Es gibt mehrere Arten von Aufmerksamkeit. Die Fokussierung auf einzelne, spezifische Reize ist eine andere Form von Aufmerksamkeit als die weitschweifende Wahrnehmung von neuen Reizen. Erstere ist mit Konzentration, zweitere mit Ablenkbarkeit assoziiert.
1. Automatische und gesteuerte Aufmerksamkeit¶
Das Modell der intrinsischen und extrinsischen Motivation korreliert grob mit der Unterscheidung zwischen automatischer (passiver) Aufmerksamkeit und gesteuerter (gerichteter) Aufmerksamkeit. Automatische Aufmerksamkeit wird insbesondere durch neuartige Reize (unbekannte oder unerwartete in einer bestimmten Umgebung) und Signalreize (in der Regel emotionale: bekannte und sogar erwartbare, aber für das Individuum kritische Reize, wie Nahrung, Paarungspartner oder Gefahr) ausgelöst. Die automatischen Aufmerksamkeitsmechanismen laufen unbewusst und reizgesteuert ab (Bottom-up) und scheinen in der Gehirnregion des ACC beheimatet zu sein.
Gelenkte Aufmerksamkeit (directed attention) wird Top-down gesteuert und ist mit Konzentration und Anstrengung bei schwierigen oder wenig interessanten Aufgaben verbunden (z.B. Steuererklärung, Badezimmer putzen, langweilige Hausaufgaben). Gesteuerte Aufmerksamkeit wird durch Exekutivfunktionen vermittelt, die nicht automatisch abgerufen, sondern kognitiv koordiniert werden. Exekutivfunktionen sind bei ADHS gestört.
2. Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS sitzen im PFC¶
Unaufmerksamkeit bei ADHS wird primär durch den dlPFC verursacht. Bei ADHS sind insbesondere in der rechten Gehirnhemisphäre Funktionen im PFC und in mit diesem eng verbundenen corticalen und subcorticalen Regionen schwächer ausgebildet. Je dünner der Cortex, desto größer sind die Unaufmerksamkeitssymptome bei ADHS.
Während der dlPFC das Arbeitsgedächtnis (Daueraufmerksamkeit und Exekutivprobleme = Problemlöseverhalten) beherbergt (siehe hierzu ⇒ Neurophysiologische Korrelate von Arbeitsgedächtnisproblemen bei ADHS) wird die selektive Aufmerksamkeit (oben: “automatische” Aufmerskamkeit) vermutlich durch eine cortico-striato-thalamo-corticale Schleife moduliert, die aus dem dorsalen anterioren cingulären Kortex (dACC) stammt und zum Striatum, dann zum Thalamus und zurück zum dACC projiziert. Eine ineffiziente Aktivierung des dACC kann zu ADHS-typischen Symptomen führen, wie z. B.
- zu wenig Aufmerksamkeit für Details
- Nachlässigkeitsfehler
- nicht zuhören
- Dinge verlieren
- abgelenkt werden
- Dinge vergessen
Ein signifikanter Anstieg der BOLD-Aktivierung zwischen den Interferenz- und Nichtinterferenzbedingungen im dorsalen anterioren cingulären Kortex (dACC, Brodmann-Areal 32) korrelierte mit den Scores der Subskalen Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität der ADHD self-report scales bei ADHS-Betroffenen wie bei Nichtbetroffenen.
Die selektive Aufmerksamkeit soll besonders gut mit dem Stroop-Test untersucht werden können.
Mehr zum Stroop-Test unter ⇒ Stroop Test im Unterabschnitt ⇒ Aufmerksamkeits- und Reaktionstests im Abschnitt ⇒ Tests im Beitrag ⇒ ADHS – Diagnosemethoden im Kapitel ⇒ Diagnostik.
Die rechte Gehirnhemisphäre reguliert die Hemmung von unangemessenem Verhaltens- und Emotionsreaktionen. Der (rechte) dlPFC reguliert neben der Daueraufmerksamkeit auch das Verhalten. Verletzungen im rechten dlPFC verursachen Aufmerksamkeitsprobleme (samt Aufmerksamkeitsrichtungs- und Taskwechselproblemen), Filterprobleme und Impulskontrollprobleme.
Die Emotionsregulation erfolgt dagegen durch den ventrolateralen PFC.
2.1. ACTH beeinträchtigt Konzentration, erhöht Ablenkbarkeit¶
ACTH ist ein Hormon, das von der Hypophyse, der 2. Stufe der HPA-Achse, im Rahmen ihrer Stressreaktion ausgeschüttet wird. ACTH beeinträchtigt die selektive und fokussierte Aufmerksamkeit und bewirkt im PFC einen veränderten Arbeitsmodus, bei dem die Hemmung der Verarbeitung “irrelevanter” Reizen verringert wird.
Mehr hierzu unter ⇒ ACTH. Irrelevant ist in Anführungszeichen gesetzt, weil bei akutem Stress, der der Bewältigung überlebensbedrohlicher Gefahren dient, in den Jahrmillionen des Nomadentums der Hominiden eine verbreiterte Aufmerksamkeit (vulgo: Ablenkbarkeit) wahrscheinlich überlebensförderlich war. Wir betrachten die Wirkungen von ACTH daher nicht als Schaden, sondern als Nutzen – auch wenn dieser Stressnutzen weniger nützlich ist, seit die Gegner nicht mehr Säbelzahntiger und verfeindete Stämme sind, sondern Terminstress und überquellende Mailaccounts.
Cortisol beeinflusst dagegen mehr das Gedächtnis als die Aufmerksamkeit.
3. D4-Rezeptoranomalien korrelieren mit Unaufmerksamkeit¶
Der DRD4-Rezeptor ist beim Menschen ausschließlich im PFC, nicht aber im Striatum zu finden.
Polymorphismen des DRD4-Gens haben bei ADHS daher mehr Auswirkungen auf die vom PFC vermittelten (kognitiven) Symptome wie Unaufmerksamkeit oder Arbeitsgedächtnisprobleme und weniger auf die vom Striatum vermittelten Symptome (wie Hyperaktivität oder Impulsivität):
-
DRD4 7-Repeat-Allel
- Einzel-Nukleotid-Polymorphismen (SNP) in der Promoterregion von DRD4
DRD4-7R korreliert folgerichtig nicht mit Hyperaktivität oder Impulsivität.
4. D2-/D3-Rezeptormangel im Striatum und Unaufmerksamkeit¶
Das Verstärkungszentrum (der Begriff Belohnungszentrum ist unpassend, denn es belohnt nicht nur angenehme Erfahrungen sondern beeinflusst jede Form von Handlungen) des Gehirns sitzt im Nucleus accumbens, einem Teil des Striatums, das wiederum Teil der Basalganglien ist. Eine verringerte Anzahl von Dopamin D2- und D3-Rezeptoren im Striatum führt bei ADHS-Betroffenen dazu, dass dort weniger Dopamin aus dem synaptischen Spalt aufgenommen werden kann, weshalb weniger Dinge (be)lohnend, als ausreichend spannend gefunden werden als bei Nichtbetroffenen. Das Maß der Motivationsproblematik sowie das Maß der Unaufmerksamkeit bei ADHS korrelieren mit der verringerten Anzahl an D2- und D3-Dopaminrezeptoren im Verstärkungszentrum des Gehirn. Weitere veränderte Persönlichkeitsparameter bei ADHS korrelierten dagegen nicht mit der Anzahl der D2- und D3-Rezeptoren.
Diese Sichtweise führt zunächst zu der Feststellung, dass Aufmerksamkeitsprobleme nicht ausschliesslich durch den PFC, sondern auch durch das Striatum vermittelt werden.
Nach anderer Darstellung bewirkt die Blockade von Dopamin D1-, D2-, und D4-Rezeptoren durch entsprechende Antagonisten keine Verbesserung der Aufmerksamkeit oder Response-Inhibition.
Agonisten wie Antagonisten des D3-Rezeptors verbessern die Verlangsamung nach Fehlern und das zwanghafte Nose-Poke-Verhalten, beeinträchtigen jedoch die Leistungen bei anderen Aufgaben.
5. Denkblockaden / Entscheidungsunfähigkeit durch PFC-Deaktivierung¶
Während leicht erhöhte Spiegel von Dopamin und Noradrenalin, wie sie bei leichtem und bewältigbarem Stress auftreten, die Leistungsfähigkeit des PFC erhöhen, führen die bei noch höherem Stresspegel (insbesondere bei unbewältigbarem bedrohlichem Stress) weiter ansteigenden Noradrenalin- und Dopaminspiegel zu einer Abschaltung des PFC und zu einer Verlagerung der Verhaltenssteuerung auf andere Gehirnregionen.
Bei auf Noradrenalin erfolgt dies über die noradrenergen α-1-Rezeptoren, die eine geringere Noradrenalin-Affinität aufweisen als α-1- und β-Rezeptoren und daher erst durch sehr hohe Noradrenalinspiegel aktiviert werden. α1-Rezeptor-Agonisten wie z.B. Phenylephrin oder (in hoher Konzentration) SKF81297 können diese Auswirkungen hoher NA- bzw. DA-Spiegel nachahmen. Agonisten stimulieren die Rezeptoren.
α1-Rezeptor-Agonisten fahren auf diese Weise den PFC herunter.
Cortisol adressiert ebenfalls die noradrenergen α-1-Rezeptoren und verstärkt so die PFC-deaktivierende Wirkung hoher Noradrenalinspiegel.
Ein ähnliches Modell findet sich bei Cortisol, das an hochaffinen Mineralocorticoidrezeptoren den “normalen” Modus steuert und erst bei hohem Spiegel an den niedrigaffinen Glucocorticoidrezeptoren die HPA-Achse abschaltet.
6. Ablenkbarkeit aus PFC, Unaufmerksamkeit aus Langeweile aus Striatum?¶
Möglicherweise ist dies dem unterschiedlichen Charakter von Aufmerksamkeitsproblemen bei den verschiedenen Subtypen geschuldet. Während bei Hyperaktivität Unaufmerksamkeit vornehmlich durch eine hohe Ablenkbarkeit provoziert wird, sind ADHS-I-Betroffene (ohne Hyperaktivität) eher schnell gelangweilt und wenden ihre Aufmerksamkeit deshalb zügig neuen Reizen zu. Dieses Muster kann durchaus als Motivationsproblematik verstanden werden, die im Striatum verortet ist.
Wir bilden daher folgende Arbeitshypothese:
- Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS-HI und ADHS-C (mit Hyperaktivität) resultieren aus der ADHS-HI-typischen Überaktivierung des PFC und sind daher eher von Ablenkbarkeit gekennzeichnet
- Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS-I (ohne oder wenig Hyperaktivität) resultieren aus der ADHS-I-typischen Unteraktivierung des PFC, sind daher eher motivational charakterisiert, von Langeweile gekennzeichnet und sind neurophysiologisch stärker im Striatum verortet.
Wir vermuten, dass ADHS-HI und ADHS-C von einer dauerhaften leichten (im Sinne von: unterhalb der Spiegel, die eine Abschaltung des PFC verursachen würden) Stimulierung des PFC durch Dopamin und Noradrenalin geprägt sind, während ADHS-I und SCT von einer bei Stress sehr starken Stimulation durch Noradrenalin und Dopamin gekennzeichnet sind, die über die Alpha-1-Adrenozeptoren eine häufige Abschaltung des PFC bewirkt.
⇒ Abschnitt Neurophysiologische und endokrine Unterschiede zwischen ADHS-HI/ADHS-C und ADHS-I im Beitrag Die Subtypen von ADHS: ADHS-HI, ADHS-I, SCT und andere
⇒ Neurophysiologische Korrelate von Denkblockaden und Entscheidungsproblemen
Die Discussion von Volkow lässt sich hiermit gut vereinbaren.
In Regionen des dopaminergen Verstärkungssystems auf der linken Seite des Gehirns bestehen Unterschiede, die alle mit Aufmerksamkeitsproblemen korrelieren (r = 0,3 bis 0,35).
6.1. Überexpression des THRSP-Gens und Unaufmerksamkeit¶
Nach einer Untersuchung führt die Überexpression des Schilddrüsenhormon-reaktiven Gens (THRSP) im Striatum zur Entwicklung eines rein unaufmerksamen Phänotyps bei Mäusen. Die THRSP-Überexpression korrelierte mit einer Überexpression von dopaminergen Genen (DAT, Tyrosinhydroxylase, Dopamin D1- und D2-Rezeptoren) im Striatum. Methylphenidat verbesserte die Aufmerksamkeit und normalisierte die Expressionslevel der dopaminergen Gene in den THRSP OE-Mäusen.
7. Aufmerksamkeit und Gehirnnetzwerke¶
7.1. Konnektivität des Kleinhirns mit dem noradrenergen Aufmerksamkeitszentrum und dem Default Mode Network¶
Die funktionelle Konnektivität des Cerebellum zum anterioren und posterioren DAN (dorsales noradrenerges Aufmerksamkeitszentrum) und DMN (Default Mode Network) korreliert mit Aufmerksamkeit. Eine verringerte Konnektivität verringert die Aufmerksamkeit.
Das noradrenerge Aufmerksamkeitszentrum steuert die selektive Aufmerksamkeit.
⇒ Das dopaminerge und das noradrenerge Aufmerksamkeitszentrum
Mehr zur abweichenden Funktion des DMN bei ADHS und dessen Normalisierung durch Stimulanzien samt weiterer Quellenangaben unter ⇒ DMN (Default Mode Network) im Beitrag ⇒ Neurophysiologische Korrelate von Hyperaktivität.
Eine weitere Studie berichtet von einem Netzwerk aus Default Mode Network (DMN) und Task Positive Network (TPN), das bei Unaufmerksamkeit signifikante Abweichungen zeigt. Bei Unaufmerksamkeit zeigte sich eine negative Korrelation zwischen Delta im vorderen Cingulum und Präkuneus und Delta- und Theta im mPFC sowie Alpha- und Gamma in medialen Frontalregionen.
Eine Untersuchung fand bei ADHS die hierarchische funktionale Integration des DMN verringert und die Segregation (= Trennung, Aufspaltung) des DMN erhöht. Die Anomalien im DMN bei ADHS sollen danach durch Veränderungen in der funktionalen Trennung und Integration in seine übergeordneten Subnetze verursacht werden. Die adaptive Reorganisationsfähigkeit von Hirnnetzwerkzuständen war bei ADHS-Betroffenen verringert, weshalb eine verringerte adaptive Regulation zwischen den DMN-Subnetzwerken in ADHS zur Unterstützung entsprechend normaler kognitiver Funktionen angenommen wurde.
7.2. Verringerte Konnektivität im dorsalen frontoparietalen Exekutivnetzwerk¶
Eine Untersuchung berichtet von einer verringerten Konnektivität im dorsalen frontoparietalen Exekutivnetzwerk, bestehend aus
- rechtem dlPFC
- hinterem parietalem Kortex
die mit der Schwere der Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS korrelierte. Diese Korrelation war unabhängig von Alter oder Geschlecht.
Eine erhöhte Konnektivität ging zudem mit erhöhter Aufmerksamkeit und besserer Genauigkeit bei NoGo-Aufgaben einher.
Daneben zeigten sich Abweichungen in der Konnektivität des Salience-Netzwerks, bestehend aus
- rechter vorderer Insula
- rechtem dorsalem vorderen cingulären Kortex (rdACC)
- rechtem ventrolateralem PFC (rvlPFC)
7.3. Geringer fraktionierte Anisotropie¶
Eine Verringerung der “fractional anisotropy” war in einer Studie über die Weisse Masse des Gehirns mit verringerter Aufmerksamkeit verbunden.
Eine weitere Studie fand, dass bei Kindern mit wie ohne ADHS die mittlere fraktionierte Anisotropie bei Unaufmerksamkeit mit einer deutlich erhöhten Lateralisierung der äußeren Kapsel (“external capsule”) korrelierte.
8. EEG und Aufmerksamkeit¶
8.1. Alpha-Modulation als Reaktion auf den Blick des menschlichen Auges korreliert mit Schweregrad von Unaufmerksamkeit¶
Bei Kindern mit ADHS soll das Maß einer gegenüber Nichtbetroffenen inversen Alpha-Aktivität in der linken parieto-okzipitalen Gehirnregion die Schwere von Unaufmerksamkeit voraussagen.
8.2. Verringerte 12-HZ-Spindeln in Schlafphase 2 im frontalen EEG¶
12-HZ-Spindeln im stabilen Nicht-REM-Schlaf im Verhältnis zu 14-HZ-Spindeln im frontalen EEG korrelierten negativ mit Unaufmerksamkeit und positiv mit Reaktionszeitvariabilität.
8.3. Stromdichte von Delta, Theta und Alpha im Parietallappen¶
Eine Studie berichtet von signifikanten Unterschieden der Stromdichte der Frequenzbänder Delta, Theta und Alpha im Parietallappen zwischen Kindern mit ADHS und Nichtbetroffenen. Dies korreliere mit Problemen der Aufmerksamkeitsverlagerung.
8.4. Kleinere Amplituden und längere P-300 Latenz bei ereigniskorrelierten Potentialen¶
Aufmerksamkeitsstörungen sollen mit kleineren Amplituden und P300-Wellen mit längerer Latenz bei ereigniskorrelierten Potentialen einhergehen.
9. Proaktive – nicht reaktive – kognitive Kontrolle beeinträchtigt¶
Eine Studie fand bei ADHS Hinweise auf Probleme mit der proaktiven kognitiven Kontrolle, weniger dagegen mit der reaktiven kognitiven Kontrolle. Proaktive Kontrolle wird dabei als eine Form der aktiven, zielrelevanten Informationsaktivierung und -pflege zur Vorbereitung auf kognitiv herausfordernde Ereignisse verstanden. Reaktive Steuerung beinhaltet dagegen die Reaktivierung vorübergehender zielrelevanter Informationen nach dem Erkennen von Störungen und ihrer Auflösung.