1.1. Was ist Komorbidität¶
Komorbidität meint psychische Störungen, die (bedingt unabhängig voneinander) nebeneinander bestehen und die typischerweise häufig gemeinsam auftreten.
Statistisch gesehen kennzeichnen sich komorbide Störungen dadurch, dass ihr gemeinsames Auftreten überzufällig ist. Daraus folgt, dass die jeweiligen Störungen mindestens teilweise gemeinsame Ursachen haben oder jeweils gegenseitig (Mit-)Ursache sein müssen. Dies eröffnet einen Blick auf die möglichen Ursachen von ADHS.
Psychische Störungen sind sehr häufig. Fachleute gehen von einer Lebenszeitprävalenz von bis zu 66 % für psychische Störungen aus. Das bedeutet, dass 2/3 aller Menschen einmal im Leben an einer psychischen Störung leiden, wobei viele lediglich deshalb nicht entdeckt werden, weil die Betroffenen sich nicht behandeln lassen.
Viele der unter 2. für Kinder und unter 3. für Erwachsene als Komorbiditäten aufgeführten Störungen entstehen genauso wie ADHS
- rein genetisch (häufig)
- durch Umweltbelastungen allein (recht selten)
- durch ein Zusammenwirken von Genen + Umwelt (häufig)
ADHS geht häufig mit komorbiden Störungen einher. Komorbiditäten sind bei ADHS eher die Regel als die Ausnahme.
Bei ADHS sind Komorbiditäten jedoch oft genug nicht eine eigenständige psychiatrische Entität, sondern eine bloße Folge eines unbehandelten ADHS.
Welches Störungsbild eigenständig zuerst behandelt werden sollte, dürfte anhand des Maßes der Belastung zu entscheiden sein. Sofern dies nicht eindeutig ist, empfiehlt es sich, die Behandlung des ADHS vorzuziehen, um zu sehen, wie sehr die Komorbidität durch die ADHS-Behandlung beeinflusst wird. Oft genug ist eine getrennte Behandlung dann entbehrlich.
Siehe hierzu unter ⇒ Behandlungspriorisierung bei Komorbiditäten im Beitrag ⇒ Leitfaden ADHS-Behandlung im Kapitel ⇒ Behandlung und Therapie.
1.2. Komorbidität bei ADHS¶
Kinder mit ADHS leiden mit einer Wahrscheinlichkeit von 60-100 % unter mindestens einer psychopathologischen Komorbidität (z.B. Tic-Störung, Depression, Störung des Sozialverhaltens u.a.).
Bei n = 174 untersuchten ADHS-betroffenen Erwachsenen fanden sich im Schnitt 1,4 Komorbiditäten.
Unter 575 ADHS-betroffenen Erwachsenen fand eine Studie bei 52,4 % mindestens eine Komorbidität (32,9 % hatten eine, 12,7 % hatten zwei, 3,8 % hatten drei und 3 % hatten vier Komorbiditäten).
Eine Studie fand unter 5.840 ADHS-Betroffenen bei 53,9 % psychische Komorbiditäten.
1.3. Literatur¶
Als besonders gutes Buch zu Komorbiditäten bei ADHS empfehlen Müller et al:
Brown (2009): ADHD comorbidities, Handbook for ADHD complications in children and adults. American Psychiatric Press, Washington DC