Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
ADHS endet nicht, wie man bis zum Ende des letzten Jahrtausends annahm, automatisch mit dem Erwachsenwerden.
ADHS bleibt bei rund zwei Drittel der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter bestehen. Bei vielen zeigen sich veränderte Symptome, während bei anderen eine vollständige Remission oder Remission mit schwankenden Phasen festgestellt werden kann. Bis zu 90 % der Betroffenen haben im jungen Erwachsenenalter noch Restsymptome oder erhebliche Einschränkungen im Vergleich zu Nichtbetroffenen. Es werden unterschiedliche Gründe für das Fortbestehen von ADHS bis ins Erwachsenenalter diskutiert, wie z.B. niedriger sozioökonomischer Hintergrund, hohe Stressbelastung in der Kindheit oder späte Traumata. Eine Theorie geht davon aus, dass ADHS bereits im Kindesalter existiert, aber durch Coping-Mechanismen überspielt wird und im Erwachsenenalter sichtbar wird. Late-Onset ADHS, d.h. ein erstmaliges Auftreten (oder zumindest erkennbar werden) im Erwachsenenalter, ist möglich und kann bei bis zu 10 % der ADHS-Fälle und insbesondere bei Frauen vorkommen.
Die Symptome von ADHS verändern sich bei Erwachsenen im Vergleich zu Kindern, wobei Hyperaktivität abnimmt und Innere Unruhe sowie Unaufmerksamkeit und Organisationsprobleme in den Vordergrund treten.
Die Behandlung von ADHS bei Erwachsenen erfordert oft geringere Dosierungen von Stimulanzien im Vergleich zu Kindern.
1. Prävalenz des Fortbestehens von ADHS bis ins Erwachsenenalter¶
5 % aller Kinder haben ADHS (bei weiteren 5 % bestehe ein ADHS-Verdacht). In den USA sind etwa 4,4 % aller Erwachsenen von ADHS betroffen. Weitere Untersuchungen finden sich bei Krause.
65 % bis 90 % bis 100 % der Betroffenen zeigen bis ins junge Erwachsenenalter mindestens Restsymptome bzw. erhebliche Einschränkungen im Hinblick auf Bildungs- und berufliche Erfolge im Vergleich zu Nichtbetroffenen.
63,8 % zeigten während Kindheit und jungem Erwachsenenalter schwankende Phasen von Remission und Wiederauftreten.
ADHS bleibt im Erwachsenenalter der Betroffenen – mit veränderten Symptomen – ein Leben lang vollständig bestehen bei - je nach Studie -
- 22 %
- 35 %
- 50 %
- rund 66 % (was am belastbarsten sein dürfte)
Eine vollständige Remission im Erwachsenenalter findet sich bei ca. 30 % der ADHS-betroffenen Kinder.
Eine Studie beobachtete bei Erwachsenen, deren früheres ADHS remittierte, dass lediglich die Symptomgruppen
- Exekutivprobleme
- Verhaltensprobleme
remittiert waren, während
- Hyperaktivität/Ruhelosigkeitsverhalten
- Planungs-/Organisationsdefizite
fortbestanden.
Eine große internationale Untersuchung fand sogar eine höhere Prävalenz von ADHS bei Erwachsenen (2,8 %) als bei Kindern (2,2 %). Dies könnte sich damit decken, dass die Erblichkeit von Erwachsenen-ADHS möglicherweise geringer ist als von Kinder-ADHS, dass also der Anteil von Umwelteinflüssen auf die ADHS-Entstehung bei Erwachsenen höher sein könnte als bei Kindern.
2. Mögliche Gründe für Fortbestehen von ADHS bis ins Erwachsenenalter¶
Es kann nicht vorhergesagt werden, bei welchen Betroffenen ADHS im Erwachsenenalter verschwindet. Ob ADHS-Betroffene bis zum Alter von 27 Jahren ihr ADHS verlieren, ist unabhängig von
- der Schwere der Störung
- dem Alter beim ersten Auftretens von ADHS
- dem IQ der Kindheit
- Verhaltensproblemen bei der Kindheit
- dem Schweregrad von ADHS-HI, ODD oder CD
- der Dauer der Stimulanzienbehandlung nach der Adoleszenz
Es gibt verschiedene Theorien, warum ADHS in der Kindheit bei manchen Erwachsenen verschwindet und bei anderen fortbesteht.
- Kinder mit ADHS aus einem niedrigen sozioökonomischen Hintergrund profitierten von einer besonderen schulischen Förderung stärker als Kinder aus höheren Schichten. Dies deutet in unseren Augen darauf hin, dass Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status weniger in der Lage sind, die Defizite ihrer Kinder auszugleichen. Das dürfte auf alle psychischen Problemstellungen zutreffen.
- Eine Untersuchung der Stressbelastung von Kindern mit ADHS fand, dass starke Stressbelastung in der Kindheit und Jugend mit schwerem ADHS-HI- bzw. ADHS-I-Verlauf bis ins Erwachsenenalter einherging, während Kinder mit einer schwachen Stressbelastung häufig ein remittierendes ADHS (alle Subtypen) zeigten. Eine große Kohortenstudie in Schweden bestätigt dies.
- Eine andere Untersuchung fand eine bis zu 11,8-fach erhöhte Anzahl von Traumata bei late-onset ADHS. Neurophysiologisch unterschied sich das late-onset-ADHS nicht von dem ADHS bei Betroffenen, die es seit der Kindheit hatten. Die Auswirkungen waren allerdings deutlich stärker. Zugleich wurde bei 1/3 der late-onset-ADHS-Betroffenen nach einem Jahr kein ADHS mehr festgestellt. Letzteres könnte auch ein Hinweis auf eine hohe Quote an Falschdiagnosen sein.
- Die Pubertät geht mit einer stark veränderten dopaminergen Innervation im PFC einher. Der PFC ist in dieser Zeit für dopaminerge Stimulation besonders vulnerabel. Damit wird das zwischen den Polen Novelty Seeking und starkem Rückzug schwankende Verhalten Pubertierender erklärt. Die starke dopaminerge Vulnerabilität in dieser Entwicklungsphase erklärt weiter die Gefahren von Alkohol- und Drogenmissbrauch oder exzessivem Medienkonsum. Diese können bleibende Störungen des Dopaminsystems verursachen, was das Risiko für Impulsivität, Suchterkrankung oder Psychosen erhöht.
Eine verlängerte kortikale Reifung im frontoparietalen Netzwerk wirkt sich dabei günstig auf die finale Leistungsfähigkeit des Gehirns aus, eine Beschleunigung z. B. durch zu viel dopaminerge Stimulation hingegen ungünstig. Bei ADHS wie bei Hochbegabung ist die Reifung des Gehirns verlangsamt.
Siehe ⇒ Hochbegabung und ADHS im Abschnitt ⇒ Differentialdiagnostik bei ADHS im Kapitel ⇒ Diagnostik
- Angstsymptome im Alter von 15 Jahren machen psychische Störungen im frühen Erwachsenenalter wesentlich wahrscheinlicher:
- Angststörung: 4,9-fach
- Depression: 4,8-fach
-
ADHS, ASS oder Entwicklungsstörung: 3,4-fach
Dies könnte ein weiterer Hinweis darauf sein, dass die mittlere Jugend neben der frühen Kindheit ein zweites besonders verletzliches Entwicklungszeitfenster darstellt.
- Eine Theorie geht von einer Nachreifung von Gehirnfunktionen aus. Doch nicht jede Verzögerung der Gehirnreifung ist zugleich ein Zeichen für ADHS. Bei Hochbegabung besteht eine Verzögerung der Entwicklung des Cortex, die exakt der Verzögerung bis zum Entstehen des ersten Cortexdickemaximums bei ADHS entspricht.
⇒ ADHS und Hochbegabung.
- Eine andere Theorie besagt, dass bestimmte Gehirnregionen kompensatorische Aufgaben übernehmen, sodass die kindlichen ADHS-Defizite hierdurch korrigiert werden können.
- Ein weiteres Modell geht davon aus, dass bestimmte kindliche ADHS-Defizite lebenslänglich weiter bestehen.
- Eine Untersuchung bei Erwachsenen, bei denen ADHS fortbestand, fand ein Ungleichgewicht zwischen den Verbindungen im Gehirn innerhalb des Default-Mode-Networks einerseits und denjenigen zwischen dem Default-Mode-Networks und jenen Bereichen, die Aufmerksamkeit und kognitive Kontrolle unterstützen andererseits. Bei Erwachsenen, deren ADHS remittiert war, gab es diese Unterschiede nicht.
- Ein Vergleich von teilremittierten mit nichtremittierten Jugendlichen fand bei Teilremission eine deutlich geringere Aktivierung des vlPFC. Diese Verbesserung der Effizienz des vlPFC korrelierte mit der Leistung bei einer Go/No-Go-Aufgabe und lag zwischen der ADHS-Diagnose und normalen Kontrollen.
- Eine Genanalysestudie fand vier genomweit signifikante Loci für ADHS im Kindesalter und einen für late onset ADHS. Bei persistierendem ADHS fanden sich erhöhte polygene Risikoscores für ADHS (ADHS-PRS). ADHS im Kindesalter zeigte eine größere genetische Überlappung mit Hyperaktivität und Autismus sowie die höchste Belastung durch seltene Protein-abbrechende Varianten in evolutionär beschränkten Genen. Late onset ADHS zeigte dagegen eine größere genetische Überschneidung mit Depressionen und keine erhöhte Belastung durch seltene Protein-abschneidende Varianten.
3. Late Onset ADHS: erstmaliges Auftreten im Erwachsenenalter¶
Der Begriff Late Onset beschreibt ein erstmaliges Auftreten von ADHS im Erwachsenenalter (ab Mitte 20). Davon abzugrenzen ist eine erstmals in diesem Alter erfolgte Diagnostik.
3.1. Späte Diagnostik¶
Verschiedene Langzeitstudien zeigen, dass ADHS auch im Erwachsenenalter erstmals diagnostiziert werden kann. Je nach Studie trete dies bei 0,4 bis 10 % der ADHS-Fälle auf. So fand eine Untersuchung bei jungen Erwachsenen mit ADHS, dass nur bei 12,6 % bereits ein ADHS in der Kindheit diagnostiziert wurde.
3.2. Spätes erstmaliges Auftreten (late onset)¶
Eine Studie untersuchte 239 Teilnehmer der MTA-Studie, die als Kinder kein ADHS diagnostiziert bekommen hatten und von denen 97 als junge Erwachsene ADHS-Symptome zeigten:
32 zeigten auch die für eine Diagnose erforderliche subjektive Belastung.
Von diesen 32 hatten 12 von einer der damaligen Diagnostikquellen ein ADHS konstatiert bekommen, nicht aber von allen Quellen, sodass keine Diagnose zustande kam.
Von den verbleibenden 21 resultierten bei 3 die jetzigen Symptome aus einem Substanzmissbrauch.
Von den verbleibenden 18 hatten 9 bereits weitere Diagnosen anderer Störungsbilder. Bei 5 wurden die Symptome primär dem anderen Störungsbild zugeordnet.
Von den 13 Fällen, deren erhöhte ADHS-Symptome und Beeinträchtigungen erstmals im Jugendalter auftraten, wurden 7 ausgeschlossen, deren Symptome nur von einer Lehrkraft oder einer Lehrkraft und sich selbst gemeldet wurden.
Damit kommt die Studie zu 6 Fällen (2,5 % der Vergleichsgruppe ohne ADHS bei Studienbeginn) mit einem late onset ADHS im Jugendalter.
Die Studie ist unserer Ansicht mach nicht dazu geeignet, die Häufigkeit von Late onset zu beurteilen, da sie die Ausschlusskriterien übergewichtet. Es wurden einerseits diejenigen ausgeschlossen, bei denen auch nur eine Quelle als Kind ADHS-Symptome feststellte und zugleich wurden auch diejenigen ausgeschlossen, bei denen nur eine Quelle im Jugendalter Symptome berichtete. Aufgrund dieses doppelten Ausschlusses sollte das Ergebnis nicht zur Bewertung der Häufigkeit eines late onset herangezogen werden.
Die Studie stellt aber belastbar fest, dass es selbst bei kritischster Betrachtungsweise eine Gruppe von Betroffenen mit einem late onset ADHS in der späten Jugend gibt.
Eine weitere Studie untersuchte die Pelotas-Geburtskohorte mit n = 5.249 Personen, die 1993 in Pelotas, Brasilien, geboren wurden, bis zum Alter von 18 bis 19 Jahren, wobei 81,3 % der Teilnehmer in der Studie blieben.
Mit 11 Jahren fand sich bei 393 (8,9 %) ein ADHS. Hier waren die meisten ADHS-Betroffenen männlich (63,9 %).
Mit 18 bis 19 Jahren fanden sich bei 492 (12,2 %) alle DSM-5-Kriterien (ohne das Alter bei Beginn der Erkrankung). Nach Ausschluss von Komorbiditäten verblieb eine Prävalenz von 6,3 % (256). Ob hier die Frauen überwogen (so der Wortlaut) oder in der gleichen Minderzahl wahren (so die Angabe von 39 %) ist uns unklar.
Beide Gruppen wiesen im Erwachsenenalter ein höheres Maß an Verkehrsunfällen, kriminellem Verhalten, Inhaftierung, Selbstmordversuchen und Komorbiditäten auf.
In der Gruppe der 18 bis
Allerdings hatten nur 60 Kinder (17,2 %) mit ADHS auch noch mit 18 bis 19 ADHS, und nur 60 junge Erwachsene (12,6 %) mit ADHS hatten bereits mit 11 ADHS.
Die Ergebnisse deuten auf eine Diskontinuität von ADHS und ein mögliches late onset hin. Immerhin 77,4 % der mit 18 bis 19 Jahre alten ADHS-Betroffenen hätten nach den strengen Regeln des DSM 5 (ADHS muss bereits im Alter von 11 Jahren oder früher aufgetreten sein) keine ADHS-Diagnose erhalten. Dies würde den Betroffenen eine sinnvolle und wirksame Behandlung verwehren, was aus Sicht der ärztlichen und psychotherapeutischen Fürsorgepflicht nicht vertretbar ist. Barkley vertritt damit zu recht die Auffassung, dass die Symptome erstmals bis zum Abschluss der Entwicklung des Gehirns (ca. 23 Jahre) aufgetreten sein müssen.
Die Autoren deuten die Ergebnisse als Hinweis auf die Existenz von zwei Syndromen mit unterschiedlichen Entwicklungsverläufe.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ADHS ein Syndrom ist, das aus hunderten oder gar auch tausenden verschiedenen Ursachen entstehen kann, könnten die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe unserer Ansicht nach möglicherweise auch unterschiedliche Umwelteinflussquellen repräsentieren. Denkbar wären bestimmte Umweltgifte oder Krankheiten, die zu verschiedenen Zeiten ihren Beitrag lieferten. Um dies zu eruieren könnte eine Studie mehrerer Geburtskohorten aus verschiedenen Ländern hilfreich sein.
3.3. Late-Onset ADHS: spät entstehendes oder spät diagnostiziertes ADHS?¶
Dennoch sind wir der Auffassung, dass ein erstmaliges Auftreten von Erwachsenenalter (late onset) eher selten sein dürfte. Wir gehen davon aus, dass ein erstmals im Erwachsenenalter auftretendes ADHS in der Regel schon zuvor bestand und bis dahin in den meisten Fällen entweder übersehen, fehldiagnostiziert oder durch intensives Coping überspielt wurde. Derartiges Coping kostet viel Kraft und kann von den wenigsten auf Dauer geleistet werden. Ist die Kraft irgendwann aufgebraucht, bricht die Coping-Fassade zusammen und das ADHS wird sichtbar. Das betrifft insbesondere Frauen. Bei Erwachsenen ist das Geschlechterverhältnis der ADHS-Diagnosen (nahezu) ausgeglichen.
Insbesondere Frauen mit später Diagnose leiden an den schwersten Symptomen und häufig an Komorbiditäten wie Angststörungen oder Depressionen, die eine typische Folge eines lange unbehandelten ADHS sind.
Andererseits sind Frauen anfälliger für die Entwicklung von emotionalen Störungen, die später (im Schnitt in der Adoleszenz) einsetzen, wie Depression, Dysthymie, verschiedene Angststörungen oder Essstörungen. Als mögliche Gründe werden häufig Sexualhormone erörtert.
Ein hoher Östrogenspiegel mildert Defizite bei Lernen und Gedächtnis. Dies könnte möglicherweise erklären, warum bei Mädchen häufig in der Schulzeit noch keine ADHS-Symptome feststellbar sind und diese bei Frauen erst im Alter ab 35 Jahren deutlicher hervortreten.
Die Kriterien der Diagnostik von ADHS sahen bis DSM IV vor, dass die ersten Symptome bis zum Alter von 7 Jahren aufgetreten sein müssen. Mit DSM 5 wurde dies auf ein Alter von 12 Jahren erhöht.
Jüngste Erkenntnisse aus bevölkerungsbezogenen Längsschnittstudien deuten darauf hin, dass bei einer Teilgruppe der ADHS-Betroffenen die ADHS-Symptome erst nach der Kindheit zunehmen und sie erstmals in der späteren Jugend oder im frühen Erwachsenenalter die Kriterien für ADHS erfüllen. Eine Studie fand bei 45 % der erst als Erwachsene diagnostizierten ADHS-Betroffenen kein ADHS in Kindesalter. Diese zeigten niedrigere Hyperaktivitäts/Impulsivitäts-Symptome und höhere Bildung. Beides sehen wir als Hinweise für eine höhere Wahrscheinlichkeit einer übersehenen Diagnose in der Kindheit bei guten Copingfähigkeiten. Daneben ist eine höhere Resilienz durch diverse protektive Faktoren denkbar.
Der aktualisierte europäische Konsens zur Behandlung und Diagnose von ADHS bei Erwachsenen von 2018 weist darauf hin, dass viele ADHS-Betroffene ein schlechtes Gedächtnis haben und daher Ereignisse und Einzelheiten ihrer Kindheit nur schwer erinnern können und dass es Berichte von Erwachsenen gibt, die ein erstes Auftreten der ersten Symptome erst nach dem 12. Lebensjahr dokumentieren.
Wird das Alter, bis zu dem die ersten Symptome aufgetreten sein müssen, auf 16 Jahre gesetzt, werden laut einer Studie 99 % der ADHS-Betroffenen erfasst.
Demnach hat immer noch jeder hundertste Fall von ADHS einen Entstehungszeitpunkt der ersten Symptome nach dem 16. Lebensjahr. Legt man eine Prävalenz für ADHS von 8 % zugrunde, wären dies 64.000 Menschen in Deutschland, bei 5 % wären es 40.000 Menschen, die ein late-onset ADHS nach dem 16. Lebensjahr haben.
Meist zeigt sich, dass im Jugendalter mindestens ein Symptom hoch ausgeprägt vorhanden war, was auf fehlerhafte Diagnostik in der Jugend hinweisen könnte.
Eine andere Studie fand bei einer Untersuchung bei jungen Erwachsenen mit ADHS, dass nur bei 12,6 % bereits ein ADHS in der Kindheit bestand. Demnach könnte ADHS sehr viel häufiger als bisher angenommen auch noch nach dem 6. oder 12. Lebensjahr erstmals “auftreten” (late onset). Inzwischen gibt es deutliche Hinweise aus umfangreichen Kohortenstudien in verschiedenen Ländern, dass ADHS auch im Erwachsenenalter erstmals “auftreten” kann. Eine Studie zeigte, dass bei Kindern mit ADHS die Symptome bei bis zu 95 % der Betroffenen im Erwachsenenalter verschwanden, während die Erwachsenen mit ADHS zu einem signifikanten Teil als Kinder kein ADHS “hatten”. Mehrere Langzeitstudien über 20 bis 40 Jahre zeigen, dass ADHS bei Kindern und ADHS bei Erwachsenen häufig getrennte Personenkreise betrifft. Bei Erwachsenen war zudem die Geschlechterbeteiligung ausgeglichen, während bei Kindern noch eine männliche Dominanz bestand. Auch dies könnte eine Trennung der Personengruppen andeuten.
Wir glauben zwar, dass das ADHS in aller Regel bereits früher bestand und nur nicht diagnostiziert wurde – sei es aus Unkenntnis der Ärzte oder Therapeuten, aufgrund eines intensiven Copings (z.B. bei hoher Begabung) oder durch eine gute Struktur im Elternhaus, die im eigenständigen Erwachsenenleben wegfällt. Gleichwohl bleiben einige Fragen dazu offen.
Unabhängig davon nutzt es den erwachsenen Betroffenen nichts, wenn ihnen aufgrund einer fehlenden Kindheits-Diagnose eine Behandlung im Erwachsenenalter versagt wird. Berichte, dass die üblichen Behandlungsmethoden (insbesondere Stimulanzien) bei Late onset ADHS schlechter oder seltener wirken würden, gibt es keine. Insofern mag eine besondere Beobachtung durch den behandelnden Arzt sinnvoll sein, eine Versagung einer Behandlung wäre jedoch ein Verstoß gegen die ärztliche Fürsorgepflicht. Dies sehen wir insbesondere, wenn ein Arzt lediglich aufgrund fehlender Grundschulzeugnisse eine Diagnose in Erwachsenenalter verweigert, obwohl die Symptome ein ADHS-Vollbild zeigen. Das bekanntermaßen schlechte Langzeitgedächtnis von ADHS-Betroffenen und die ADHS-symptomatische erhöhte Unordnung, bei der ein wieder auffindbares Aufbewahren der Grundschulzeugnisse durch den Betroffenen selbst fast eher ein Argument gegen ADHS wäre, kann in so einem Fall eine Verweigerung einer Diagnose alleine deshalb nicht rechtfertigen.
Eine Veröffentlichung berichtet, dass bei später auftretendem ADHS die Ausprägung milder sein solle. Dies steht im Gegensatz zu Berichten, dass insbesondere bei spät diagnostizierten Frauen eine eher schwere Symptomatik mit starker Komorbidität (Depression, Angst) vorliegt.
Das Risiko, erstmals im Erwachsenenalter ADHS (diagnostiziert) zu bekommen, scheint zudem mit Komorbiditäten zusammenzuhängen. Im Kindesalter bestehende (ADHS)-typische Komorbiditäten scheinen das Risiko zu erhöhen, im Alter ADHS zu entwickeln – ebenso wie (was bereits länger bekannt ist) umgekehrt ADHS im Kindesalter das Risiko erhöht, im Erwachsenenalter typische Komorbiditäten zu entwickeln.
Eine Langzeitstudie fand, dass von 318 Kindern mit Geburtsproblemen, im Alter von 40 Jahren diejenigen, die schon als Kind ADHS entwickelt hatten, nur zu 21 % ADHS zeigten, jedoch ein schlechteres Bildungsniveau, mehr ADHS-Symptome und exekutive Probleme hatten. Diejenigen, die als Kind Aufmerksamkeitsprobleme, aber kein ADHS-Vollbild hatten, hatten mit 40 Jahren zu 6,6 % ADHS, diejenigen, die als Kind keine Aufmerksamkeitsprobleme zeigten, hatten zu 6 % ADHS. Kontrollen ohne Geburtsprobleme hatten mit 40 zu 1,6 % ADHS. Demnach könnten rund 6 bis 6,6 % derjenigen Kinder mit Geburtsproblemen und 1,6 % derjenigen ohne Geburtsprobleme mit 40 Jahren erstmals eine ADHS-Diagnose erhalten.
Eine Studie an 488 konsekutiv aufgenommenen Patienten einer Spezialambulanz für Demenz fand bei 7 Patienten, bei denen zunächst ein Verdacht auf eine Frühform von Alzheimer-Demenz bestand, ein ADHS. Diese 7 eines “very late onset-ADHS” oder “senile onset ADHS” Betroffenen hatten vier Merkmale gemeinsam:
- deutlich jünger (< 65 Jahre) als die gesamte Studienpopulation
- überwiegend unaufmerksamkeitsbezogene Symptome
- latente Manifestation
- belastendes Lebensereignis vor der Manifestation (Stresserfahrung)
4. ADHS-Symptome bei Erwachsenen verändert¶
Die DSM IV-Kriterien für ADHS beschreiben die Symptome von Kindern und nicht spezifisch diejenigen von Erwachsenen.
Die Symptome von ADHS bei Erwachsenen ändern sich gegenüber denen von ADHS bei Kindern erheblich. Vor allem Hyperaktivität geht erheblich zurück. Symptome wie Innere Unruhe, Erholungsunfähigkeit und “Ständig Aktiv Sein Müssen” treten in den Vordergrund.
Eine Studie berichtet einen linearen Rückgang der Hyperaktivität von 6 auf 2,9 Punkte von 8 bis 16 Jahren. Unaufmerksamkeit gehe im selben Zeitraum lediglich von 5,8 auf 4,9 Punkte zurück.
Eine andere Studie zeigt jedoch, dass Hyperaktivität – hier gemessen anhand von Infrarot-Bewegungs-Sensoren während der Ausführung von Aufmerksamkeitstests – auch bei Erwachsenen noch ein besserer Diskriminator zu Nichtbetroffenen ist als Aufmerksamkeitsprobleme. Selbst bei Betroffenen des überwiegend unaufmerksamen ADHS-I-Subtyps fand sich eine gegenüber Nichtbetroffenen deutlich erhöhte Hyperaktivität / Bewegungsunruhe.
Erwachsene haben eine weitaus größere Möglichkeit, ihr Leben so einzurichten, dass die Eigenheiten von ADHS (kurze Aufmerksamkeitsspanne, hohe Ablenkbarkeit, Bevorzugung schneller Taskwechsel) nicht mehr Belastung, sondern Vorteil sind. Kinder müssen sich – insbesondere in der Schule – einer strikten Fremdbestimmung unterwerfen. Der Charakterzug von ADHS-Betroffenen (und ganz besonders der ADHS-HI-Betroffenen) einer erhöhten intrinsischen und verringerten extrinsischen Motivierbarkeit ist bei der rein extrinsisch motivierenden Schulumgebung hinderlich.
Der Vollständigkeit halber muss zu Friedman angemerkt werden, dass der Frust der Betroffenen, etwas zu tun, was sie nicht wirklich interessiert und was sie in der Folge naturgemäß auch nicht besonders gut können (was für alle Menschen gilt, für ADHS-Betroffene aber in ganz besonderem Maße) einen erheblichen Stress auslöst. Dass ADHS-Betroffene intensiver auf Stress reagieren, ist bekannt. Alle ADHS-Symptome sind klassische Stresssymptome. ADHS-Betroffene haben ein überreagibles Stressreaktionssystem.
⇒ ADHS als chronifizierte Stressregulationsstörung
Barkley hat eine Liste typischer Symptome für ADHS bei Erwachsenen erstellt und durch Untersuchungen verifiziert. Körperliche Hyperaktivität nimmt stark ab, Innere Unruhe wird sichtbarer. Ebenso nehme Unaufmerksamkeit deutlich ab.
Bei Erwachsenen herrschen folgende Symptome vor:
- Unaufmerksamkeit (gegenüber Kindern um bis zu 40 % verringert)
Aufmerksamkeitsprobleme nehmen bei Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen um bis zu 40 % ab (die Abnahme ist damit geringer als die der anderen Hauptsymptome). Die Angaben stammen aus den Daten in der Veröffentlichung von Biedermann. Warum die Fachliteratur diese anders interpretiert, können wir nicht nachvollziehen. Der aus den Daten ablesbare Rückgang von Aufmerksamkeitsproblemen bei Erwachsenen deckt sich jedoch mit unserer Wahrnehmung (zumindest bei etlichen Betroffenen). Eine Studie berichtet einen linearen Rückgang der Unaufmerksamkeit von 5,8 auf 4,9 Punkte im Alter von 8 bis 16 Jahren.
Andere Quellen berichten dagegen ein Ansteigen der Unaufmerksamkeit im Alter sowie im Alter zwischen 60 und 94 Jahren gleichbleibende Aufmerksamkeitsprobleme und Exekutivprobleme aus dem Arbeitsgedächtnis, wobei diese teilweise aus Depression stammten.
- Hyperaktivität (gegenüber Kindern um bis zu 60 % verringert)
Hyperaktivität wandelt sich im Erwachsenenalter zu Innerer Unruhe (Barkley) und nimmt gegenüber Kindern / Jugendlichen um bis zu 60 % ab Wir vermuten, dass es sich dabei weniger um eine Wandlung handelt sondern dass nach dem Nachlassen der Hyperaktivität die Symptome der inneren Spannung deutlicher sichtbar werden.
-
Impulsivität (gegenüber Kindern um bis zu 60 % verringert)
Impulsivität soll nach verschiedenen Quelle im Vergleich zu Kindern / Jugendlichen um bis zu 60 % abnehmen
Eine andere Untersuchung stellte keine Veränderung der Impulsivität im Alter fest.
- Emotionale Überreagibilität (bei Erwachsenen verstärkt)
- Affektlabilität
- Desorganisation
Eine Studie fand in Bezug auf Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter vier Muster:
- Hyperaktivität
- war niedrig, bleib niedrig
- war hoch, nahm ab
- Unaufmerksamkeit
- war niedrig, blieb niedrig
- war hoch, stieg weiter
Einige Veränderungen sind auch neurophysiologisch messbar.
Während bei Kindern mit Hyperaktivität eine Erniedrigung der striatalen und präfrontalen Dopa-Decarboxylaseaktivität bestehe, sei dies bei Erwachsenen mit ADHS-HI nicht reproduzierbar. Weiter sei bei Erwachsenen mit ADHS keine Erhöhung der HVA im Liquor nachweisbar. Dies deute ebenfalls darauf hin, dass eine fortbestehende ADHS im Erwachsenenalter eine veränderte pathophysiologische Grundlage besitzt. Der HVA-Wert ist allerdings lediglich ein globaler Wert für den Dopaminmetabolismus, während bei ADHS das Dopaminniveau verschiedener Gehirnregionen unterschieden werden muss.
Erwachsene haben offenbar eine wesentlich geringere Anzahl von Dopamintransportern im Striatum als Kinder. Je 10 Jahre Lebensalter ergebe sich ein Rückgang um 7 %, wobei die Abnahme im Alter bis etwa 40 Jahre deutlich höher sei als danach. Bei 50-Jährigen sei die Anzahl der DAT nur noch etwa halb so hoch wie bei 10-Jährigen.
Gleichzeitig verringert sich im Alter die Anzahl der dopaminergen Neuronen. Die Menge des phasisch ausgeschüttete und des basalen extrazellulären Dopamins im Striatum bleibt gleich.
Die Probleme und die Lebensqualitätseinschränkungen von älteren Erwachsenen mit ADHS gleichen nach einer Studie denen von jüngeren Erwachsenen mit ADHS. Dies deutet darauf hin, dass es keine langfristige Verbesserung durch das weitere Altern während der Erwachsenenzeit gibt.
Reif geht dagegen davon aus, dass Unaufmerksamkeit nur wenig abnimmt, während emotionale Dysregulation im Erwachsenenalter stärker werde.
Wir glauben, dass emotionale Dysregulation bei Kindern eine eher akzeptierte Eigenschaft ist (“Unreife”), während sie bei Erwachsenen als unpassend wahrgenommen wird. Wir fragen uns daher, ob emotionale Dysregulation bei Erwachsenen mit ADHS tatsächlich zunimmt oder ob nicht eher bei Kindern mit ADHS bereits ebenfalls eine emotionale Unausgeglichenheit vorhanden ist, die bei ihnen aber noch als vertretbar und daher nicht als ADHS-Symptom wahrgenommen wird - so wie wir es auch bei innerer Anspannung vermuten, die im Erwachsenenalter wahrgenommen wird, nachdem die körperliche Hyperaktivität zurückgeht. Wir wollen dies noch vertieft recherchieren.
5. Behandlung bei Erwachsenen¶
Bei Erwachsenen sind üblicherweise deutlich geringere Mengen an Stimulanzien erforderlich, um das Dopamin- und Noradrenalindefizit im Verstärkungssystem und im dlPFC zu beheben, was damit zusammenhängen könnte, dass sich die Überzahl der Dopamintransporter gegenüber Kindern offenbar teilweise zurückbildet.
Eine (Start-)Dosierung von Stimulanzien wie bei Kindern wäre daher ein ärztlicher Kunstfehler. Unabhängig davon ist für eine sinnvolle Eindosierung mit Stimulanzien sollte eine Stimulanzienbehandlung stets mit Dosierungen von 2,5 mg / unterhalb der kleinsten Verpackungsdosierungsgrößen eingeschlichen werden.
6. Remission im Erwachsenenalter¶
Eine Studie untersuchte Erwachsene drei Mal im Abstand von je 7 Jahren, vom Altersschnitt 34 bis zum Altersschnitt 47. Hier zeigte sich eine Remissionsrate von 5,7 %.
Ein Einzelfall berichtete uns eine vollständige Remission seines deutlichen Erwachsenen ADHS-C in der Folge einer Coronainfektion. Nach einem dreiviertel Jahr kamen die ADHS-Symptome langsam zurück. Es ist durchaus vorstellbar, dass Krankheiten das Dopaminssystem verändern. So wie bestimmte Viruserkrankungen ein ADHS-Risiko sein können, weil sie einen Dopamin. und Noradrenalinmangel auslösen können, ist dies ebenso in der Gegenrichtung möglich.
7. ADHS im Alter¶
Es findet sich nur wenige Studien zur Symptomatik, Diagnose und Behandlung von ADHS bei älteren Erwachsenen.