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Chronische Schmerzen und Muskelspannung bei ADHS - Neurophysiologische Korrelate

Inhaltsverzeichnis

Chronische Schmerzen und Muskelspannung bei ADHS - Neurophysiologische Korrelate

Zu chronischen Schmerzen und erhöhtem Muskeltonus als Symptom bei ADHS siehe unter Chronische Schmerzen / Muskelspannung bei ADHS im Kapitel Symptome
Zu Fibromyalgie als Komorbidität von ADHS siehe Fibromyalgie komorbid zu ADHS im Beitrag Diagnostik / Komorbidität bei ADHS / Somatische Komorbiditäten bei ADHS

1. Chronische Schmerzen - Entstehung und Ursachen

1.1. Chronische Schmerzen und Dopamin

Das Dopaminsystem könnte sowohl bei ADHS, chronischen Schmerzen und der Modulation des Muskeltonus beteiligt sein12

Schmerzen gehen mit einer verringerten tonischen Dopaminfeuerung einher, die eine erhöhten phasische Dopaminfeuerung bewirkt.3 Dies deckt sich mit dem von Grace entwickelten Modell einer verringerten tonischen und erhöhten phasischen Dopaminfeuerung bei ADHS. Siehe hierzu Tonisches und phasisches Dopamin in Erklärungsmodellen für ADHS im Abschnitt Dopamin im Kapitel Neurologische Aspekte.
Menschen mit chronischen Schmerzen zeigen eine verringerte Reaktionsfähigkeit innerhalb des mesolimbischen Dopaminsystems auf bedeutsame Reize, eine geringere D2-Rezeptorbindung, eine geringere präsynaptische Dopaminaktivität im Striatum in Ruhe und nach einem akuten Schmerzreiz.4 Bei Tieren führen chronische Schmerzen zu einer verminderten c-Fos-Aktivierung im VTA, zu einem verringerten Gesamtdopaminspiegel und zu einer Verringerung der D2-Rezeptoren im Striatum.4
Umgekehrt bewirkte eine Verringerung von Dopamin im Gehirn durch akute Verarmung der Dopaminpräkursoren Phenylalanin und Tyrosin eine erhöhte subjektive Schmerzempfindlichkeit (das Maß, in dem Schmerz unangenehm empfunden wurde), ohne die sensorische Schmerzwahrnehmung zu verändern.5
Bei 6-OHDA-Mäusen, bei denen die Dopaminsynthese chemisch geschädigt wird und die dadurch ein ADHS-Tiermodell darstellen, wurde eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit festgestellt. Die Schmerzempfindlichkeit wurde vermutlich durch α- und β-adrenerge sowie D2/D3-Rezeptoren vermittelt. Atomoxetin6 wie MPH7 konnte die erhöhte Schmerzempfindlichkeit bei ADHS verringern.
Eine Stimulation der Substantia nigra, eine der beiden wichtigsten Dopaminquellen des Gehirns, bewirkt eine Schmerzlinderung, indem mittels dopaminerge Signalpfade Rückenmarksneuronen aktiviert werden.8910 Schmerzhafte Reize verursachen eine Dopaminausschüttung im dorsolateralen Striatum, die mit der subjektiven Wahrnehmung der Schmerzintensität korreliert. Ebenso steht das ventrale Striatum eindeutig mit der emotionalen Dimension des menschlichen Schmerzprozesses und der Schmerzerwartung in Verbindung.11

Auch bei Parkinson, das ebenfalls durch Dopaminmangel gekennzeichnet ist, leiden 30 bis 50 % der Betroffenen an einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit.12 Diese kann durch dopaminerge Medikation verbessert werden13, z.B. durch Levodopa oder deep brain stimulation.14

Umgekehrt ist bei Schizophrenie, das mit einem erhöhten Dopaminspiegel in Verbindung steht, die Schmerzempfindung herabgesetzt.15

1.2. Weitere Entstehungspfade für chronische Schmerzen bei ADHS

Als weitere gemeinsame Mechanismen für ADHS und Chronische Schmerzen werden erörtert:1

  • Genetische Faktoren16
  • Traumata1617
  • Schmerzrezeptoren (Opioidrezeptoren, Cannabinoidrezeptoren, Alpha-2-Adrenozeptoren)16
  • GABAerge Neurosteroide (Allopregnanolon, Pregnanolon), Progesteron16
  • Dysfunktion der HPA-Achse16
  • Neuroinflammation1618
  • BDNF16
  • veränderte Schmerzempfindlichkeit18
  • lang anhaltende Muskelkontraktion, hoher Muskeltonus19
    • fast 90 % der Kinder und Erwachsenen mit ADHS zeigen motorische Dysregulationen, die zu einem anhaltend hohen Muskeltonus führen
    • dies könnte zur Entwicklung chronischer Muskelschmerzen bei ADHS beitragen20
    • Es wurde ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen den muskulären Regulationsproblemen und der Schmerzintensität festgestellt20
      • die ADHS-Gruppe zeigte einen erhöhten Tonus der Muskeln in Nacken, Rücken, Brust, Schultern, Hüften (d. h. der axialen und proximalen stabilisierenden Muskeln) und Beinen20 Ein erhöhter Tonus in diesen Muskeln wurde auch bei Kindern mit ADHS festgestellt.

1.3. Entstehungspfade von Fibromyalgie

Für Fibromyalgie wurde als neurophysiologischer Wirkpfad ein Zusammenspiel mehrerer pathogener Mechanismen vorgeschlagen:2117

  • Anstieg der Aktivität der erregenden Schmerzbahnen bottom up
    • Anstieg von Transmittern wie
      • Substanz-P
      • Stickoxid
      • Nerve growth factor (NGF)
      • Glutamat.
  • Verringerte Aktivität der hemmenden top-down-Bahnen
    • verringerte Spiegel von
      • Dopamin
      • Noradrenalin
      • Serotonin
      • endogenen Opioiden
  • Als Folge des Ungleichgewichts aus überaktivierten Schmerzbahnen und unteraktivierter präfrontalen Hemmung:
    • funktionelle zentrale Sensibilisierung
    • die sich zur strukturellen zentralen Sensibilisierung weiterentwickelt
      • weit verbreitete Verringerung der Schmerzschwelle
      • Zunahme der zeitlichen Summierung
      • verlängerten Nachwirkung schädlicher Reize
      • verringerte allgemeinen Schmerztoleranz
  • Daneben bestehende chronische sympathische Hyperaktivität mit erhöhter Sensibilität bei akutem Stress verschlimmert die Symptome von Schmerz und Müdigkeit
  • HPA-Achse im Sinne einer chronischen Hypoaktivität gestört
    • Abflachung der täglichen Kortisolschwankungen
      fördert ebenfalls Schmerzsymptome, Müdigkeit und Depression
  • Periphere pathogene Prozesse
    • Beeinträchtigungen der Nozizeptorenempfindlichkeit
    • immunologische Veränderungen
    • lokale Stoffwechselmechanismen in den Muskeln
      • ATP-Verarmung
      • Milchsäureanreicherung
      • Hypokarbie

Dopamin ist ebenfalls bei Fibromyalgie involviert.2
Schmerzwahrnehmung und Aufmerksamkeit beeinflussen sich gegenseitig.22
Bei somatoformen Störungen wie Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom, funktionellem dyspeptischem Syndrom und Kiefergelenksdysfunktion soll Melatonin eine mögliche Behandlungsoption der Schmerzsymptome darstellen.23

2. Muskeltonus - Entstehungsursachen

2.1. Muskeltonus und Dopamin

Dopamin beeinflusst den Tonus von Skelettmuskeln und kann dadurch Bewegung direkt steuern:24
Der Dopaminagonist Apomorphin aktivierte Motoneuronen des Trigeminus und erhöhte stark den Tonus des Masseter (ein Kaumuskel) und Tensor Palatini (ein das Schlucken unterstützender Muskel des Gaumensegels). Diese erregende Wirkung wird durch D1-artige Rezeptoren vermittelt, da eine spezifische Aktivierung der D1-artigen Rezeptoren den Muskeltonus verstärkte und die Blockade dieser Rezeptoren die dopaminbedingte Aktivierung der Motoneuronen verhinderte. Die Blockade von D1-artigen Rezeptoren allein hatte keinen nachweisbaren Effekt auf den Basalttonus von Masseter/Tensor palatini, was darauf hindeutet, dass zumindest während einer Isofluran-Narkose kein funktioneller Dopamin-Antrieb auf trigeminale Motoneuronen vorhanden ist. D2-artige Rezeptoren beeinflussten dagegen weder die Funktion der Trigeminus-Motoneuronen noch den Tonus von Masseter oder Tensor Palatini.

In Tests zur Muskelspannung zeigten 64 bis 84 % der ADHS-Betroffenen starke Beeinträchtigungen, gegenüber 0 % der Nichtbetroffenen.25

Langanhaltende Muskelspannung kann chronische Schmerzen verursachen.19

Ein erwachsener ADHS-Betroffener berichtete uns einen massiven Rückgang seiner jahrzehntelangen massiven Nacken-/Schulter-Verspannungen, als er seinen chronischen Alkoholkonsum drastisch reduzierte.

2.2. Weitere Entstehungspfade für hohe Muskelspannung bei ADHS

  • Das retikuläre System
    • ist beteiligt an20
      • Regulation des Arousals
      • Aufrechterhaltung des Muskeltonus.
    • Die Formatio reticularis kann dabei 20
      • etliche Muskeln gleichzeitig aktivieren
      • Anpassungen der Körperposition für das Gleichgewicht modulieren
      • hierzu die stabilisierenden Muskeln (die proximalen Extremitätenmuskeln und Muskeln, die die Wirbelsäule stabilisieren) beeinflussen.
    • Das retikulospinale System (die Gesamtheit der absteigenden Fasern aus der Formatio reticularis) ist wichtig für20
      • Regulation der Haltungskontrolle
      • Regulation von Bewegungen
      • Verringerung der Muskelaktivität im REM-Schlaf

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Diese Seite wurde am 31.12.2024 zuletzt aktualisiert.