Hochbegabung ist (eigentlich) ein Fachbegriff und bezeichnet Menschen mit einem IQ ab 130 (2,1 bis 2,28 % aller Menschen). Ein IQ von 140 und höher tritt bei 0,7 % aller Menschen auf, ein IQ von 145 und höher bei 0,1 %.
Dieser Artikel meint mit Hochbegabung jedoch nicht den engen Definitionsbegriff, sondern allgemein Menschen mit einem IQ, der deutlich über dem Durchschnitt von 100 liegt.
Eine deutlich verminderte Intelligenz geht mit einem erhöhten ADHS-Risiko einher. Dies gilt nicht nur für einen IQ von unter 70, sondern auch für einen IQ von 70 bis 85.
Auch wenn wir viele Hochbegabte kennen, die an ADHS leiden, beabsichtigt unsere folgende Darstellung weder, ADHS und Hochbegabung gleichzustellen, noch das eine mit dem anderen zu begründen. Bei der Beschäftigung mit den Themen ADHS, Hochbegabung und Hochsensibilität (nach Aron) bzw. erhöhter Sensibilität sind uns jedoch so viele Parallelen und Berührungspunkte begegnet, dass wir nicht umhinkamen, uns zu fragen, ob diese bei der Erklärungssuche von ADHS hilfreich sein könnten.
1. ADHS bei Hochbegabung häufiger?¶
Etliche Quellen behaupten, dass ADHS-Betroffene einen verringerten oder keinen höheren IQ aufweisen als Nichtbetroffene. Einige berichten von einer knapp unterdurchschnittlichen bis normalverteilten Intelligenz mit 10 % Betroffenen mit einem IQ von 120.
Eine Meta-Analyse deutet darauf hin, dass nur eine Untergruppe von Erwachsenen mit ADHS (z. B. diejenigen mit komorbiden Störungen) im Vergleich zu Erwachsenen ohne ADHS geringere allgemeine intellektuelle Fähigkeiten aufweist. Eine andere Studie berichtet einen um 15 Punkte verringerten IQ bei einer Subgruppe von ADHS-Betroffenen, häufiger weiblich, mit erhöhten psychischen Problemen und einer möglichen Verbindung zu perinatalen Komplikationen.
Eine neuere Untersuchung belegt mit 37 % ein massiv überdurchschnittliches Auftreten von ADHS-Symptomatik bei Erwachsenen mit einem IQ ab 130 und bei 7,7 % der Kinder mit einem IQ von 135 und höher, was ein knapp dreimal so häufiges Auftreten von ADHS-Symptomen als bei der Kontrollgruppe mit dort 2,8 % darstellt. Andere Quellen berichten von einer ADHS-Prävalenz von 15 % bei einem IQ ab 115 oder von 5 bis 6 % Hochbegabten unter den ADHS-Betroffenen im Bereich des verbalen IQ, was deutlich überdurchschnittlich wäre.
Eine Umfrage des Baden-Württembergischen Landesverbands Hochbegabung e.V. umfasste 2002 unter 252 hochbegabten Vereinsmitgliedern zwischen 5 und 30 Jahren eine Quote von ADHS-I von 4 % (hiervon 80 % Jungs) und von ADHS-HI von 4,8 % (hiervon 83 % Jungs), mithin 8,8 % ADHS. Bei einer Begrenzung der Umfrage auf die Kinder mit einem IQ von 130 und mehr ergab sich eine ADHS-Quote von 6,6 %. Das Ergebnis weist auf einen bestehenden Zusammenhang hin, wenn auch die Einschränkung auf Vereinsmitglieder eine Einschränkung der Interpretierbarkeit bedeutet, da Menschen, die mit einem sie betreffenden Thema überhaupt keine Probleme haben, in der Regel seltener einen Anlass haben, einem Verein beizutreten. Diese Studie berichtet zudem über viele Untersuchungen zu IQ und ADHS, die eine Korrelation bestätigen.
Diese Studien könnten ein Spiegelbild der erhöhten ADHS-Quote bei Menschen mit verringertem IQ darstellen, sodass ADHS bei mittlerem IQ weniger wahrscheinlich ist.
Eine Untersuchung ermittelte aus 511 ADHS-Betroffenen einen Durchschnitts-IQ von 107,88. Ob die Probanden mit oder ohne Medikamenten getestet wurden, wurde (wie meist) nicht berichtet.
Barkley nannte in einem Vortrag einen bei ADHS um 7 bis 10 IQ-Punkte verringerten IQ und begründete dies damit, dass dieselben Gene wie diejenigen für Hochbegabung involviert seien. Eine andere Untersuchung fand ebenfalls verringerte IQ-Werte bei ADHS. Bei persistierendem ADHS wurden dabei die niedrigsten IQ-Werte festgestellt, bei late-onset ADHS die (relativ) höchsten. Auch diese Studie differiert nicht nach Medikationsstatus.
Eine Studie fand eine Korrelation zwischen hoher Intelligenz (IQ 130 und mehr) und einer ärztlichen Diagnose:
- erhöhtes Risiko für psychische Störungen (1,20-faches Risiko)
- erhöhtes Risiko für physiologische Erkrankungen (1,84-faches bis 4,33-faches Risiko)
-
ADHS: 1,8-faches Risiko
- Autismus-Spektrum: 1,2-faches Risiko (DSM-IV-Diagnosen von Autismus, Asperger oder anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen)
- Affektive Störungen: 2,82-faches Risiko (Depression, Dysthymie, Bipolar)
- Angststörungen: 1,83-faches Risiko (generalisierte Angststörung, soziale Angststörung, Zwangsneurosen)
- Nahrungsmittelallergien: 2,59-faches Risiko
- Umweltallergien: 3,13-faches Risiko
- Asthma: 2,08-faches Risiko
- Autoimmunerkrankungen: 1,84-faches Risiko
Eine faszinierende Ähnlichkeit von Hochbegabung und ADHS aus neurologischer Sicht wird von Eckerle berichtet.
Selbst wenn eine Korrelation zwischen HB und ADHS sich eines Tages als erwiesen zeigen sollte, dürfte sich daraus - vor dem Hintergrund, dass ADHS und deutliche Minderbegabung ebenfalls korrelieren - gleichwohl allenfalls ableiten lassen, dass besonders hohe und besonders niedrige IQs gleichermaßen mit einem erhöhten ADHS-Risiko einhergehen. Unsere Hypothese ist, dass Abweichungen des IQ vom Mittelwert mit einem erhöhten ADHS-Risiko korrelieren.
2. Intelligenz und IQ bei ADHS¶
2.1. Definition von Intelligenz¶
Intelligenz ist keine wissenschaftliche feststehende Messgröße, sondern ein – durchaus unterschiedlich – definierter Begriff.
Nach der Definition von Newton und McGrew beinhaltet die allgemeine Intelligenz acht weit gefasste Komponenten:
- fluides Denken (abstrakte Denkfähigkeit)
- kristallines allgemeines Wissen
- visuell-räumliche Fähigkeit
- Langzeitgedächtnis
- auditive Verarbeitung
- Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit
- Kurzzeitgedächtnis
- quantitatives Wissen
sowie zusätzliche Fähigkeiten wie psychomotorische Kompetenzen.
Gardner unterscheidet in seinem Modell der „Theorie der multiplen Intelligenzen“ acht voneinander unabhängige Intelligenzen:
- sprachliche
- musikalische
- logisch-mathematische
- räumliche (die etwa Architekten auszeichne)
- körperlich-kinästhetische (unter Sportlern und Tänzern verbreitet)
- naturkundliche
- interpersonale Intelligenz (erleichtert Arbeit mit Mitmenschen)
- intrapersonale (Fähigkeit zur Selbstreflexion)
Gemeinsame Anteile von Arbeitsgedächtnis und Kurzzeitgedächtnis korrelieren mit Intelligenz. Die Effizienz des Arbeitsgedächtnisses ist für das Maß der Intelligenz ein entscheidender Faktor.
Hochbegabte automatisieren ihre Denkleistung. Hochbegabte denken nicht einfach mehr als Normalbegabte, sondern sie nutzen ihr Gehirn effizienter. Die effizientere Nutzung erfolgt unter anderem, indem Prozesse, die Normalbegabte mit aktiver Denkarbeit (Abarbeiten einzelner Denkschritte im frontalen Cortex) bewirken, automatisiert werden und diese automatisierten Denkprozesse in den Hinterhirncortex auslagern.
Automatisierung ist nichts, was ausschließlich Hochbegabte können; sie können es vielleicht besser.
Beispiel: Autofahren lernen. Die ersten Versuche sind anstrengend: bewusst alle Hebel, Schalter, die Pedale und das Lenkrad zu koordinieren und darüber hinaus gleichzeitig auf den Verkehr zu achten, ist mühsam. Nach einiger Zeit und Übung hat das Gehirn diese Prozesse jedoch automatisiert und man bedient das Fahrzeug geradezu intuitiv und kann sich voll auf den Verkehr konzentrieren. Manche Fahrer, die nach der Führerscheinprüfung sehr wenig fahren, erreichen diesen Zustand der Automatisierung nicht.
Wer einen Prozess automatisiert hat, hat in aller Regel erhebliche Schwierigkeiten, einem anderem diese automatisierte Prozesse (wie z.B. das Autofahren) beizubringen. Hierzu muss derjenige sich die automatisierten Prozesse erst wieder mühsam bewusst machen.
Automatisieren kann also jeder. Hochbegabte haben nur die Fähigkeit, schneller zu automatisieren.
Der Hinterhirncortex ist zugleich das Zentrum der Sehverarbeitung. Es ist daher gar nicht so falsch, wenn Menschen, die eine Sache sehr verinnerlicht und einen intuitiven Zugang dazu erreicht haben, sagen: “ich sehe es”.
2.2. IQ-Messungen bei ADHS¶
Bei ADHS-Betroffenen ist unter anderem das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigt. Intelligenztests messen in der Regel auch das Arbeitsgedächtnis.
Eine optimale Behandlung, sei es ein erfolgreiches Neurofeedback oder eine Medikation mit Stimulanzien, entlastet den bei ADHS den durch die ADHS-Symptome (insbesondere die massive Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses) verringerten IQ von dieser Last – die Störung des Arbeitsgedächtnisses wird verringert.
ADHS-Betroffene schneiden häufig beim RAVEN-Intelligenztest besser ab als beim HAWIK. Der RAVEN ist mehr auf abstraktes Denken ausgerichtet.
2.2.1. ADHS belastet den IQ / ADHS-Behandlung kann IQ freisetzen¶
Es gibt erstaunlicherweise nur wenige Untersuchungen, wie sich die Behandlung von ADHS auf den IQ auswirkt.
- 2 bis 5 (bzw. 7) IQ-Punkte, was uns niedrig erscheint.
- 4,5 IQ-Punkte Verbesserung fand eine schwedische placebokontrollierte Studie bei Kindern mit ADHS im Alter von 6-11 Jahren nach 9 Monaten Behandlung mit Amphetaminsulfat
- 6,2 IQ-Punkte im Gesamt-IQ nach 6 Monaten MPH-Behandlung unter MPH beim Test im Vergleich zum unmedikamentierten Test bei der Diagnose
- 2,2 IQ-Punkte im verbalen Teil des IQ-Tests
- 8,5 IQ-Punkte im Leistungsteil des IQ-Tests
- 10 IQ-Punkte bei den Respondern auf Neurofeedbackbehandlung (von 112 auf 122).
- bis zu 20 IQ-Punkten zwischen akutem und inapparentem (medikamentierten) Symptomzustand.
- im Einzelfall bis zu 20 IQ-Punkte betragen. In Einzelfällen können es 30 Punkte oder mehr sein, im Schnitt könnten es rund 10 IQ-Punkte sein.
-
“Stimulanzien können niemals die Intelligenz als solche verbessern, machen sie aber beim ADHS für den Betroffenen wieder verfügbar. Verlaufsbeobachtungen zeigen, dass bei Nichtbehandlung ein Abfall des IQ bis zu 15 % eintreten kann, dass aber umgekehrt bei Stimulanzienbehandlung ein Anstieg des IQ in der gleichen Größenordnung erwartet werden kann.”
- 30 IQ-Punkte in einem Einzelfallbericht in einem Forum nach 3 Jahren ADHS-Therapie
Eine Studie untersuchte die Entwicklung des IQ durch Methylphenidat, wobei sie Kinder auch bei der Kontrollmessung mindestens eine Woche lang kein MPH eingenommen hatten.
Dennoch fand sich eine signifikante Erhöhung des Gesamt-IQs:
- 2,9 IQ-Punkte im Gesamt-IQ nach 1 Jahr MPH-Einnahme (n = 103)
Eine Untersuchung mit n = 61.640 Probanden ergab, dass die Ergebnisse zur Aufnahme an höheren Bildungseinrichtungen von medikamentierten ADHS-Betroffenen signifikant (um 4,8 von 200 möglichen Punkten) besser waren als die von nichtmedikamentierten ADHS-Betroffenen.
2.2.2. Fragen zu den IQ-Testverfahren beim Vergleich ADHS-Betroffener und Nichtbetroffener¶
Eine wichtige Frage ist:
Wurden die ADHS-Betroffenen, deren IQ mit dem Nichtbetroffener verglichen wurde, mit oder ohne Medikamente getestet? Hierüber geben die wenigsten Untersuchungen Auskunft, was bereits Anlass zu erheblichen Zweifeln an der Belastbarkeit von Schlussfolgerungen auf den IQ der Betroffenen gibt.
Eine der wenigen Untersuchungen, die Angaben über den IQ der Testpersonen und die Medikation der Beteiligten macht, kam zu einem IQ von 109 bei den teilnehmenden Betroffenen (davon 22 % unmedikamentiert) und einem IQ von 116 bei den teilnehmenden Nichtbetroffenen. Ausschlusskriterium für die Teilnahme war ein IQ unter 80, sodass keine Aussagekraft über den Gesamt-IQ-Schnitt von ADHS-Betroffenen besteht. Die Untersuchung kann lediglich als Anlass zur Vermutung dienen, dass bei einer Medikation aller betroffenen Testpersonen der IQ-Schnitt ausgeglichener gewesen sein dürfte.
2.2.2.1. Wurden die ADHS-Betroffenen medikamentiert getestet und waren optimal eingestellt?¶
Wenn der IQ nur von medikamentierten ADHS-Betroffenen und dem Durchschnitt der Nichtbetroffenen gleich ist, müssten die IQ-Ergebnisse unmedikamentierter ADHS-Betroffenen deutlich (ca. 10 IQ-Punkte) unter dem Durchschnitt von Nichtbetroffenen liegen, weil das beeinträchtigte Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitgedächtnis) bei unmedikamentierten ADHS-Betroffenen den IQ beeinträchtigt. Solche Testergebnisse sind jedoch nicht bekannt.
Gegen diese Annahme spricht zudem, dass in diesem Fall ein verringerter IQ ein erkennbares Symptom für (unbehandeltes) ADHS wäre und deshalb Eingang in die Diagnostik gefunden hätte. Auch dies wird nicht berichtet.
Eine Vergleichstestung nur mit medikamentierten ADHS-Betroffenen wäre zudem so ungewöhnlich, dass dies berichtet worden wäre.
2.2.2.2. Wurden die ADHS-Betroffenen unmedikamentiert getestet?¶
Dann ergeben sich folgende Möglichkeiten:
Möglichkeit 1:
Die Auswertungen der IQ-Tests erfolgten unter Herausrechnung des Anteils des Arbeitsgedächtnisses. Dann aber wäre die Aussage “Der IQ von ADHS-Betroffenen und Nichtbetroffenen ist gleich” falsch und müsste eingeschränkt werden mit “wenn man vom Arbeitsgedächtnis absieht”. Eine solche Einschränkung haben wir bislang nirgends gefunden.
Möglichkeit 2:
Andere Gehirnbereiche der ADHS-Betroffenen können das unterdurchschnittliche Arbeitsgedächtnis ausgleichen.
Dies könnte eine Anpassungsreaktion sein. Es ist allgemein bekannt, dass das Gehirn in der Lage ist, Aufgaben aus “defekten” Gehirnbereichen in “funktionale” Gehirnbereiche zu verlagern. Auf diesem Mechanismus beruht die Erholung und Wiederherstellung von Fähigkeiten bei Schlaganfallpatienten durch intensives Training. Diese Neuroplastizität besteht auch unabhängig von einem Schlaganfall.
Hochbegabung korreliert mit einer überdurchschnittlichen Neuroplastizität und einem langsameren Wachstum des Kortex (späteres Kortexdicke-Maximum).
Letzteres könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Kortex weniger belastet / benutzt / trainiert wird als bei anderen. Dies wiederum könnte möglicherweise eine Folge der schnelleren Automatisierung und Verlagerung von Gehirnfunktionen in posteriore Gehirnregionen sein.
Dieser Mechanismus könnte möglicherweise auch die Beobachtung erklären, warum gerade höher begabte ADHS-Betroffene häufiger erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden (“late onset”-ADHS), wenn sie besonders gut in der Lage waren, die beeinträchtigten Fähigkeiten der bei ADHS involvierten Gehirnregionen durch andere Gehirnregionen auszugleichen.
2.2.2.3. Wurde nicht auf die Medikation geachtet?¶
Derartige Tests wären aufgrund des dargestellten Einflusses des bei ADHS beeinträchtigten Arbeitsgedächtnisses auf den IQ unbrauchbar.
Da die oben genannten Alternativen zum Einfluss der Medikation in den meisten Untersuchungen nicht erwähnt wurden, vermuten wir diese Variante.
2.2.3. Schlussfolgerungen für IQ-Testverfahren beim Vergleich ADHS-Betroffener und Nichtbetroffener¶
Für IQ-Tests von ADHS-Betroffenen folgt unseres Erachtens:
Für einen Vergleich des IQ-Durchschnitts von ADHS-Betroffenen mit dem von Nichtbetroffenen:
- die IQ-Teilmesswerte für das Arbeitsgedächtnis müssen getrennt ausgewertet werden
- beim Vergleich ADHS-Betroffene / Nichtbetroffene dürfen für die IQ-Tests der ADHS-Betroffenen nur optimal medikamentierte Personen getestet werden (ärztlich optimal eingestellte Medikation und Einnahme der Medikamente beim Test)
-
Da Medikamente die ADHS-Symptome in der Regel nur lindern, aber nicht vollständig beheben können, würde selbst eine optimale Medikamentierung nur bedingt eine echte Vergleichbarkeit bewirken
- Es wäre zumindest interessant zu sehen, ob sich die jeweiligen Testergebnisse signifikant verändern, wenn für das IQ-Matching der Probanden der IQ einmal von Nichtbetroffenen zu optimal medikamentiert Betroffenen und einmal von Nichtbetroffenen zu unmedikamentierten Betroffenen gematcht würde
Für die Behandlung ADHS-Betroffener:
- Eine erfolgreiche Behandlung macht die eigentlich vorhandene und durch die ADHS-Symptome beeinträchtigte Intelligenz (mindestens teilweise) wieder verfügbar.
2.3. Einfluss von ADHS-Subtyp auf IQ?¶
Nach einer (einzelnen) Untersuchung ergab sich für die Gesamtheit der ADHS-Betroffenen ein um 15 Punkte verringerter IQ, für ADHS-C zudem ein erheblich niedrigerer IQ als für den überwiegend unaufmerksamen (ADHS-I) oder den überwiegend hyperaktiv/impulsiven ADHS-HI-Subtyp. Nur beim überwiegend hyperaktiv/impulsiven ADHS-HI-Subtyp sei der IQ mit der Kontrollgruppe vergleichbar gewesen. Die Darstellung steht indes bereits in der Kurzfassung des Artikels im Widerspruch zu den mitgeteilten Werten.
Unser Eindruck deckt sich hiermit nicht.
2.4. Einfluss von Komorbiditäten auf IQ-Messung¶
Weiter ist zu beachten, dass bei ADHS Teilleistungsstörungen häufig als Komorbidität auftreten, unter anderem:
- Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie)
- Dysgraphie
- Dyskalkulie
Deren Auswirkungen können Einfluss auf die Messergebnisse im sprachlichen oder mathematischen Bereich haben. Dies könnte bei der Messung des Gesamt-IQs einen Wert ergeben, der in Anbetracht der Fähigkeiten zu Abstraktion und analytischem Denken zu niedrig sein könnte.
Für einen sauberen Vergleich des IQs von ADHS-Betroffenen mit Nichtbetroffenen müssten derartige Komorbiditäten ausgeschlossen werden.
⇒ Teilleistungsstörungen im Beitrag Komorbidität
2.5. Einfluss von Lernfähigkeit auf IQ¶
Der IQ wird zwar grundsätzlich genetisch disponiert, diese Disposition beinhaltet jedoch eine mittlere Abweichung von 21 IQ-Punkten als Zufalls-Streumaß. Dieses kann mit einer geeignet hohen Anzahl an Probanden (n) eliminiert werden.
Bei IQ-Tests von ADHS-Betroffenen kann dagegen nicht eliminiert werden, dass der IQ bei Schulkindern weiterhin in erheblichem Maße
- vom sozialen Umfeld und
- von der Lernfähigkeit
beeinflusst wird.
Kinder, die von sozial gehobeneren Eltern aus einer sozial benachteiligten Familie adoptiert wurden, blieben lediglich zu 17 % bis zur 6. Klasse sitzen und entwickelten einen um 14 Punkte höheren IQ als ihre leiblichen Geschwister, die in der sozial benachteiligten Herkunftsfamilie aufwuchsen, von denen 66 % bis zur 6. Klasse sitzen blieben. Diese Erfahrung deckt sich mit weiteren Erkenntnissen hierzu.
ADHS-Betroffene leiden symptomatisch an einer verringerten Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit. Dass Kinder, die aus psychischen Gründen weniger lernfähig sind, zugleich Einschränkungen bei der IQ-Entwicklung erleiden (unabhängig von der genetischen Disposition zur Intelligenz), ist plausibel.
Diese Fakten sind indes mit der Aussage, dass der IQ bei ADHS-Betroffenen nicht von Nichtbetroffenen abweiche, nicht problemlos in Einklang zu bringen.
2.6. Gemeinsame Gene von ADHS und IQ¶
Eine Studie berichtet von mehr als 30 Genen mit einer Korrelation zwischen ADHS und IQ.
2.7. Intelligenzabweichung als relevanter Faktor für ADHS?¶
Die Feststellung, dass der IQ von ADHS-Betroffenen im Gesamtschnitt dem von Nichtbetroffenen entspricht, bedeutet nicht zwangsläufig, dass Intelligenz keine signifikante Einflussgröße in Bezug auf ADHS sein könnte.
Bei Schizophrenie ist bekannt, dass Normalbegabte seltener betroffen sind, Hochbegabte und Minderbegabte dagegen überdurchschnittlich häufig. Der Gesamtdurchschnitt der Betroffenen mag wiederum dem Gesamtdurchschnitt (100) entsprechen – dennoch ist der IQ ein signifikanter Faktor.
Auch Schizophrenie ist hochgradig von Dopaminspiegel abhängig. Die Positivsymptome resultieren aus einem zu hohen Dopaminspiegel, die Negativsymptome aus einem zu niedrigen Dopaminspiegel. Die Negativsymptome zeigen gewisse Parallelen zu ADHS-Symptomen.
Über derartige Verteilungen bei ADHS kennen wir bis auf die von Simchen zitierten Untersuchungen in die auf unterschiedliche “IQ-Typen” bei ADHS hinweisen, derzeit keine weitere Fachveröffentlichung.
Denkbar wäre, dass eine größere Abweichung des IQs nach oben wie nach unten insofern einen eigenen Stressor darstellt, als dieses “anders sein” die Zugehörigkeit zu Gruppen erschwert. Dass ein Außenseiterdasein eine Stressbelastung darstellen kann, ist plausibel. Deswegen ist bei ADHS eine Differentialdiagnose auf unerkannte Hochbegabung üblich.
ADHS ist auch im Zusammenhang mit hoher Intelligenz ein valides Konstrukt. ADHS und IQ sind bei fast allen phänotypischen und kognitiven Konstrukten negativ korreliert. Daher sollte der IQ als potenzieller Moderator in ADHS-Studien stets berücksichtigt werden.
2.8. Spekulation: Trainieren Stress und erhöhte Sensibilität Intelligenz?¶
Ratten, die in “enriched environments” aufwachsen, entwickeln einen dickeren Cortex. Daraus abgeleitet wäre es vorstellbar, dass die nach unserer Wahrnehmung bei ADHS wie bei Hochbegabung korrelierende erhöhte Sensibilität als Entsprechung einer “enriched perception” im Ergebnis zu einem dickeren Cortex führt (der sich zugleich später ausbildet).
Enriched Environment, HEE, sind Haltungsbedingungen unter erhöhter sozialer Interaktion und sensorischer und motorischer Stimulation.
Enriched Environments aktivieren die HPA-Achse und erhöhen bei Nagern die Leistung in unterschiedlichen Verhaltenstests und die Erholung von Schäden des zentralen Nervensystems bei Ratten und verlangsamt die neurodegenerativen Alterungsprozesse. Bei adrenalektomisierten Ratten, die kein Corticosteron (das Hauptstresssymptom bei Nagetieren) produzieren können, ergab sich diese Verbesserung nicht.
Als eine mögliche Ursache wird eine erhöhte Neurotrophinexpression (z.B. Nerve Growth Factor, NGF) und eine damit verbundene erhöhte Neurogenese im Hippocampus vermutet. Weiter wird die stressbedingte Erhöhung von Dopamin und Acetylcholin im PFC verringert, was die Stressresistenz fördert. Darüber hinaus wird die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol bei leichtem akutem Stress verringert.
Dabei scheint die Wirkung von Enriched Environments altersabhängig zu sein. Zwar zeigen sich bereits in der Kindheit positive Wirkungen. Der größte Vorteil wurde jedoch in der mittleren Jugend beobachtet. Enriched Environment bewirkten eine verbesserte selektive und auditive Daueraufmerksamkeitsleistung, erhöhtes Erkundungs- und Nahrungssammlungsverhalten sowie einen signifikanten Rückgang des Corticosteronspiegels sowie reduzierte Angstwerte.
Die mittlere Jugend ist zugleich der Zeitraum, in dem die größte Verletzlichkeit für den “Second Hit” in Bezug auf die Ausbildung von psychischen Störungen im Erwachsenenalter besteht. Dies wird durch die Darstellungen von Heim und Binder unterstützt, wonach Stressbelastungen in der Pubertät eine Potenzierung von frühkindlichen Stressbelastungen bewirken können.
Da aus der Hochbegabungsforschung bekannt ist, dass der IQ sich binnen 10 Jahren um 10 Punkte verändern kann und uns zudem die Kombination Stressempfindlichkeit und besondere Begabung unnatürlich häufig zu begegnen scheint, haben wir die Hypothese entwickelt, dass Stress einen eigenen Wirkungsmechanismus hat, der den IQ fördert.
Dies könnte erklären, warum die Charaktertraits, die ADHS-Betroffenen in der ADHS-Fachliteratur als positive Eigenschaften zugeschrieben werden, und die Traits von Hochbegabten, die diesen in der Fachliteratur zu Hochbegabung zugeschrieben werden, derart überraschende Ähnlichkeiten aufweisen.
Eine Entsprechung dieser Hypothese könnte sich aus der Tatsache ergeben, dass leichter Stress zu einer leichten Erhöhung des Dopamin- und Noradrenalinspiegels im PFC führt (nicht aber unmittelbar zu einem erhöhten IQ.). Erst starker Stress erhöht die Spiegel so, dass der PFC “abgeschaltet” wird, und die Verhaltenssteuerung an andere Gehirnareale übergeht.
Häufigerer leichter Stress könnte so gesehen die kognitive Leistungsfähigkeit steigern. Dies könnte in bestimmten Konstellationen Einfluss auf den IQ haben.
3. Hochbegabung und psychische Störungen¶
3.1. Gemeinsame genetische Wurzeln von Intelligenz und psychischen Störungen¶
Intelligenz hat eine genetische Komponente. Nicht jeder, der solche Gene erbt, ist oder wird hochbegabt. Und man muss nicht genau diese Gene oder jene Gene haben, um hochbegabt zu sein – es erhöht allenfalls die Chance. Menschen, denen für Hochbegabung günstige Gene mitgegeben wurden, benötigen zusätzlich ein (frühkindliches) Umfeld, das die Manifestation, die tatsächliche Ausbildung dieser genetischen Disposition, ermöglicht.
Bis zu diesem Punkt unterscheidet sich die Entstehung von Hochbegabung nicht von der Entstehung psychischer Störungen: Gendisposition x Umwelt = Manifestation.
Der Zusammenhang zwischen Hochbegabung und psychischen Störungen, zumindest zu bestimmten psychischen Störungen, geht jedoch weiter.
Es gibt Gene, die Formel Gen x Umwelt = Manifestation abwandeln – die Formel lautet dann eher Gen x Umwelt² = Manifestation.
Wir nennen diese Gene “Chance-Risiko-Gene”. Genauer müsste es Chance-Risiko-Gen-Polymorphismen heißen, denn die Gene der Menschen sind zu 99 % gleich, sie unterscheiden sich jedoch alle in verschiedenen Unterformen (Polymorphismen). Im Interesse der Lesbarkeit haben wir daher die Ausdrucksweise etwas verkürzt.
Wir kennen derzeit 6 Chance-Risiko-Gene. Die wichtigsten sind
- COMT: Met158Met
-
DRD4: 7R
- 5HTTPR: short
In diesen Genvarianten vermuten wir die Grundlage für erhöhte Sensibilität und damit Vulnerabilität. Werden Träger dieser Gene besonders gefördert, entwickeln sie sich besser als andere Menschen. Werden Träger dieser Gene vernachlässigt oder misshandelt, entwickeln sie sich schlechter als andere Menschen. Die Betroffenen werden zuweilen (recht esoterisch klingend) als Orchideenkinder bezeichnet.
Man könnte Chance-Risiko-Gene auch als Gene beschreiben, die besonders intensiv auf positive wie negative Umwelteinflüsse reagieren. Eine genauere Darstellung der Funktionsweise von Chance-Risiko-Genen und Fundstellen hierzu findet sich unter ⇒ Wie ADHS entsteht: Gene + Umwelt. Eine vertiefte Darstellung, wie COMT Met-158-Met den Dopaminhaushalt so beeinflusst, dass eine höhere geistige Leistungsfähigkeit und gleichzeitig eine größere Stressanfälligkeit entsteht, findet sich unter ⇒ Die neurologische Ursache von Aufmerksamkeitssymptomen, Abschnitt Dopaminabbau im PFC durch COMT statt durch DAT
So wie nun eine besondere Förderung von Trägern von Chance-Risiko-Genen besonders häufig zu besonderen Leistungen wie Hochbegabung führt, führt eine Vernachlässigung oder Misshandlung (die in ihrer Schwere Menschen ohne dies Gene nicht verletzen würde = Resilienz) bei Trägern dieser Gene zu besonders nachteiligen Folgen – also auch zu häufigeren psychischen Störungen.
Beispiele hierfür sind ADHS und Borderline.
Borderline korreliert genetisch signifikant dem COMT Met158Met-Polymorphismus, was sich noch weiter verstärkt, wenn die Genpolymorphismen COMT Met158Met und 5-HTTPR-short allel zusammentreffen.
Dass das Zusammentreffen mehrerer Chance-Risiko-Gene die Sensibilität und die Vulnerabilität weiter erhöht, ist plausibel.
Dass der durch COMT Met158Met fünfmal so langsame Dopaminabbau im PFC gegenüber COMT Val158Val grundsätzlich zu einer erhöhten geistigen Leistungsfähigkeit sowie zu einer erhöhten Stressanfälligkeit führt, bestätigt die Hypothese von Andrea Brackmann, die unter ihren Borderlinepatienten auffällig viele zumindest partiell Hochbegabte wahrnahm.
Vor diesem Hintergrund erscheint es uns nicht mehr unschlüssig, dass Gene, die derart intensive Auswirkungen auf die Psyche haben, ähnliche typische Charaktereigenschaften verursachen können, wie sie Hochbegabten und ADHS-Betroffenen nachgesagt werden.
3.2. Gemeinsame Umweltursachen von Intelligenz und psychischen Störungen¶
Neu geborene Brown-Norway-Ratten, die für ihre lange und gesunde Lebensdauer bekannt sind, wurden am 3. Lebenstag einmalig für 24 Stunden von der Mutter getrennt. Im Alter von 30 Monaten unterschieden sie sich erheblich von den bei der Mutter verbliebenen Geschwistern:
Die Lernfähigkeit in Tiere, die zweieinhalb Jahre zuvor einmalig 24 Stunden von der Mutter getrennt worden waren, war entweder besonders gut oder besonders schlecht, aber kaum mittelmäßig. Unter ihren nicht von der Mutter getrennten Geschwistern war dagegen der größte Teil mittelmäßig lernfähig und nur einige waren gute oder schlechte Lerner (Normalverteilung).
3.3. Erhöhte Intelligenz und erhöhte Sensibilität¶
Eine Studie vermutet eine Korrelation zwischen hoher Intelligenz (IQ 130 und mehr) und erhöhter Sensibilität.
4. Verzögerte Cortexreifung bei ADHS wie bei Hochbegabung¶
Hochbegabte unterscheiden sich gegenüber Normal begabten durch eine deutlich verzögerte Reifung der Cortexdicke. Diese verzögerte Entwicklung der Cortexdicke deckt sich beeindruckend mit der von ADHS-Betroffenen.
Je höher die Begabung, desto später wird das erste Maximum der Cortexdicke erreicht. Bei Hochbegabten wird das erste Maximum der Cortexdicke (ca 4,85 mm) mit 11,1 Jahren erreicht, bei überdurchschnittlich (aber nicht hoch) begabten (4,85 mm) mit 9 Jahren, bei durchschnittlich und schwach begabten (4,75 mm) bereits mit rund 6 Jahren. Bei ADHS-Betroffenen wird der Scheitelpunkt der Cortexdicke (4,85 mm) mit 10,5 Jahren erreicht.
Je dünner der Cortex, desto größer sind die Unaufmerksamkeitssymptome bei ADHS.
Bei 8 bis 15 Jahre alten Jungen mit ADHS war die kortikale Dicke unverändert. Weitere Untersuchungen bestätigen, dass das bei Kindern mit ADHS beobachtete geringere Volumen in verschiedenen Gehirnbereichen im Erwachsenenalter nicht mehr fortbesteht. Dies deckt sich mit der Feststellung, dass lediglich eine spätere Ausreifung der Gehirnvolumenmaxima erfolgt.
Aus der Tatsache, dass sich die Menge der Noradrenalin-Metaboliten (NE-Abbauprodukte) im Urin bei ADHS-Betroffenen mit und weiter nach der Pubertät, parallel zur Abnahme der (kindtypischen) ADHS-HI-Symptome normalisiert, wird auf eine Gehirnreifungsverzögerung bei ADHS geschlossen.
Eine derartige “Gehirnreifungsverzögerung” werde zudem überdurchschnittlich häufig bei Trägern des DRD4 7-Allel – Polymorphismus festgestellt. Erhöhte Sensibilität wird mit dem DRD4-7 – Polymorphismus als Risiko-/Chance-Gen in Verbindung gebracht. Mehr hierzu unter ⇒ Wie ADHS entsteht: Gene oder Gene + Umwelt
Erhöhte Sensibilität wiederum korrelierte nach unserer früheren Wahrnehmung sehr stark mit Hochbegabung, wobei dies von den uns bekannten aktuellen Daten nicht gedeckt ist.
Im Ergebnis bestärken die beschriebenen Tatsachen die Annahme von neurologischen Gemeinsamkeiten zwischen Hochbegabten und ADHS-Betroffenen.
5. Ähnliche Charaktereigenschaften (Traits) von Hochbegabten und ADHS-Betroffenen¶
Die ADHS-Fachliteratur benennt neben den unerfreulichen Symptomen übereinstimmend ein ganz typisches Bouquet von positiven (Charakter-)Eigenschaften (Traits) von ADHS-Betroffenen.
Interessant ist nun, dass die Fachliteratur über Hochbegabte bei Hochbegabten ebenfalls spezielle Charaktereigenschaften (Traits) feststellt. Diese in der Fachliteratur zu ADHS einerseits und Hochbegabung andererseits genannten positiven Eigenschaften weisen einen verblüffenden und beeindruckenden Grad an Übereinstimmung auf.
Leider wird diese Übereinstimmung nur selten in der Fachliteratur thematisiert.
Wir haben daher begonnen, eine detaillierte Übersicht der übereinstimmenden und differierenden Traits samt der jeweiligen Quellen zu sammeln. Die Aussagen über Traits bei ADHS wie bei Hochbegabung beruhen jedoch zu weiten Teilen auf dem subjektiven Eindruck der Autoren. Nicht alle Traits wurden durch Studien untersucht.
Eine frühere Arbeitshypothese von uns dazu lautete, dass diese Charaktertraits möglicherweise weder aus ADHS noch aus Hochbegabung selbst kommen, sondern durch erhöhte Sensibilität (als Teil des Konstrukts Hochsensibilität nach Aron) verursacht werden könnten.
ADHS geht nach unserem Eindruck fast immer mit einer erhöhten Sensibilität einher. ADHS beinhaltet eine Schwäche der Reizfilterung, wobei Reizfilterschwäche nach unserem Verständnis lediglich eine andere Bezeichnung für erhöhte Sensibilität ist.
Die Hypothese, dass Hochbegabung ebenfalls mit erhöhter Sensibilität (als Teil des Konstrukts Hochsensibilität nach Aron) korreliert, fand jedoch in den Daten des ADxS.org-Symptomtests (n = 2.000, Stand Juli 2020) keine Entsprechung.
Eine Studie berichtet von einer deutlich erhöhten Sensibilität bei Hochbegabten in der Eigenwahrnehmung der Betroffenen.
Eine hilfreiche Zusammenfassung zu den positiven Charaktereigenschaften von ADHS mit etlichen Quellenangaben findet sich bei ADHSpedia.
5.1. Übereinstimmende Traits von Hochbegabung und ADHS¶
Trait |
HB |
ADHS |
Anmerkungen |
Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn |
|
Gespür für soziale Fairness |
Bei ASS scheint der Gerechtigkeitssinn noch ausgeprägter zu sein |
Empfindsam |
|
|
|
viel Mitgefühl für andere |
sieht so viele mögliche Interpretationsalternativen, dass angemessene soziale Reaktion erschwert wird |
Empathie möglicherweise eher eine Stärke von ADHS-I als von ADHS |
|
Hilfsbereitschaft |
|
ja |
|
fürsorglich |
ja |
|
|
Gute Beobachtungsgabe |
ja |
bei Interesse |
|
Scharf- und Durchblick |
ja |
bei Interesse |
|
Rasche Auffassungsgabe |
|
, bei Interesse |
|
Neugier |
(stetiges Fragen nach dem Warum) |
|
|
Entdecker, als solche bereit, Risiken einzugehen |
ja |
|
|
Interessenvielfalt |
|
Häufig wechselnde Interessen |
|
Aufgeschlossenheit |
ja |
ja |
|
Offenes Zugehen auf andere |
ja |
Offenheit bei ADHS insgesamt nur ganz leicht erhöht, eher bei Personen mit Aufmerksamkeits- und Inhibitionsproblemen, leicht verringert bei Personen mit erhöhtem Delay Discounting und atypischem Arbeitsgedächtnis / verbaler Geläufigkeit leicht verringert war. |
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Begeisterungsfähig, leidenschaftlich |
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Kreativität |
; auch als divergierendes Denken bezeichnet |
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Originelles Problemlösen |
divergierenderes Denken |
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können gut Verknüpfungen herstellen |
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Dinge aus verschiedenen Perspektiven betrachten können |
Auch als belastendes Extrem: zu viele Aspekte gleichzeitig im Kopf, sodass dies verwirrt und belastet; stets alle Seiten betrachten müssen, bis hin zur Verkomplizierung der einfachen Dinge |
ja |
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Einfallsreich |
ja |
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Phantasievoll |
ja |
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Ideenreichtum |
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Abneigung gegen monotone Aufgaben |
; monotone Tätigkeiten mit vielen gleichbleibenden Wiederholungen (Vokabeln auswendig lernen, Noten lernen, Schreiben lernen) scheinen Hochbegabten nicht nur langweilig zu sein, sondern ihrer Denkweise zu widersprechen |
ja |
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weitschweifig, abschweifend |
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schweifen leicht von Thema ab, werden zu ausführlich |
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Entscheidungsprobleme |
so lange über für und wider nachdenken, bis Diskussion vorbei ist; stets alle Seiten betrachten müssen, bis hin zur Entscheidungsunfähigkeit; zu viele Aspekte gleichzeitig im Kopf, sodass dies verwirrt und belastet |
typisches Muster, insbesondere bei ADHS-I-Subtyp |
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Ehrgeiz |
ja |
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Perfektionismus |
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häufig dysfunktionaler Perfektionismus |
bei ASS teils extrem |
Beweglich, wendig, flexibel |
ja |
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Spontanität |
ja |
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Intuition |
ja |
ja |
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bis ins hohe Alter verspielt |
ja |
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können viele Dinge gleichzeitig tun |
ja |
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Oft ausgeprägte Tier- und Naturliebe |
ja |
ja |
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Oft erstaunliche Kenntnisse / Fähigkeiten auf Gebieten, die sehr interessieren |
ja |
ja |
auch bei ASS |
Fähigkeit zur Hyperfokussierung (bei besonderem Interesse) |
bis hin zu Taskwechselproblemen |
unmedikamentierte ADHS-Betroffene verwendeten laut einer Studie mehr Zeit aufs Lernen als Nichtbetroffene und weniger Zeit mit Computer- und Videospielen oder mit Spielen mit anderen. |
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Intensivere Wahrnehmung |
; Lärmempfindlichkeit; Lichtempfindlich; Geruchsempfindlich; Berührungsempfindlich; Schmerzempfindlich; emotional; Filme können emotional extrem mitnehmen |
erhöhte Sensibilität; korrelierte mit Kreativität |
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Fähigkeit, andere Menschen zu strukturieren |
ja |
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Steht dauernd unter Strom |
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Bei Interesse schier unerschöpfliche Energie |
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Aversion gegen Smalltalk |
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ja |
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Große Erleichterung bei Begegnung mit Menschen gleicher Art |
Mensa e.V. |
Selbsthilfegruppen; |
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Bei hochbegabten Menschen kennt die Fachliteratur zugleich typische nachteilige Charaktereigenschaften. Sofern man geneigt ist, die Übereinstimmungen bei positiven Eigenschaften nicht als Zufall zu betrachten, könnten diejenigen negativen Eigenschaften, die bei Hochbegabung und ADHS ebenfalls gleichlaufend gehäuft auftreten, einen Hinweis auf die Ursache dieser Eigenschaften geben.
Hochbegabung wird ein Kommunikationsverhalten nachgesagt, das “einen Schritt Richtung Asperger geht”.
Für hochkreative Menschen werden in der Fachliteratur folgende Charaktereigenschaften als häufig benannt:
- Schwieriges Sozialverhalten
- socially harsh behaviour
- z.B. durch Aussprechen von wahrgenommenen Motiven anderer, die von anderen nicht wahrgenommen werden und ggf. auch den Betroffenen nicht bewusst sind
- abweisend/grob/ruppig
- hohe psychotische Persönlichkeitswerte
- stärkere negative Affekte
- größerer physiologischer Stress
- mehr selbstorientierter Perfektionismus
Die bis hierher genannte Aufzählung erweckt nach unserem Eindruck starke Assoziationen zu ADHS-Traits. Eine Übereinstimmung ist jedoch zumindest fraglich bei:
- mehr irrationale Glaubenssätze
Auffälligkeiten für das soziale Umfeld, die sich bei ADHS und Hochbegabung häufig decken:
- Gefühl des Isoliert seins, des anders seins, des nicht dazu gehörens
- Hochbegabung: intellektuell sehr weit entwickelt, emotional aber auf alterstypischem Niveau
-
ADHS: emotionale Entwicklung gegenüber intellektueller Entwicklung verzögert
- ständig kritisches Hinterfragen von Autoritäten
- sehr individualistisch
- Tendenz, Situationen allein bestimmen zu wollen
Diese Faktoren halten wir allerdings eher für eine Folge des jeweiligen Anders-Seins als eine deckungsgleiche Ursache.
Auffälligkeiten in Bezug auf Arbeitsverhalten und Interessen
- starke Vertiefung in bestimmte Probleme (HB: spezifische Interessen, ADHS: Hyperfokus)
- perfektionistische Ansprüche
- Langeweile bis hin zu Arbeitsverweigerung bei Routineaufgaben
Auffälligkeiten in Kindergarten und Schule
- Langeweile (bei HB: noch häufiger; bei ADHS: bei Inaktivität)
- Stören der anderen Kinder, um Aufmerksamkeit zu erlangen (Klassenclown)
- Außenseiterposition, das Kind fühlt sich unverstanden
5.2. Nicht übereinstimmende Traits von Hochbegabung und ADHS¶
5.2.1. Spezifische Traits von ADHS¶
Die folgenden Traits von ADHS werden bei Hochbegabten nicht als typisch genannt.
- große Zähigkeit / Ausdauer
- für ADHS
- körperliche Fitness und Spaß an Bewegung
- unserer Ansicht nach aber nur bei hohem intrinsischem Interesse oder als Folge der Behandlungswirkung von Ausdauersport bei ADHS
- Warmherzig
- Wenig nachtragend
- Risikobereitschaft
- Intensive Emotionen korrelieren mit gutem Gedächtnis, da Erlebtes bei gleichzeitiger intensiver Emotion besser gemerkt wird; bei ADHS ist jedoch das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigt. Über Beeinträchtigungen des Langzeitgedächtnisses ist uns nichts bekannt.
- Liebe zu körperlicher Arbeit
- unseres Erachtens nach allenfalls als typische Stressabbaureaktion bei ADHS symptomatisch
- Harmoniebedürfnis
- Sinn für Situationskomik
- kratzbürstiger Charme
Bei ADHS werden Veränderungen der Persönlichkeitstraits der Big 5 berichtet:
-
Neurotizismus (deutlich erhöht)
-
Gewissenhaftigkeit (deutlich verringert)
-
Verträglichkeit (verringert)
-
Extraversion (verringert)
-
Offenheit für Erfahrungen ist dagegen kaum verändert.
Mehr hierzu unter ⇒ Persönlichkeitsmerkmale verändert im Beitrag ⇒ Gesamtliste der ADHS-Symptome nach Erscheinungsformen im Kapitel ⇒ Symptome.
5.2.2. Spezifische Traits von Hochbegabten¶
Die folgenden Traits von Hochbegabten werden bei ADHS nicht als typisch genannt.
-
Auffälligkeiten in Bezug auf Lernen und Denken
- hohes Detailwissen und sehr gutes Verständnis von Zusammenhängen
- ungewöhnlich ausgeprägter Wortschatz und sprachlicher Ausdruck
- frühes Lesen
- (frühes) Interesse an Büchern, die weit über dem Altersniveau liegen
- Bevorzugung selbstständiger Arbeit, hohe Ziele
-
intrinsischer Motivationsstil
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Auffälligkeiten in Kindergarten und Schule
- kein Interesse an altersgemäßen Beschäftigungen, bzw. am Schulstoff der Jahrgangsstufe
-
Auffälligkeiten für das soziale Umfeld
- kaum Interesse an alterstypischen Aktivitäten
- Bevorzugung verbaler statt körperlicher Auseinandersetzungen
- Wahl deutlich älterer Freunde
5.3. Keine Änderung positiver Traits durch ADHS-Medikamente¶
ADHS-Medikamente, insbesondere Methylphenidat, verändern keine (positiven) Traits.
Es gibt zwar Hinweise darauf, dass sich die Persönlichkeitsprofile von ADHS-Betroffenen bei langanhaltender Medikation verändern. Die Entwicklung unter Medikation (Methylphenidat) veränderte sich bei den 81 % MPH-Respondern allerdings in fast allen gemessenen Dimensionen weg von den (ungünstigen, mit Persönlichkeitsstörungen assoziierten) Extremen hin zur ausgeglicheneren Gestaltung (die weniger mit Persönlichkeitsstörungen assoziiert ist).
Die Veränderungen belegen durchgängig eine Änderung in Richtung weg von einer labileren, hin zu einer stabileren Persönlichkeit.
ADHS-Betroffene berichten übereinstimmend, dass sie bei angemessener Dosierung keine Veränderung an ihrer Persönlichkeit bemerken. Die typische Aussage ist, dass sie durch die Medikamente viel mehr sie selbst sind. Andere Wahrnehmungen entstehen bei Überdosierung oder wenn Nichtbetroffene ADHS-Medikamente einnehmen.
Stimulanzien dämpfen allerdings das limbische System. Stimulanzien können daher insbesondere bei Überdosierung mit einer eingeschränkten Emotionalität einhergehen. Barkley erläuterte in einem Vortrag, dass Stimulanzien die Emotionen dämpfen können, indem sie das limbische System hemmen, das bei ADHS an sich nicht betroffen ist. Je höher die Dosierung, desto stärker werde das limbische System (u.a. die Amygdala) gehemmt. Dies verringert naturgemäß Affekte. Eine individuell zu hohe Stimulanziendosierung, insbesondere eine Überdosierung, kann daher zu einem eingeschränkten emotionalen Erleben führen, was bei etwa 20 % der mit Stimulanzien behandelten Patienten auftrete.
Barkley verweist in diesem Zusammenhang auf die aus diesem Grunde immer häufigere Kombinationsmedikation (Stimulanzien und Atomoxetin oder Stimulanzien und Guanfacin), um die jeweils positiven Effekte zu kumulieren und die Nebenwirkungen, die meist in verschiedenen Gebieten liegen, zu streuen und so zu verringern. Atomoxetin beeinträchtigt im Gegensatz zu Stimulanzien das limbische System nicht und verringert daher das emotionale Empfinden nicht in dieser Weise. Atomoxetin aktiviert den ACC und den Frontallappen und beeinflusst damit die Exekutivfunktionen unmittelbar. Stimulanzien verbessern die Aufmerksamkeit, die Kognition, die Exekutivfunktionen und das Arbeitsgedächtnis. Zur Verbesserung der Emotionsregulation sind sie weniger geeignet.
6. Differentialdiagnose erforderlich¶
Dass bei einem Verdacht auf ADHS eine Differentialdiagnostik auf unerkannte Hochbegabung erforderlich ist, offenbart keinen neuro(physio)logischen oder biologischen Zusammenhang zwischen ADHS und Hochbegabung. Die Erforderlichkeit der Differentialdiagnostik ergibt sich allein daraus, dass unerkannt Hochbegabte (insbesondere bei individuell begrenzten sozialen Fähigkeiten) genauso wie ADHS-Betroffene oft ein Außenseiterdasein leben und sich nirgend richtig zugehörig fühlen. Eine solche Außenseiterstellung kann massiven sozialen Stress verursachen. Nicht dazu zu gehören ist der größte Stressor, den es für Menschen gibt. Er ist der Stressor, der durch den TSST gesetzt wird. Bei schwerer Ausprägung kann dieser Stress als ADHS-Symptomatik missverstanden werden, was daher mittels Differentialdiagnostik ausgeschlossen werden sollte.
⇒ ADHS-Symptome sind Stresssymptome
Typische Ausdrucksformen sind beispielsweise:
- Außenseitertum, das zuweilen versucht wird, mit Klassenkasper- oder anderen Rollen zu kompensieren
- das Gefühl, nicht dazuzugehören
- Selbstwertprobleme samt den daraus folgenden Komorbiditäten von Depressionen bis hin zu sozialen Phobien
Die Hypothese, dass Hochbegabte kein ADHS haben könnten, ist definitiv unzutreffend. Wir kennen eine relevante Anzahl Hoch- und Höchstbegabte, die eine eindeutige ADHS-HI- oder ADHS-I-Diagnose haben.
Es gibt gleichwohl vermeintliche Spezialisten, wie eine Fachärztin für Psychiatrie an einem ADHS-HI-Zentrum einer deutschen Großstadt, die 2016 eine an massivem ADHS-I leidende Akademikerin, die bereits erfolgreich ADHS-Medikamente einnahm, nach 35 Minuten Fragebogenanamnese (ohne jegliche Tests) mit den Worten wegschickte: “Sie können kein ADHS-I haben. Sie haben promoviert und studiert und können als Selbstständige leben. Das kann man nicht mit ADHS-I.” Die Probleme der Betroffenen lesen sich dabei wie eine Mustersammlung von ADHS-I-Symptomen.
Bei unerkannt Hochbegabten (vor allem bei Kindern) werden die ADHS-ähnlichen Symptome auf Probleme mit dem sozialen Umfeld zurückgeführt.
Das Gefühl, Außenseiter und nicht dazugehörig zu sein, kann zu einem verringerten Selbstwertgefühl führen.
Ein verringertes Selbstwertgefühl erzeugt psychischen Stress.
Bei unerkannt Hochbegabten kann eine Unterforderung dazu führen, dass die Betroffenen sich langweilen und – je nach Veranlagung – sich in eine Innenwelt wegträumen (ADHS-I-Verwechselbarkeit) oder den Unterricht stören, z.B. um Aufmerksamkeit zu erhalten (ADHS-HI-Verwechselbarkeit). Daneben können (Über-) Anpassungsphänomene entstehen, wenn die Betroffenen die “Schuld” bei sich suchen. Das wiederum kann zur Folge haben, dass sie absichtlich langsam arbeiten oder Fehler machen und somit weder als hochbegabt erkannt werden, noch ihre Frustration nach außen tragen. Eine dauernde Unterforderung und der daraus resultierende Mangel an Motivation kann zur kompletten Leistungsverweigerung führen.
Siehe auch: Psychische Sättigung.
7. Hochbegabung und Copingfähigkeiten¶
Die Fachliteratur zur Hochbegabung ist sich darüber einig, dass Hochbegabte aus eben ihren besonderen Fähigkeiten zugleich eine überdurchschnittliche Fähigkeit zum Coping haben. Coping sind Bewältigungsstrategien, um Beeinträchtigungen oder Defizite (gleich welcher Art oder Ursache) durch geeignete Verhaltensweisen zu entschärfen oder zu umgehen. Copingstrategien beheben ein ADHS nicht. Coping führt lediglich dazu, dass der Betroffene mit den Symptomen besser umgehen kann, oder es versteht, Situationen besser zu vermeiden, in denen er an den Symptomen leiden würde. Insofern kann ein hoher IQ ein bestehendes ADHS maskieren
Die aus einem höheren IQ resultierende Copingfähigkeit kann dazu beitragen, den für eine ADHS-Diagnose zwingend erforderlichen subjektiven Leidensdruck zu vermeiden. Wir sehen hier die Gefahr, dass eine hochbegabungsbedingte erhöhte Copingfähigkeit dazu führen kann, dass die Hochbegabung für die Kompensation des ADHS “verschwendet” wird, was den Betroffenen die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten vorenthalten kann. Daher sollte ein ggf. fehlender Leidensdruck in diesen Fällen mit Umsicht hinterfragt werden.
Weiter dürfte zwischen Ausprägung und Folgen zu unterscheiden sein. Während eine Untersuchung an ADHS-Betroffenen mit einem IQ von 120 und mehr bis auf leicht geringere kognitive Beeinträchtigungen keine Unterschiede in der ADHS-Ausprägung fand und eine Studie ein sogar massiv häufigeres Auftreten von ADHS bei Hochbegabten fand, kamen die meisten andere Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass bei bestehendem ADHS eine hohe Intelligenz weniger schwere Auswirkungen des ADHS in der Zukunft vorhersagt, insbesondere aufgrund teils deutlich geringer beeinträchtigter Exekutivfunktionen.
Wenn (ohne Bezug auf Untersuchungen) angenommen wird, dass Hochbegabte nicht häufiger ADHS haben als der Durchschnitt, ergibt sich daraus dieselbe logische Ableitung wie unter 1 (IQ-Tests und Arbeitsgedächtnis bei ADHS): Wenn Hochbegabte bessere Copingstrategien haben, müssten sie eine geringere Quote an (diagnostizierter) ADHS haben. Wenn aber bei Hochbegabten trotz ihrer verbesserten Copingstrategien (die ADHS ja besser verdecken müssten) dennoch genauso häufig ADHS diagnostiziert wird wie bei nicht Hochbegabten, dann müssten Hochbegabte (ohne ihre Copingstrategien) im Umkehrschluss so viel häufiger ADHS haben, wie sie durch Copingstrategien wettmachen können. Der Unterschied mag nicht allzu groß sein, denn auch gute Copingfähigkeiten können allenfalls ein leichtes ADHS ausgleichen, ein mittleres ADHS noch erträglich machen oder die Schwere der ADHS-Auswirkungen abmildern. Dennoch ist ein Unterschied gegeben.
Impulsivität und Unaufmerksamkeit werden im Wesentlichen durch die primäre Intelligenz und nicht durch ein Aufmerksamkeitsdefizit moderiert. Je niedriger der IQ, desto mehr zeigt sich ADHS als gestörte Impulsivität und umso weniger als Aufmerksamkeitsdefizit. Das steht in einem gewissen Widerspruch zu dem Befund, dass ein höherer IQ bei ADHS am stärksten mit weniger Aufmerksamkeitsproblemen korrelierte. Auch bei hohem IQ sagten Aufmerksamkeitsprobleme Schulprobleme voraus als Hyperaktivitäts-/Impulsivitätsprobleme sagten diese dagegen weniger voraus. Aufmerksamkeitsprobleme bei hochintelligenten Kindern sind außergewöhnlich und beeinträchtigen die schulischen Leistungen.
8. ADHS-Testung durch Intelligenztests?¶
Es wäre zumindest theoretisch vorstellbar, die durch ADHS verursachte Beeinträchtigung durch entsprechende Intelligenztests zu ermitteln.
Intelligenztests messen in der Regel auch das Arbeitsgedächtnis. Für die ADHS-Differenzialdiagnose auf (nicht) bestehende Hochbegabung sind daher nur IQ-Tests geeignet, die die Werte des Arbeitsgedächtnisses getrennt ausgeben, um das ADHS-Indiz des beeinträchtigten Arbeitsgedächtnisses zu ermitteln. Der Betroffene darf dafür keine Medikamente eingenommen haben.
Eine Wiederholung des IQ-Tests unter Medikamenteneinnahme nach ärztlicher Dosierungseinstellung sollte bei ADHS-Betroffenen im Arbeitsgedächtnisbereich einen signifikanten Unterschied aufzeigen. Dies wäre ein starkes Indiz für ADHS.
9. Mehr zu ADHS und Hochbegabung:¶
- Webseiten
- Intelligenztest online (mit naturgemäß begrenzter Aussagekraft)
- Videos:
- Podcasts