und ASS (+ 13.1 %) erhöht. Umgekehrt bewirkte eine Anfälligkeit für ADHS (+ 11,2 %) und Anorexie Nervosa (+ 10 %) ein erhöhtes Risiko für eine Atopische Dermatitis. Nur der kausale Zusammenhang zwischen AD und ASD war unabhängig von der Verzerrung durch den umgekehrten Effekt.46
Bei Kindern mit geringem Geburtsgewicht erhöhte eine Vorgeschichte von T2-Entzündungskrankheiten wie Asthma und atopische Dermatitis das Risiko für:47
- geistige Behinderung um 35 %
- ASS um 47 %
- ADHS um 81 %
- Lernbehinderung um 74 %
3.1.2.4. Antihistaminika in den ersten Lebensjahren
Eine große Kohortenstudie fand, dass eine Einnahme von Antihistaminika (insbesondere Antihistaminika der ersten Generation) in den ersten Lebensjahren das Risiko einer späteren ADHS signifikant erhöhte. Als mögliche Ursache wurde eine Störung des REM-Schlafs genannt, die sekundär die Hirnreifung beeinträchtige.48
3.1.2.5. Passivrauchen – Rauchende Personen in der Umgebung in den ersten Lebensjahren (+ 42 % bis + 170 %)
Passive Nikotinexposition erhöht das ADHS-Risiko.49 Nikotinexposition von Kindern wird mit einem 1,42-fach50 bis 2,7-fach51 erhöhten ADHS in Verbindung gebracht.18 Kinder mit ADHS hatten in einer Studie doppelt so häufig Raucher in der Familie wie nicht betroffene Kinder.52
Bei Passivrauchen wird ein Zusammenhang zu bestimmten MAO-A-Genvarianten genannt, die einen niedrigeren Serotoninabbau bewirken.53
Bei Kindern zeigte sich eine lineare Assoziation zwischen Speichel-Cotinin (ein Nikotin-Abbauprodukt) und Hyperaktivität und Verhaltensproblemen. Diese Assoziation blieb signifikant, nachdem die familiäre Armut, die Erziehung der Eltern, eine ADHS-Vorgeschichte, Feindseligkeiten, Depressionen, der IQ der Pflegekräfte und geburtshilfliche Komplikationen herausgerechnet wurden und auch nachdem Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft geraucht hatten, von der Berechnung ausgeschlossen wurden. Dies weist darauf hin, dass bereits eine Nikotinexposition in den ersten Lebensjahren allein Hyperaktivität und Verhaltensprobleme erhöhen kann.54
3.1.2.6. Luftverschmutzung in der Kindheit
3.1.2.6.1. Feinstaub und Stickoxide (+ 78 %)
Eine große Kohortenstudie fand einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Stickstoffoxiden und Feinstaub (<2,5 pm) in der Kindheit und der Entstehung von ADHS.55 Eine kleinere Kohortenstudie bestätigte dies für Feinstaub, jedoch nicht für Stickstoffdioxid.56 Eine weitere Kohortenstudie fand ein um 40 % bis 78 % erhöhtes ADHS-Risiko durch eine PM2,5-Belastung im ersten bis dritten Lebensjahr. Das Risiko war mit PM2,5 >16 μg/m3 assoziiert und stieg mit PM2,5 > 50 μg/m3 stark an. Es fand sich kein geschlechtsabhängiger Zusammenhang.57
In einer weiteren Studie stieg das ADHS-Risiko je Anstieg von 10 μg/m3 Stickoxid um 38 % und je Anstieg von 5 μg/m3 Feinstaub PM2,5 um 51 %. Wurden beide Faktoren gemeinsam betrachtet, überwog der Einfluss von Stickoxid. Alter und Geschlecht der Betroffenen sowie Bildungsgrad und Einkommen der Eltern waren dabei herausgerechnet. Eine Metauntersuchung von 28 Berichten fand bei der Mehrheit der Berichte ähnliche Ergebnisse.58 Stickoxide nehmen bereits in nichttoxischer Dosis Einfluss auf die glutamaterge, opioiderge cholinerge und dopaminerge Neurotransmission im Gehirn.59
Eine Studie fand bei Kindern eine Erhöhung des ADHS-Risikos durch eine Erhöhung des PM10 um 10 μg/m3 um 97 % sowie durch eine Erhöhung von Stickoxid um 10 μg/m3 um 32 %.60
Eine Studie fand keinen Zusammenhang zwischen der Belastung durch PM2.5 und NO2 im Alter von 12 Jahren und ADHS im Alter von 18 Jahren, jedoch mit Depression im Alter von 18 Jahren.61
Eine Metastudie von 12 Untersuchungen fand bei 9 davon eine Korrelation zwischen Feinstaub und ADHS bei Kindern.62
Eine koreanische Kohortenstudie fand eine Erhöhung des ADHS-Risikos bei Kindern und Jugendlichen um 44 % pro 10 µg/m3-Anstieg von PM10, bei tendenziell dosisabhängiger Symptomschwere.63 Eine taiwanesische Registerstudie kam zu vergleichbaren Ergebnissen.64
Eine Longitudinalstudie an 2.750 Kindern fand ein erhöhtes ADHS- und ASS-Risiko durch Feinstaub PM2.5 und PM10, aber nicht durch Umgebungslärm, Ozon, Schwefeldioxid, Ruß, Stickstoffdioxid, oder Stickoxid.65
Eine polnische Studie fand eine Korrelation zwischen66
- langfristiger NO2- und PM10-Exposition mit schlechterer visueller Aufmerksamkeit bei Kindern mit ADHS
- kurzfristiger NO2-Exposition mit weniger effizienter exekutiver Aufmerksamkeit und höherer Impulsivität bei TD-Kindern und mehr Fehlern bei Kindern mit ADHS
- kurzzeitige PM10-Exposition mit weniger Auslassungsfehlern im CPT bei TD-Kindern
Eine Metastudie untersuchte in mehreren Ländern die Auswirkungen verkehrsbedingten Luftverschmutzung auf die neurologische Entwicklung von Kindern anhand von PM2,5 (Feinstaub <2,5 µm), PM10, elementarer Kohlenstoff (EC), Schwarzrauch (BC), NO2 und NOx:67
Erhöhte verkehrsbedingte Luftverschmutzung korrelierte mit der Zunahme von ADHS, Autismus und einer beeinträchtigten kognitiven Entwicklung.
PM2.5 verringerte die Expression von BDNF in der Plazenta.
Erhöhte PM2,5-Konzentrationen beeinträchtigten die kognitive Entwicklung von Erwachsenen (episodisches Gedächtnis) und verstärkten schwere depressive Störungen.
Erhöhte NO2-Konzentrationen korrelierte mit Demenz, NOx mit Parkinson.
Bei Ratten führten eingeatmete Druckerpartikel in einer Studie zu 5-fach erhöhten Dopaminwerten, wobei diese wahrscheinlich durch eine erhöhte Synthese und nicht durch einen verringerten Abbau entstanden.68
Individuelle Unterschiede in der Anfälligkeit für Luftverschmutzung scheinen mit dem ε4-Allel des Apolipoprotein-E-Gens (APOE) zusammenzuhängen, das der wichtigste genetische Risikofaktor für Alzheimer ist. PAK, EC und NO2 korrelierten nur bei Trägern des APOEε4-Allels deutlich mit:69
- Verhaltensproblemen,
- einer geringeren Abnahme der Unaufmerksamkeit im Laufe der Zeit
- einem kleineren Caudatusvolumen
Erhöhte NO2- und Feinstaub-Werte in Schulen scheinen die Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses zu beeinträchtigen. Pro Anstieg der Exposition um einen Interquartilsbereich verringerte sich die jährlichen Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses:70
- bei NO2 im Freien um 20 %
- um Ultrafeinstaub in Innenräumen um 19,9 %
Kinder auf Schulen mit höherer chronischer verkehrsbedingter Luftverschmutzung (elementarer Kohlenstoff, Stickstoffdioxid und Ultrafeinstaub [10-700 nm]) auf dem Schulhof und im Klassenzimmer zeigten einen verlangsamte kognitive Entwicklung. Die Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses betrug lediglich 7,4 % (ggüber 11,5 %). Der Zuwachs war bei allen kognitiven Messungen verringert. Ein Wechsel vom ersten zum vierten Quartil der Werte von elementarem Kohlenstoff in Innenräumen verringerte den Zuwachs beim Arbeitsgedächtnis um 13,0 %.71 Eine weitere Studie fand vergleichbare Ergebnisse.72
Eine Studie fand einen Anstieg ADHS-bedingter Krankenhauseinweisungen bei Jugendlichen nach kurzzeitiger Stickoxidbelastung (+ 68 %), kurzzeitiger Schwefeldioxidbelastung (+ 29 %) und kurzzeitiger PM10-Belastung (+ 17 %).73
Die Exposition gegenüber Stickstoffdioxid, Ozon und Schwefeldioxid wird mit Verhaltens- und Entwicklungsstörungen in Verbindung gebracht, Angstzustände mit Feinstaub (PM10), Ozon und Schwefeldioxid, und die Gesamtverschmutzung mit ADHS und Essstörungen.74
Die Emission von Stickoxiden sank in Deutschland von 1990 bis 2020 um knapp 2/3.75
PM2.5-Exposition76
- reduzierte die Lebensfähigkeit und erhöhte die Apoptose in Hippocampus-Neuronen
- störte die synaptische Ultrastruktur und die synapsenbezogene Proteinexpression
PKA/CREB/BDNF vermittelt Schadenswirkung von PM2,5. Die durch PM2.5 induzierten neuronalen und synaptischen Schäden76
- wurden durch Verringerung von PKA/CREB/BDNF verschlimmert
- wurden durch Erhöhung von KA/CREB/BDNF verbessert
3.1.2.6.2. Renovierungsdämpfe, Weihrauch, Kochölausdünstungen
Eine umfangreiche chinesische Studie an 8.692 Kindern von 6 bis 12 Jahren fand eine signifikante Erhöhung des ADHS-Risikos der Kinder durch:77
- Wohnungsrenovierungen
- Weihrauchverbrennung
- Kochölausdünstungen
- Rauchern im Haushalt
3.1.2.7. Gehirnerschütterungen und Schädel-Hirn-Traumata (+ 68 %)
Die Schwere von Gehirnverletzungen korreliert mit einer signifikant höheren ADHS-Symptomatik. Eine durch Gehirnverletzungen veränderte Morphometrie des Default Mode Netzwerks (DMN) sagt eine höhere ADHS-Symptomatik 12 Monate nach der Verletzung voraus, während die Morphometrie des Salienznetzwerks (SN) und zentrales exekutives Netzwerks (CEN) keine signifikanten unabhängigen Prädiktoren darstellten.78
Eine Studie untersuchte leichte (Gehirnerschütterung) und schwere Schädel-Hirn-Traumata vor dem 10. Lebensjahr. Die Inzidenz lag bei 1.156 pro 100.000 Personenjahren. Im Alter von 19 Jahren war das ADHS-Risiko um 68 % erhöht und das Risiko für eine Lernbehinderung um 29 % erhöht.79
Bei schwereren Schädel-Hirn-Trauma-Fällen war der Zusammenhang nicht statistisch signifikant. Bei einer Analyse der Fälle mit möglicher Schädel-Hirn-Trauma (entsprechend einer Gehirnerschütterung) war das Ergebnis signifikant (Risiko für ADHS um 105 % erhöht, Risiko für Lernbehinderung 42 % erhöht). Das Risiko im Erwachsenenalter war insbesondere bei den Kindern mit den am wenigsten schweren Verletzungen erhöht.
Traumatische Hirnverletzungen bei Kindern korrelierten mit einer verdoppelten Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Medikation in den folgenden 20 Lebensjahren.80
Unter 1.709 Eishockeyspielern von 11 bis 17 Jahren korrelierte die Rate an Gehirnerschütterungen mit höheren selbst- und elternberichteten Werten für Aufmerksamkeitsprobleme. Nur selbstberichtete Hyperaktivität, nicht elternberichtete Hyperaktivität, korrelierte ebenfalls signifikant mit einer Gehirnerschütterung. Ein T-Score ≥ 60, der Aufmerksamkeitsprobleme und Hyperaktivitäts-Werte kombiniert (eine Schätzung der wahrscheinlichen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung), war nicht signifikant mit der Häufigkeit von Verletzungen oder Gehirnerschütterungen verbunden.81
Dies deckt sich mit der bekannten erhöhten Unfall- und Verletzungsgefahr durch ADHS. Es stellt sich daher die Frage, ob Gehirnerschütterungen und Schädel-Hirn-Traumata eine Ursache oder nicht eher eine Folge eines ADHS sind.
3.1.2.8. Chlorpyrifos
Bei Kindern zwischen 1 und 6 Jahren korrelierten Chlorpyrifosrückstände im Blut mit dem ADHS-Risiko.82 Vitamin D verringerte das Risiko.
Chlorpyrifos erhöht auch bei pränataler Kontaminierung der Mutter während der Schwangerschaft das ADHS-Risiko signifikant.
3.1.2.9. Zuckerkonsum
Eine Studie fand eine Korrelation zwischen der Zuckeraufnahme mit 30 Monaten und dem Risiko für ADHS, Schlafstörungen und Angst. Im Alter von 12 Monaten fand sich keine Korrelation.83
Ob es sich hierbei um eine kausale Ursache oder um eine Folge veränderter Nahrungspräferenzen aufgrund der Störungsveranlagung handelt, ist offen.
3.1.2.10. Ozonexposition
Kinder zwischen 3 und 12 Jahren in China, die höheren Konzentrationen von Ozon ausgesetzt waren, zeigten ein erhöhtes ADHS-Risiko. Dieses erhöhte sich durch Sport weiter.19
3.1.2.11. Hyperthyreose / Schilddrüsenüberfunktion (+ 70 %)
Eine Studie fand bei Kindern mit Hyperthyreose eine 1,7-fache Prävalenz von ADHS.84
Hyperthyreose kann ADHS-ähnliche Symptome verursachen, darunter Ängstlichkeit, Nervosität, Reizbarkeit und körperliche Hyperaktivität. Eine Studie fand eine Korrelation zwischen erhöhten TSH-Werten und Hyperaktivität bei ADHS.85
Zu den Auswirkungen abnormaler Schilddrüsenhormonspiegel während der Schwangerschaft siehe unter Pränatale Stressoren als ADHS-Umwelt-Ursachen
3.1.2.12. Perfluorooctansulfonat (PFOS) (+ 77 %)
Perfluorooctansulfonat (PFOS) in der Muttermilch korrelierte mit einem um 77 % erhöhten ADHS-Risiko je höherem Interquartilsbereich.86
PFOS verursachte bei Zebrafischen ADHS-Symptome (Hyperaktivität, kognitive Probleme)., verringerte den Dopamainspiegel und die Anzahl dopaminerger Neuronen und störte die Transkriptionsprofile von Genen, die mit dem dopaminergen System in Verbindung stehen. MPH linderte die durch PFOS induzierten ADHS-Symptome und stellte den DA-Gehalt, die Anzahl der dopaminergen Neuronen und die Expression der mit dem DA-Stoffwechsel verbundenen Gene wieder her.87
3.1.2.13. β-Hexachlorcyclohexan (β-HCH) (+ 75 %)
Peβ-Hexachlorcyclohexan (β-HCH) in der Muttermilch korrelierte mit einem um 75 % erhöhten ADHS-Risiko je höherem Interquartilsbereich.86
3.1.2.14. Blei (+ 160 % bis + 306 %)
Eine Bleiexposition während der Entwicklung erhöhte laut mehrerer Metaanalysen das ADHS-Risiko88 um
Mäuse, die von Geburt an chronisch anorganischem Blei ausgesetzt werden, zeigen eine etwa dreimal höhere spontane motorische Aktivität als Kontrollmäuse. Zudem ihre Verhaltensreaktionen auf Amphetamin, Methylphenidat und Phenobarbital verändert.92
3.1.2.15. Quecksilber (+ 168 %)
Eine Methylquecksilber-Exposition während der Entwicklung erhöhte laut einer Metaanalyse das ADHS-Risiko um 168 %.51 Ein Review beschreibt die Kausalität.9390
Zwei Metaanalyse fanden keine signifikante Risikoerhöhung durch Quecksilber.9188
3.1.2.16. Mangan (+ 163 %)
Eine Manganexposition während der Entwicklung erhöhte laut einer Metaanalyse das ADHS-Risiko um
- 163 %.51
- 79 %91
- Eine frühe Manganexposition verursacht dauerhafte Aufmerksamkeitsprobleme über den mTOR-Pfad und eine Veränderung des katecholaminergen Systems94 sowie sensomotorische Probleme.95
Manganvergiftung zeigt eine Korrelation mit bestimmten CYP2D6-Genvarianten.96 Wir halten es für denkbar, dass diese auch einen Einfluss auf das ADHS-Risiko als Folge einer Manganexposition haben.
MPH verringerte die bei Ratten durch frühe Manganexposition verursachten Aufmerksamkeitsprobleme und sensomotorischen Probleme. 0,5 mg/kg/d verbesserten die Aufmerksamkeitsprobleme vollständig, allerdings erst nach längerer Behandlung, 3,0 mg/kg/d verbesserten die sensomotorischen Defizite sofort. Die selektive Antagonisierung von D1-, D2- oder α2A-Rezeptoren beeinflusste weder die Mn-induzierten Aufmerksamkeitsprobleme noch deren Verbesserung durch MPH. D2R-Antagonisten verringerten die sensomotorischen Defizite von Mn. D1-Antagonisten verringerten die Wirksamkeit von MPH auf sensomotorische Defizite.95
Bei ADHS-Betroffenen wurden erhöhte Manganspiegel nur im Haar, nicht aber in Blutspiegel gefunden.97
Eine Verdoppelung des Mangangehalts in Zähnen aus pränataler wie postnataler Zeit erhöhte das Risiko von Aufmerksamkeitsproblemen und ADHS-Symptomen in der Schulzeit um 5 %. Mangan aus der Zeit des Kindesalters zeigte keinen Einfluss.98
Ein Tiermodell mit entwicklungsbedingter Manganexposition zeigte, dass Mangan dauerhafte Aufmerksamkeits- und sensomotorische Defizite verursachen kann, die einem ADHS-I ähneln. Orales Methylphenidat konnte die durch frühe Mangan-Exposition entstehenden Defizite vollständig ausgleichen.99
3.1.2.17. Arsen
Eine Arsenexposition während der Entwicklung erhöhte laut einer Metaanalysen das ADHS-Risiko um
- 53 %91
3.1.2.18. Phtalate (+ 212 % (Mädchen) bis + 254 % (Jungen) )
Eine Phtalat-Exposition während der Entwicklung erhöhte laut einer Metaanalyse das ADHS-Risiko für Mädchen um 212 % und für Jungen um 254 %.51
Eine andere Studie fand durch eine Phtalatexposition in der frühen Kindheit nur bei Kindern mit ASS eine um 10 % erhöhte ADHS-Symptomatik, vornehmlich in Richtung externalisierender Verhaltensweisen.100
3.1.2.19. Fieberkrämpfe (+ 28 % bis + 66 %; + 640 % bei Frühgeborenen)
Fieberkrämpfe haben nach klinischen wie tierexperimentelle Studien schädliche Auswirkungen auf die Neuroentwicklung, die zu ADHS, erhöhter Epilepsieanfälligkeit, Hippocampussklerose und kognitivem Abbau im Erwachsenenalter führen können.101
Fieberkrämpfe bei Kindern erhöhten das ADHS-Risiko um 28 %102 bis 66 %.103 Ein Frühgeborenenstatus von Betroffenen, die Fieberkrämpfe hatten, erhöhte das Risiko von ADHS auf das 6,4-fache, das Risiko von ASS auf das 16,9-fache.104
3.1.2.20. Frühpubertät (Pubertas praecox) (+ 40 %)
Unter Mädchen mit einer Frühpubertät (Beginn der sexuellen Reifung vor dem 8. Lebensjahr bei Mädchen und vor dem 9. bei Jungen) fand sich eine ADHS-Prävalenz von 13,5 %.105
3.1.2.21. Pyrethroid-Pestizide
Das Pyrethroid-Pestizid Deltamethrin in niedriger Dosis verursacht während der Entwicklung bei Mäusemännchen Veränderungen in ADHS- und NDD-relevanten Verhaltensweisen sowie im striatalen Dopaminsystem.
Deltamethrin während der Entwicklung verursachte einen multimodalen Biophänotyp im Gehirn, der für ADHS relevant ist. Mäusemütter erhielten während der Trächtigkeit und Laktation Deltamethrin (3 mg/kg oder Vehikel alle 3 Tage), was deutlich unter den von der EPA festgelegten Grenzwerten liegt. Männliche Nachkommen zeigten Veränderungen in mehreren kanonischen Uhrengenen. Die Kinomanalyse ergab Veränderungen in der Aktivität mehrerer Kinasen, die an der synaptischen Plastizität beteiligt sind, unter anderem die mitogen-aktivierten Proteinkinase (MAP) ERK. Die Multiomics-Integration zeigte ein dysreguliertes Protein-Protein-Interaktionsnetzwerk mit primären Clustern für MAP-Kinase-Kaskaden, die Regulierung der Apoptose und die synaptische Funktion.106
Laut einer Metastudie erhöhten Pyrethroid-Insektizide das Odds Ratio für ADHS dagegen nicht signifikant (0,99)51
3.1.2.22. Metopische Synostose (+ 500 %)
Rund jedes zweite Kind, das im Alter von 9,5 (± 7,9) Monaten eine Operation wegen Metopischer Synostose (Trigonozephalie oder metopische Nahtkraniosynostose) hatte, zeigte im Alter von 10.3 (± 3.5) Jahren mindestens grenzwertige Hyperaktivitäts- und Unaufmerksamkeitswerte.107 Ein höheres Alter bei der Operation war mit einer schlechteren Exekutivfunktion verbunden.
3.1.2.23. Organophosphate
Ein Kontakt mit Organophosphaten in der Kindheit korrelierte mit einem erhöhten ADHS-Risiko.90
3.1.2.24. Polychlorierte Biphenyle (PCB)
Ein Kontakt mit Polychlorierten Biphenylen (PCB) in der Kindheit korrelierte mit einem erhöhten ADHS-Risiko.90
3.1.2.25. Schlafmangel
Kurzer Schlaf korrelierte mit erhöhtem Risiko von Angstzuständen, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen und aktivitätseinschränkenden emotionalen und psychologischen Zuständen, nachdem die ethnische Zugehörigkeit, die Deprivation, das Alter und das Geschlecht berücksichtigt wurden.108
Ethnische Zugehörigkeit und sozioökonomische Benachteiligung in der Nachbarschaft korrelierten unabhängig voneinander mit kurzem Schlaf und Schnarchen/geräuschvoller Atmung während des Schlafs.
Langer Schlaf korrelierte unabhängig davon mit einem erhöhten Depressionsrisiko.
3.1.2.26. Kraniosynostose
Kraniosynostose ist eine vorzeitige Verknöcherung von Schädelnähten. Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft erhöht das Risiko einer Kraniosynostose erheblich. In einer Studie zeigte die Mehrheit der Kinder mit Kraniosynostose zugleich ADHS-Symptome.109
3.1.2.27. Akne vulgaris
Eine Studie fand bei Jugendlichen (12 bis 17 Jahre) mit Akne vulgaris moderat erhöhte Werte für110
- Hyperaktivität
- Hyperaktivität/Impulsivität
- Unaufmerksamkeit
- ADHS-Gesamtsscore
Für Akne vulgaris wie für ADHS soll eine erhöhte Androgenhormonbelastung im Mutterleib mitursächlich sein.
3.2. Belastende psychische Kindheitserfahrungen als (Mit-)Ursache von ADHS
Traumatisierende Erfahrungen, aber auch bereits erheblichen Stress auslösende Belastungserfahrungen unterhalb der Schwelle eines Traumas, sind Risikofaktoren für ADHS. Soziale Risikofaktoren erhöhen das ADHS-Risiko.111112
Massiver Stress der Mutter in den ersten Kindheitsjahren verursacht signifikante epigenetische Veränderungen an der DNA der Kinder.113
Kinder, deren Eltern unverheiratet oder erwerbslos oder ohne Sozialversicherung waren oder eine “sehr hohe” wirtschaftliche Belastung durch die Kinderbetreuung hatten oder bei denen mindestens ein Elternteil einen Behindertenausweis hatte, hatten im Alter von 5,5 Jahren ein um 21 % erhöhtes ADHS-Risiko, ein um 36 % erhöhtes Risiko einer Lernbehinderung und ein um 80 % erhöhtes ASS-Risiko. Dies betraf 10,8 % der 19.185 Kinder.114
3.2.1. Stress
3.2.1.1. Frühe massive Stresserfahrungen
Frühkindlicher Stress und chronischer Stress (Vernachlässigung, Deprivation, Missbrauch, Trauma) können an der Entwicklung von ADHS beteiligt sein.115112116117 20 % bis 50 % aller Kinder, die ein frühkindliches Trauma erleben, entwickeln klinische ADHS-Symptome.115118119
Die Anzahl der Traumata korreliert mit der Schwere des ADHS120 wie mit dem Risiko von ADHS. Die Anzahl von negativen Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs) erhöhte das ADHS-Risiko:121
- 1 ACE: 2,1-faches ADHS-Risiko
- 2 ACEs: 4,5-faches ADHS-Risiko
- 3 und mehr ACEs: 5,2-faches ADHS-Risiko-
- Die Schätzwerte für ADHS-Symptome waren bei sexuellem Missbrauch, emotionaler und körperlicher Vernachlässigung und Mobbing höher.
Der Stress durch eine frühe Trennung von der Mutter löste bei Ratten Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit aus, die durch MPH beseitigt werden konnten.122
Die Anzahl der belastenden Lebensereignisse (gemessen mit dem Traumatic Events Screen Inventory für Kinder) korrelierte mit schwererem ADHS.123
ADHS-Symptome korrelieren mit:124
- K-SADS-PL-Werten für posttraumatische Belastungsstörungen im Alter von 14 und 15 Jahren125
- sexuellem und körperlichem Missbrauch vor dem Alter von 16 oder 17126127
Eine Naturkatastrophe während der frühen Kindheit erhöhte das ADHS-Risiko.128
Siehe hierzu ausführlich unter ⇒ Trauma als Ursache von ADHS
3.2.1.2. Stresserfahrungen in Kindheit und früher Jugend bewirken persistierendes ADHS im Erwachsenenalter
Eine Untersuchung der Stressbelastung von Kindern mit ADHS fand, dass starke Stressbelastung in der Kindheit und Jugend mit schwerem ADHS-HI- bzw. ADHS-I-Verlauf bis ins Erwachsenenalter einherging, während Kinder mit einer schwachen Stressbelastung in Kindheit und Jugend häufig ein remittierendes ADHS (ADHS-HI wie ADHS-I) zeigten.129
3.2.1.3. Aufwachsen im Heim
Bei Kindern, die vorgeburtlich multiplem Drogenkonsum der Mutter ausgesetzt waren und die danach in Heimen aufwuchsen, fand sich im Alter von 17 bis 22 Jahren das 3-fache Risiko von ADHS130, entsprechend einer Prävalenz von rund 20 %.131116 In den US-Kinderfürsorgestellen ist die ADHS-Prävalenz mit 19 % knapp vervierfacht.132
Eine andere Studie fand mit 5,8 % keine erhöhte ADHS-Prävalenz in Heimen ohne deprivierende Lebensbedingungen, jedoch eine deutlich erhöhte ADHS-Prävalenz133 um das knapp 4- bis 7-fache (19 % bis 29,3 %) bei Kindern, die sechs Monate oder länger unter den harten Lebensbedingungen rumänischer Waisenhäusern aufgewachsen waren.134
Je später eine Adoption aus dem Heim erfolgte, desto höher war die ADHS-Prävalenz.135136137
3.2.1.4. Aufwachsen in Adoption
Eine Studie an chinesischen adoptierten Mädchen fand eine ADHS-Quote von 16,7 %, was rund dem dreifachen der üblichen Prävalenz entspricht.138 Ob dies Folge der Adoption oder Folge der Probleme der leiblichen Eltern ist, die dann auch Ursache der Adoptionsfreigabe waren, ist offen. Es spräche einiges für einen Einfluss letzteren Faktors, wenn nicht die ADHS-Prävalenz mit der Länge des Heimaufenthaltes vor der Adoption korrelieren würde (siehe vorangegangener Abschnitt).
3.2.1.5. Aufwachsen in dysfunktionaler Nachbarschaft
Kinder, die in einer dysfunktionalen Nachbarschaft / dysfunktionalen städtischen Umgebung aufwachsen, haben ein erhöhtes Risiko für ADHS. Interessanterweise scheint dies bei schwarzen Kindern weniger der Fall zu sein.139
Höhere Armut in der Nachbarschaft korrelierte in der bivariaten Analyse mit höherem durch die Eltern berichteten ADHS und einem geringeren durch die Eltern berichteten Medikamentenverbrauch. Armut korrelierte in der multivariaten Analyse nicht mehr mit ADHS, aber der Medikamentenkonsum korrelierte immer noch negativ mit ADHS.140
3.2.1.6. Relativ frühere Einschulung / ältere Klassenkameraden
Die jüngsten eingeschulten Kinder einer Klasse haben gegenüber den ältesten eingeschulten Kindern einer Klasse ein um 30 % erhöhtes ADHS Risiko. Eine Untersuchung an über 400.000 Kindern in den USA zeigte, dass in den Bundesstaaten, in denen ein fixes Alter am 1. September über die Einschulung entscheidet, von den Kindern, die im August geboren waren, die also unmittelbar vor dem Stichtag das Schulalter erreichten, 0,85 % eine ADHS-Diagnose hatten und 0,52 % eine ADHS-Medikation erhielten, während von den Kindern, die im September geboren waren, die also im Schnitt 11 Monate älter waren, nur 0,63 % eine ADHS Diagnose hatten und 0,4 % eine ADHS-Medikation erhielten. In den Bundesstaaten, in denen die Einschulung nicht fix nach Alter zu einem Stichtag erfolgte, hatten die im August Geborenen immer noch eine leicht erhöhte ADHS-Quote gegenüber den 11 Monate älteren, die Differenz lag jedoch nicht mehr bei 0,21 %-Punkten, sondern bei 0,08 %-Punkten.141
Gleichlautend fand eine Metaanalyse von drei brasilianischen Kohortenstudien mit 8 Millionen Teilnehmern und 164.000 ADHS-Betroffenen, dass diejenigen Kinder einer Klasse, die zu den 4 Monaten der jüngsten gehörten, ein um 34 % erhöhtes ADHS-Risiko hatten.142 Zu vergleichbaren Ergebnissen kam eine Studie an 1.042.106 englischen Kindern zwischen 4 und 15 Jahren.143 Das Risiko für Depression und intellektuelle Beeinträchtigung stieg parallel zu dem von ADHS.
Eine französische Registerstudie (n = 58 Millionen) fand, dass die jüngsten Kinder und Jugendlichen einer Klasse häufiger eine ADHS-Diagnose und Methylphenidat verschrieben erhielten.144 Eine Verzögerung des (Vor-)Schuleintritts um ein Jahr verringerte Unaufmerksamkeit/Hyperaktivität im Folgejahr dramatisch (Effektgröße = -0,73). Der Effekt fand sich vorrangig bei Mädchen und hielt bis ins Alter von 11 Jahren an.145
Eine dänische Studie (n = 418,396) fand keinen Einfluss des Alters der Kinder innerhalb einer Schuljahrgangsstufe auf eine (häufigere / seltenere) ADHS-Medikation. Die Autoren führten dies u.a. auf die niedrige ADHS-Prävalenz, klare Diagnosekriterien und hohe Anforderungen zur Verschreibung von ADHS-Medikamenten in Dänemark zurück und verwiesen auf Studien in Ländern mit hoher ADHS-Prävalenz, in denen Unterschiede festgestellt wurden.146
Eine Metastudie (19 Studien aus 13 Ländern mit n = 15,4 Millionen Kindern) bestätigte, dass die relativ jüngsten einer Klasse ein erhöhtes ADHS-Risiko haben (17 von 19 Studien) und vermutete den Grund für den ausbleibenden Effekt in Dänemark in der dort praktizierten späteren Einschulung von Kindern mit Entwicklungsdefiziten.147
Die Untersuchungsergebnisse decken sich teilweise damit, dass laut einer Studie in Kanada erfolgreiche Eishockeyspieler überdurchschnittlich häufig zu den älteren Kindern einer Klasse gehörten. Gleiches zeigte sich unter Belgiens Fußballspielern, bei denen das Geburtsdatum der besonders erfolgreichen Spieler lange Zeit vorrangig im August und im September lag, weil der Stichtag für die Altersbestimmung zur Spielerauswahl eines Jahrgangs der 1. August war. Nachdem dieser Stichtag auf den 1. Januar verschoben wurde, hatten die erfolgreichsten Spieler am häufigsten im Januar und Februar Geburtstag. Eine weitere Untersuchung bestätigte diesen “Effekt des relativen Alters” europaweit.148
Der Effekt dürfte zum einen auf den Auswahlkriterien beruhen. Dies könnte jedoch lediglich die Unterschiede bei Sportlern erklären, die durch unterschiedliche Förderung entstehen können. Die Parallele zu ADHS deutet jedoch darauf hin, dass zugleich eine Auswirkung des Entwicklungshebels der Chancen-/Risiko-Gene vorliegen könnte.
Wie sich diese Unterschiede in Bezug auf ADHS erklären, ist unklar.
Eine Hypothese hierzu lautet, dass jüngere Kinder aufgrund ihres naturgemäß unreiferen Verhaltens durch die beurteilenden Lehrer überdurchschnittlich pathologisiert würden.149
Eine andere Hypothese deutet Verhaltensauffälligkeiten weniger als soziale Folge des relativ jungen Alters innerhalb einer Klasse denn als absolute Folge eines frühen Schuleintritts allgemein. In dieser Studie wurde allerdings kein Unterschied bei ADHS festgestellt.150 Unserer Ansicht nach liegt zudem nahe, dass jüngere Kinder häufiger zu früh eingeschult werden als ältere. Offen ist, wie groß dieser Einfluss auf ADHS ist.
Eine Metastudie fand, dass ein jüngeres relatives Alter nicht statistisch signifikant mit der Persistenz von ADHS bei einer Nachuntersuchung nach 4 Jahren verbunden war.151
Unsere Hypothese dazu ist, dass es zudem eine psychische Belastung darstellen könnte, zu den Jüngsten (und damit zu den Schwächsten) einer Klasse zu gehören. Dass ein niedriger sozialer Rang ein erheblicher Stressor ist, ist bekannt. Untersuchungen, ob oder wie sehr dies ADHS-Diagnosen bei Schulkindern beeinflusst, sind uns bislang nicht bekannt.
3.2.1.7. Wenig Grünwuchs in der Umgebung von Kindergarten / Schule / Wohnung (+ 20 %)
Eine sehr umfassende Untersuchung an knapp 60.000 Kindern (davon 4,4 % mit einer ADHS Diagnose) zwischen 2 und 17 Jahren in 93 Kindergärten / Schulen in Nordostchina fand eine starke negative Korrelation der Menge des Grüns (Menge der Pflanzenwelt) in der Umgebung des Kindergartens / der Schule von Kindern mit ADHS. Je weniger Grünwuchs vorhanden war, desto höher war die ADHS-Quote.152 Eine kanadische Kohortenstudie,56 eine größere Studie aus Neuseeland153 und eine kleinere Studie an Kindern in Barcelona154 sowie eine Metastudie155 kamen zu vergleichbaren Ergebnissen.
Die Schlussfolgerungen hieraus werden von den Autoren der chinesischen Studie kontrovers diskutiert:
- Denkbar ist, dass Grünpflanzen einen ganz allgemein beruhigenden Effekt hat. Da der Mensch bis vor 10.000 Jahren noch Nomade war, codierte eine grüne Umgebung über Jahrmillionen das beruhigende Signal von Nahrung. In Regionen ohne Grünwuchs konnte der Mensch damals nicht lange überleben. Dies entspricht der Biophilia-Hypothese.156
- Grünpflanzen verringern Geräusche. Ein erhöhter Straßen-Hintergrund-Geräuschpegel korreliert mit erhöhten Verhaltens- und Schlafproblemen.157 Lärm war in der kanadischen Kohortenstudie indes kein Risikofaktor.56
- Grünwuchs dient als Filter für Luftschadstoffe und verringert somit Feinstaub und Stickoxide. Feinstaub wie Stickoxide werden als ADHS-Risikofaktoren diskutiert (siehe dort).
- Untersuchungen darüber, ob Menschen in grünen Regionen mehr Sport treiben / sich mehr bewegen als Menschen in weniger grüner (städtischer) Umgebung, kommen zu keinen eindeutigen Ergebnissen.158
Sport ist ein erheblicher Faktor zur Vermeidung / Verringerung von ADHS-Symptomen. - Eine schlechtere Immunregulierung kann nachteilige Auswirkungen auf Gehirnentwicklung und Verhalten zeigen. Ein Versagen der Immunregulierung korreliert mit einer verringerten Exposition gegenüber Makroorganismen und Mikroorganismen. Grünwuchs kann die, die Immunregulierung induzierenden, mikrobiellen Einträge aus der Umwelt anreichern.159
Eine sehr große dänische Kohortenstudie kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass weniger Grünpflanzen in der Wohnumgebung mit einem um bis zu 20 % erhöhten ADHS-Risiko korrelieren.160
Eine Metastudie kam zu gleichartigen Ergebnissen.161 Eine andere Studie fand eine Risikoerhöhung für externalisierende Verhaltensweisen um 15 %, wenn keine Grünfläche innerhalb von 300 Metern um die Wohnung vorhanden war.162
Die Vegetationsmenge in der Umgebung (nicht aber die Menge an Wasserflächen) korreliert mit einer besseren Arbeitsgedächtnisentwicklung bei Kindern.163
Kinder, die ab ihrem 3. Lebensjahr in ländlicher Umgebung aufwuchsen, hatten laut einer Kohortenstudie ein um ein Drittel verringertes Risiko von ADHS.153 Je geringer der Vegetationsanteil in der Umgebung, desto höher war das ADHS-Risiko.164
Möglicherweise könnten auch Grünpflanzen in Innenräumen einen positive Einfluss auf Stresslevel und psychische Gesundheit haben.165
Städtische Umgebung ist auch für andere psychische Störungen wie z.B. Schizophrenie Risiko erhöhend.166
Das Risiko für Schizophrenie wie von ADHS wird durch Entzündungen erhöht. Feinstaub erhöht die Entzündungsbelastung des Gehirns. Feinstaub erhöht das ADHS-Risiko.
3.2.1.8. Autoverkehrsdichte auf nächstgelegener Straße (+ 10 %)
Die Dichte des Pkw-Verkehrs auf der nächstgelegenen Straße korrelierte mit einem Anstieg der externalisierenden Symptome um 7 % und des ADHS-Indexes um 10 %.162
Die Daten wurden 2013 bis 2016 in Europa erfasst. Zu den Zeiten, als bleihaltiges Benzin zugelassen war, dürfte die Belastung deutlich höher gewesen sein.
Ein Wohnen in der Stadt war im Vergleich zu anderen Umweltursachen am stärksten mit Autismus+ADHS und am wenigsten mit nur ADHS verbunden. Mütterliches Rauchen war nur mit ADHS, aber nicht mit nur Autismus assoziiert. Eine psychiatrische Vorgeschichte der Eltern wies ähnliche Assoziationen mit allen Untergruppen auf.167
3.2.1.9. Lärm von Straßen und Nachbarn
Bei 9-jährigen Kindern korrelierte Straßenlärm und Lärm von Nachbarn mit ADHS.168 Das Ergebnis war unabhängig von Schlafproblemen.
3.2.2. Eltern
3.2.2.1. Mangelndes Bindungsverhalten der Mutter/Eltern in den (ersten) Kindheitsjahren
Eine fehlende sichere Bindung des Kindes zur Mutter hat wie soziale und emotionale Deprivation umfangreich negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit des Kindes auch in späteren Lebensjahren.169
Die Sicherheit der Bindung des Säuglings an die Mutter bzw. die zentrale Bezugsperson bestimmt den Spiegel des Stresshormons Cortisol im Gehirn der Babys.
Ein desorganisiertes Bindungsverhalten ist ein Risikoelement für ADHS.170 Bindungsstörungen von Kindern in den ersten Lebensjahren führen bei entsprechender genetischer Disposition zu einer Aktivierung des DRD4-Gens, das auch bei ADHS häufig involviert ist.171 Mangelnde Geduld der Eltern wurde als Risikofaktor für ADHS genannt,18 wobei Ungeduld ein ADHS-Symptom darstellen und daher auch Ausdruck für ein ADHS bei den Eltern und damit für eine genetische Weitergabe sein kann.
Massiver Stress der Mutter in den ersten Kindheitsjahren verursacht signifikante epigenetische Veränderungen der DNA der Kinder.113
Bereits mangelhaftes Erziehungsverhalten ist ein psychosozialer Risikofaktor für ADHS.172
- Inkonsequenz in der Erziehung
- fehlende Regeln
- Häufige Kritik und Bestrafungen
- kaltes, distanziertes, liebloses Umgehen
Details
Wie viel Zeit Eltern mit ihren Kindern verbringen können, ist dabei nicht der ausschlaggebende Faktor. Viel wichtiger ist es, dass Kinder sich in jeder Situation und insbesondere auch bei eigenem Fehlverhalten absolut darauf verlassen können, dass sie angenommen, willkommen, geliebt sind. Das bedeutet nicht, dass Kinder alles tun dürfen, was sie wollen. Ein gutes, warmes Erziehungsverhalten ist in der Lage, unangemessenes Verhalten konsequent einzugrenzen, und zwar indem sie ein unerwünschtes Verhalten bewerten, ohne damit zugleich die Person des Kindes insgesamt abzuwerten (Dein Verhalten ist nicht ok, Du bist ok). Fehlende Regeln (und noch viel schlimmer: nur manchmal geltende Regeln) sind für Kinder kaum ertragbar, weil sie jede Sicherheit nehmen. Die Frage eines verpflichtenden “Elternführerscheins” ist Gegenstand rechtlicher und ethischer Diskussionen.172
Zahlen
10,5 Mio. Haushalte in Deutschland haben Hunde.173(Stand 2014)
8,1 Millionen Familien in Deutschland haben minderjährige Kinder (Stand 2014).
Eine Googlesuche nach Elternkurs OR Elternkurse findet 169.000 Ergebnisse. (20.10.2015)
Eine Googlesuche nach Hundeschule findet 1.240.000 Ergebnisse. (20.10.2015)
Bei Borderline, das typischerweise durch intensiv Stress auslösende Bindungsstörungen zu den Beziehungspersonen in der jüngsten Kindheit (erste 2 Jahre) aufgrund körperlicher, sexueller oder psychischer Misshandlung entsteht, besteht eine erhebliche Komorbidität von ADHS.174
3.2.2.2. Emotional zurückgezogenes Vaterverhalten im Säuglingsalter
Eine Studie beobachtete das Vater-Baby-Verhalten und dessen Einfluss auf die Emotionsregulation der Kinder im Kleinkindalter und ADHS-Symptome in der mittleren Kindheit.
Eine emotionale Zurückgezogenheit der Väter im Säuglingsalter und eine Minimierung der Reaktionen auf die Ängste der Kinder im Kleinkindalter sagte die Entwicklung von ADHS-Symptomen in der mittleren Kindheit vorher. Die Erziehungsleistung der Väter im Alter von 8 und 24 Monaten der Kinder beeinflusste das ADHS-Risiko im Alter von 7 Jahren durch die Schwierigkeiten der Kleinkinder bei der Emotionsregulierung signifikant.175
3.2.2.3. Stress der Mutter im Kindesalter
Stress der Mutter von 5 – 13-jährigen Jungen mit ADHS erhöhte 12 Monate später deren ADHS-Symptomatik tendenziell und verschlechterte die Lebensqualität der Kinder signifikant.176. Stress der Eltern korrelierte allgemein mit erhöhten ADHS-Symptomen der Kinder.177
3.2.2.4. Psychische Probleme der Eltern
Psychische Probleme der Eltern erhöhen das ADHS-Risiko für die Kinder.178112
Psychische Probleme der Eltern könnten als Umwelteinfluss und/oder als genetischer Einfluss wirken.
3.2.2.4.1. Depression (+ 42 bis 125 %)
Depressive Symptome bei Vater oder Mutter erhöhen das ADHS-Risiko der Kinder.179
- um 66 %180
- um 42 % bis 125 %:181
- vor der Schwangerschaft
- Depression eines Elternteils:
- ADHS + 92 %
- ASS + 63 %
- Depression der Mutter:
- ADHS + 125 %
- ASS + 101 %
- Depression eines Elternteils:
- während der Geburt
- Depression eines Elternteils:
- ADHS + 72 %
- ASS + 88 %
- Depression der Mutter:
- ADHS + 75 %
- ASS + 58 %
- Depression eines Elternteils:
- im ersten Lebensjahr des Kindes
- Depression eines Elternteils:
- ADHS + 71 %
- ASS + 110 %
- Depression der Mutter:
- ADHS + 55 %
- ASS + 59 %
- Depression eines Elternteils:
- im 2. bis 4. Lebensjahr des Kindes
- Depression eines Elternteils:
- ADHS + 52 %
- ASS + 101 %
- Depression der Mutter:
- ADHS + 55 %
- ASS + 64 %
- Depression eines Elternteils:
- ab dem 4. Lebensjahr des Kindes
- Depression eines Elternteils:
- ADHS + 42 %
- ASS + 85 %
- Depression der Mutter:
- ADHS + 43 %
- ASS + 65 %
- Depression eines Elternteils:
- vor der Schwangerschaft
- mütterliche Depressionen erhöhen das Risiko von ADHS und ASS beim Nachwuchs stärker als väterliche Depressionen182
3.2.2.4.2. Bipolare Störung ( + 100 %)
- Bipolare Störung bei Elternteil verdoppelt ADHS-Risiko183
3.2.2.4.3. Antisoziale Persönlichkeitsstörung des Vaters
Eine antisoziale Störung eines Elternteils ist ein gewaltiges (und meist auch gewaltsames) Risiko für ADHS der Nachkommen.184
3.2.2.4.4. Alkoholprobleme des Vaters
Alkoholprobleme beim Vater erhöhen das ADHS-Risiko für den Nachwuchs.185
3.2.2.5. Unvollständige Familien
Alleinerziehende Familien erhöhen das Risiko für ADHS.185184112177
Alleinerziehende Eltern haben naturgemäß ein höheres Risiko, ihren Kindern nicht ausreichend liebevolle Zuwendung und Sicherheit geben zu können. Es gibt allerdings sehr wohl Alleinerziehende, die dies sehr gut können. Entscheidend ist nicht die Zeit, die (teil-/berufstätige) Eltern (weniger) mit ihren Kindern verbringen können, sondern ob die Kinder das konstante und sichere Gefühl haben, jederzeit angenommen und geliebt zu sein, so wie sie sind.
ADHS-Betroffene erleiden (auch im Erwachsenenalter) häufigere Trennungen in ihren Beziehungen als Nichtbetroffene.
3.2.2.6. Familiäre Instabilität, ständiger Streit zwischen den Eltern
Ein hoher Stresspegel in der Primärfamilie erhöht das ADHS-Risiko.185184112177
Familienkonflikte und ADHS
“Chronische Familienkonflikte, einen verminderten familiären Zusammenhalt sowie eine Konfrontation mit elterlicher Psychopathologie (vor allem mütterlicherseits) findet man häufiger in Familien mit ADHS-Betroffenen im Vergleich zu Kontrollfamilien”.186
Das Risiko für Kinder, ADHS zu entwickeln (Odds Ratio) steigt mit dem Maß der psychosozialen Belastung (Rutter Indikator, RI). Bei einem RI von 1 liegt das Odds Ratio bei 7, bei einem RI von 4 liegt es bei 41,7 (68). Odds Ratios > 1 zeigen ein gesteigertes Risiko an.187
Verlaufsstudien finden auch während des Kindes- und Jugendalters keine vollständige Persistenz und bestätigen ein häufiges Zusammenfallen mit familiären Problemen und Elternproblemen.188 Umgekehrt hat ein hoher Familienzusammenhalt und soziale Unterstützung eine schützenden Effekt vor ADHS.189
3.2.2.7. Junges Alter der Eltern (+ 14 % bis + 92 %)
Kinder, deren Mutter kein ADHS hat, haben ein um 14 % erhöhtes ADHS-Risiko, wenn ein Elternteil jünger als 20 Jahre ist. Kinder, deren Mutter ADHS hat, haben ein um 92 % erhöhtes ADHS-Risiko, wenn ein Elternteil jünger als 20 Jahre ist.190191 Eine weitere Studie berichtet ebenfalls, dass jüngere Väter häufiger Kinder mit ADHS hatten als ältere Väter.192 Eine Studie berichtet ein um 32 % verringertes ADHS-Risiko je 10 Jahre höherem mütterlichen Alter. Die Korrelation wurde allerdings durch andere Faktoren abgeschwächt. Diese waren:193
- Familieneinkommen
- Ausbildung der Betreuungsperson
- polygener ADHS-Risikoscore
- Dauer des Stillens
- pränatale Alkoholexposition
- pränatale Tabakexposition
In einer Kohortenstudie hatten Kinder mit ADHS ebenfalls überdurchschnittlich junge Mütter:194
unter 24 Jahre: 1,66-fach
25 bis 29 Jahre: 0,92-fach
30 bis 34 Jahre: 0,66-fach
über 35 Jahre: 0,58-fach
Eine weitere Studie berichtet dies ebenso, ergänzt um einen Anstieg von Lernproblemen bei besonders jungen (20 bis 24 Jahre) und besonders alten Müttern (35 bis 39 Jahre).195
In einer größeren Studie berichteten knapp 2 von 3 jungen Müttern mindestens ein psychisches Gesundheitsproblem. Fast 40 % hatten mehr als eines. Bei jungen Müttern war die Wahrscheinlichkeit, an einer Angststörung (generalisierte Angststörung, Trennungsangststörung, Sozialphobie und spezifische Phobie), einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, einer oppositionellen Trotzstörung oder einer Verhaltensstörung zu leiden, zwei- bis viermal so hoch wie bei älteren Vergleichsmüttern oder Frauen im Alter von 15-17 Jahren und es war zwei- bis viermal so wahrscheinlich, dass sie mehr als ein psychiatrisches Problem hatten.196
Eine Studie fand keinen Zusammenhang zwischen dem Alter der Mutter und dem ADHS-Risiko des Nachwuchses.20
3.2.2.8. Niedriger sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie (+ 50 % bis + 130 %)
Kinder aus Familien aus “unteren Schichten” haben eine erhöhte Korrelation zu ADHS197184179 und erhalten häufiger ADH)S-Medikamente.198112
Kinder aus unteren Schichten haben ein in etwa doppelt so hohes Risiko von ADHS wie Kinder aus höheren Schichten (bei einem 3-Schichten-Modell).199
Ebenso erhöhen beengten Wohnverhältnisse das ADHS-Risiko der Kinder.184 Eine schlechte finanzielle Ausstattung der Familie korrelierte mit einem um das 2,12-fache erhöhten ADHS-Risiko im Kindergartenalter in den USA.200
Details
Die Gesamtprävalenz von ADHS bei Kindern und Jugendlichen wurde in der Bella-Studie von 2007201 mit 2,2 % festgestellt (was wir für zu niedrig erachten). Eine Bella-Teilstudie mit n= 2500 Probanden zwischen 7 und 17 Jahren202 benennt die Prävalenz in der Elternbeurteilung mit rund 5 %. Beide Darstellungen bestätigen ein starkes Auseinanderfallen der Prävalenz nach sozialen Schichten. Nach der Bella-Studie 2007 ist die mittlere Schicht mit der Durchschnittsprävalenz belastet, während die untere soziale Schicht mit 3,9 % eine viermal so hohe Prävalenz hat wie die obere Schicht.203 Die Bella-Teilstudie berichtet in der unteren sozialen Schicht (mit 7,2 %) eine ca. 2,3 Mal so hohe Prävalenz von ADHS als in der oberen Schicht mit 2,8 % (bei 3 Schichten).202
Ein niedriges Einkommen der Eltern korrelierte in einer Kohortenstudie in Dänemark mit einem um 2,3 % erhöhten ADHS-Risiko der Kinder.204 Bei Kindern von Eltern, die arbeitslos waren und ein niedriges Einkommen und einen niedrigen Bildungsstand hatten, fand sich ein um 4,9 % erhöhtes ADHS-Risiko. Dass dieses Muster nicht auf ADHS beschränkt ist, sondern sich identisch bei anderen psychischen Störungen, z.B. Ängsten, Depressionen oder Störungen des Sozialverhaltens findet, wird von uns als starker Hinweis für eine Bestätigung der These der Stresseinwirkung als Entstehungsursache psychischer Störungen betrachtet. Auch diese anderen psychischen Störungen beruhen, wie ADHS, auf einer multigenetischen Disposition (siehe 2.1.3. und 2.1.4.), die durch Stressbelastung in der frühen Kindheit epigenetisch manifestiert werden.205206207
⇒ Genkandidaten und frühkindlicher Stress als Ursache anderer psychischer Störungen
Interessanterweise hatten in einer Studie Familien mit einem hohen sozioökonomischen Status keine Vorteile von einer Verhaltenstherapie, die zusätzlich zu einer medikamentösen Behandlung erfolgte. Lediglich Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status profitierten von einer Kombinationstherapie aus Medikamentenbehandlung und Verhaltenstherapie mehr als von alleiniger medikamentöser Behandlung.208
Wir vermuten, dass weniger der sozioökonomische Status (das Einkommen oder die Größe der Wohnung selbst) die entscheidenden Faktoren sind, sondern dass diese Umstände häufiger mit unangemessenen Erziehungsmethoden und eigenen Problemen der Eltern korrelieren (wobei letztere einerseits den sozioökonomischen Status der Eltern beeinflussen und andererseits vererblich sein können).
Reine Verhaltenstherapie hat einen deutlichen Fokus auf Symptomreduzierung. Denkbar wäre, dass Familien mit hohem sozioökonomischem Status eine höhere Fähigkeit haben, ihre Verhaltensweisen an gegebene Umstände anzupassen. Eine solche höhere Fähigkeit zur Verhaltensadaption wäre bereits per se bereits verhaltenskorrigierend wirksam und würde die Verhaltensanpassungen durch eine Verhaltenstherapie vorwegnehmen.
Eltern von ADHS-Kindern zeigten erhöhte Werte von kognitiven Schwächen (IQ, Leseaufgaben, verbale Sprachkompetenz), die höchsten Stresswerte aller verglichenen Elterngruppen, die meisten ADHS-Symptome sowie eine schlechte Leseleistung.209
Daneben gibt es Hinweise, dass (in Bezug auf ADHS-betroffene Kinder) umfeldzentrierte Psychotherapien (Interventionen in der Familie, bei den Eltern, im Kindergarten oder in der Schule) wirksamer sind als patientenzentrierte Verhaltenstherapien. Teilweise wurde patientenzentrierten Verhaltenstherapien eine Wirksamkeit abgesprochen.210 Dies dürfte sich insbesondere bei kleineren Kindern (bis 6 oder 8 Jahre) bewahrheiten.
Dies könnte darauf hindeuten, dass bei Kindern externe Faktoren eine erhebliche Ursache für ADHS darstellen.
Auch unter College-Studenten scheint eine schlechtere finanzielle Ausstattung mit erhöhter ADHS-Symptomatik zu korrelieren.211 Es bestand kein Zusammenhang mit einer (selbstverursachten) Verschuldung der Studenten.
Ein genetisch vorhergesagter, um eine SD niedrigerer sozioökonomischer Status sagte kausal ein 5,3-faches ADHS-Risiko voraus, während andersherum ADHS den sozioökonomischen Status nur sehr gering kausal verursachte. Ein genetisch vorhergesagter, um eine SD höheres Familieneinkommen sagte kausal ein um 65 % niedrigeres ADHS-Risiko voraus. Auch hier war der umgekehrte Einfluss gering.212
3.2.2.9. Niedriger Bildungsstand der Eltern (+ 3,5 % bis + 4,9 %)
Eine niedrige Ausbildung der Mutter10 bzw. der Eltern185 erhöht das ADHS Risiko der Kinder.
Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsstand hatten höhere ADHS-Symptome und ein nahezu verdoppeltes Risiko für starke ADHS-Symptome. Der Zusammenhang war unabhängig von genetischen und familiären Umweltfaktoren. Die Übertragung dieses Modells auf Depression war schwächer und konnte vollständig durch gemeinsame genetische Faktoren erklärt werden.213 Kindern von Eltern ohne Universitätsabschluss hatten das doppelte ADHS-Risiko wie Kinder von Eltern mit Universitätsabschluss.214
Ein niedrigeres Bildungsniveau der Mutter soll mit einem erhöhten Bildschirmkonsum der Kinder korrelieren, was wiederum mit Verhaltensproblemen korreliert.215
Ein niedriger Bildungsstand der Eltern korrelierte in einer Kohortenstudie in Dänemark mit einem um 3,5 % erhöhten ADHS-Risiko der Kinder.204 Bei Kindern von Eltern, die arbeitslos waren und ein niedriges Einkommen und einen niedrigen Bildungsstand hatten, fand sich ein um 4,9 % erhöhtes ADHS-Risiko.
Eine äthiopische Studie fand ein rund verdreifachtes ADHS-Risiko der Kinder durch Analphabetismus der Mutter..12
Ein genetisch vorhergesagter um eine SD höherer Bildungsstand sagte kausal ein um 70 % niedrigeres ADHS-Risiko voraus.212
3.2.2.10. Erwerbslosigkeit der Eltern (+ 2,1 %)
Erwerbslosigkeit der Eltern korrelierte in einer Kohortenstudie in Dänemark mit einem um 2,1 % erhöhten ADHS-Risiko der Kinder.204 Bei Kindern von Eltern, die erwerbslos waren und ein niedriges Einkommen und einen niedrigen Bildungsstand hatten, fand sich ein um 4,9 % erhöhtes ADHS-Risiko. Erwerbslosigkeit oder berufliche Probleme der Eltern erhöhten die ADHS-Symptomatik bei Kindern.177
3.2.2.11. Geringeres Reflektionsvermögen der Eltern über ihre Elternfunktion
Geringeres Reflektionsvermögen der Eltern über ihre Elternfunktion (Parental Reflective Functioning) korrelierte mit ADHS der Kinder.179 Parental Reflective Functioning wir dabei definiert als die Fähigkeit der Eltern, über ihre eigenen und die inneren geistigen Erfahrungen ihres Kindes nachzudenken.
3.2.2.12. Niedrige Bildungsabschlüsse und ADHS gegenseitig kausal
Eine große Registerstudie in den Niederlanden (n = 1,7 Mio.) ergab Hinweise, dass niedrige Bildungsabschlüsse mit kausal für das Entstehen von ADHS sind sowie, dass ADHS mit kausal für niedrige Bildungsabschlüsse ist.216
3.2.3. Medien
3.2.3.1. Früher Fernsehkonsum
Früher Fernsehkonsum im Alter von 1 und 3 Jahren korreliert mit Aufmerksamkeitsproblemen im Alter von 7 Jahren.217
Es ist zu hinterfragen, ob hoher Fernsehkonsum von Kindern in frühem Alter eine kausale Ursache für Aufmerksamkeitsproblemen ist oder ob Eltern mit mangelhafter Fähigkeit zur Zuwendung aufgrund eigener psychischer Probleme Kinder gehäuft sich selbst überlassen und vor dem Fernseher parken. In letzterem Fall könnte Fernsehkonsum auch lediglich eine Korrelation und nicht zwingend eine kausale Ursache für ADHS sein. Denn es gibt – wie nachfolgend noch beschrieben wird – unzählige Studien, die belegen, dass ein zugewandter, warmer und sicherer Bindungsstil ADHS selbst bei bestehender genetischer Disposition vermeiden kann.
Während es also gesichert ist, dass eine intensive Zuwendung der Eltern ein guter Schutz vor ADHS ist, sind diesseits keine Studien bekannt, dass Fernsehentzug ADHS vermeidet.
Dass intensiver Fernsehkonsum als Ersatz für persönliche Zuwendung mit einem Mangel an persönlicher Zuwendung korreliert, ist aus diesseitiger Sicht die schlüssigere Verknüpfung. Dass Konsum von Fernsehen und Internet mit altersungeeigneten Inhalten weitere Schäden verursachen kann, dürfte ebenfalls gesichert sein.
3.2.3.2. Medienkonsummenge verursacht kein ADHS, Medienkonsumsucht korreliert mit ADHS
Die Menge der Nutzung von sozialen Medien hat keinen Einfluss auf ADHS. Erst eine Medienkonsumsucht geht mit erhöhten ADHS-Werten einher.218 Vermutlich sind ADHS, Hyperaktivität und Impulsivität kausale Ursachen für einen problematischen Medienkonsum.219 Dennoch scheint erhöhter Bildschirmkonsum bei Kindern die Aufmerksamkeit beeinträchtigen zu können.220
Ebenso wurde berichtet, dass ein Bildschirmkonsum von mehr als 4 Stunden bei Kindern unter 6 Jahren einen “virtuellen Autismus” hervorrufen könne. Dieser bilde sich jedoch nach Verringerung des Bildschirmkonsums wieder zurück.221
3.3. Merkmale ohne Risikoerhöhung von ADHS
- p,p’-Dichlordiphenyltrichlorethan (p,p’-DDT) war mit einer um 36 % geringeren Wahrscheinlichkeit für ADHS verbunden86
- Hexachlorbenzol (HCB) wies einen nicht-linearen Zusammenhang mit ADHS auf, mit einem steigenden Risiko im niedrigen Expositionsbereich, das bei Konzentrationen über 8 ng/g Lipid in ein sinkendes Risiko überging.86
- Organische Schadstoffe (OP-Pestizide, PCBs, Pyrethroid-Insektizide und Trichlorphenol (TCP)) erhöhten das Odds Ratio für ADHS nicht signifikant (0,99)51
- Bei Kindern mit ADHS fand sich eine um 14 % niedrigere Prävalenz einer mikrozytären Anämie (OR: 0,86).222
- Bilinguales Aufwachsen erhöhte das ADHS-Risiko nicht223
- Eine Cadmiumexposition während der Entwicklung erhöhte laut einer Metaanalyse das ADHS-Risiko nicht signífikant91
3.4. Merkmale mit Risikoverringerung von ADHS
Immigrantenstatus der Eltern bewirkt ein verringertes ADHS-Risiko224 innerhalb der ersten 2 Generationen.225
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