Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
Vergesslichkeit, Lernprobleme und Gedächtnisproblem sind bei ADHS häufig. Geradezu phänotypisch ist, dass Betroffene sich nur schwer an Einzelheiten aus ihrer Kindheit erinnern können, was bei der Diagnostik von Erwachsenen nachteilig sein kann.
Vergesslichkeit kann durch Ablenkbarkeit oder durch Gedächtnisprobleme verursacht werden. Kinder mit ADHS verlieren häufig Gegenstände des täglichen Bedarfs. Erwachsene haben Schwierigkeiten, sich an Handlungen, Vorkommnisse oder Absprachen zu erinnern.
Bei ADHS ist die Lernfähigkeit beeinträchtigt, da bestimmte neurotrophe Stoffe im Gehirn, wie Dopamin und GABA, reduziert sind. ADHS-Betroffene lernen weniger gut über Strafen, sondern reagieren empfindlicher darauf, indem sich kumulative negative emotionale Reaktionen aufbauen (Frustrationstoleranz.
Vergesslichkeit und Gedächtnisprobleme sind typische Stresssymptome. Stress beeinträchtigt das implizite Gedächtnis, das deklarative Gedächtnis und das Arbeitsgedächtnis. Diese Beeinträchtigungen treten auch bei ADHS auf.
5.1. Vergesslichkeit¶
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Vergesslichkeit
Vergesslichkeit kann aus Ablenkbarkeit resultieren, wenn ein anderer Reiz die Aufmerksamkeit so erregt hat, dass der bisherige Gegenstand der Aufmerksamkeit aus den Augen verloren wird.
Vergesslichkeit kann auch aus Gedächtnisproblemen resultieren, wenn kein anderer Reiz den Aufmerksamkeitsfokus verändert oder das bisherige Thema aus dem Gedächtnis verdrängt.
- Kinder:
- Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich (DSM IV / 5)
- verliert häufig Gegenstände, die für Alltagstätigkeit benötigt werden (DSM IV / 5)
- Erwachsene:
- Unfähigkeit, sich an Handlungen/Vorkommnisse/Absprachen zu erinnern
- Ausgangssituationen werden nicht mehr erinnert, was das Gefühl bewirken kann, ständig in unvorhergesehenen Situationen zu befinden
- subjektives Gefühl, an Alzheimer zu leiden
Wie Aufmerksamkeit könnte auch Vergesslichkeit stark vom intrinsischen Interesse abhängen.
Eine Online-Umfrage im ADHS-Forum vom ADxS.org (61 Teilnehmer, Stand 09.03.24) ergab:
Frage: ist Vergesslichkeit ebenfalls motivationsgesteuert oder ist sie davon unabhängig?
Skala:
zuweilen: ab und an, nicht nur selten
häufig: mehr als nur ab und zu
oft: mehr als häufig
Ich vergesse Dinge/Aufgaben/Todos/Termine oder verliere Sachen:
23% oft, und EGAL ob sie mir wichtig sind oder nicht
21% oft, und überwiegend dann, wenn sie mir NICHT wichtig sind
20% häufig, und EGAL ob sie mir wichtig sind oder nicht
18% zuweilen, und überwiegend dann, wenn sie mir NICHT wichtig sind
8% häufig, und überwiegend dann, wenn sie mir NICHT wichtig sind
6% zuweilen, und EGAL ob sie mir wichtig sind oder nicht
2% häufig, und überwiegend dann, wenn sie mir wichtig sind
2% zuweilen, und überwiegend dann, wenn sie mir wichtig sind
0% oft, und überwiegend dann, wenn sie mir wichtig sind
Zusammengefasst:
49 % oft / häufig / zuweilen, und EGAL, ob sie mir wichtig sind
47 % oft / häufig / zuweilen überwiegend dann, wenn sie mir NICHT wichtig sind
4 % oft / häufig / zuweilen überwiegend dann, wenn sie mir wichtig sind
Dass Dinge, die einem wichtig sind, weniger häufig vergessen werden, dürfte normal sein. Interessant wäre nun, wie sich die Quote bei Nichtbetroffenen unterscheidet.
Die Umfrage fragte nicht ab, ob eine ADHS-Diagnose besteht. Hierzu ist eine ausführlichere Umfrage erforderlich.
5.2. Lernprobleme¶
Bei ADHS ist häufig die Lernfähigkeit beeinträchtigt.
Die ADHS-spezifischen Lernprobleme resultieren unter anderem aus verringerten Spiegeln von Dopamin, GABA, Wachstumshormon und BDNF, die als neurotrophe Stoffe für die Neuroplastizität (die Bildung neuer Synapsen) erforderlich sind. Mehr hierzu unter ⇒ Neurophysiologische Korrelate von Lernproblemen. Lernprobleme resultieren auch aus Exekutivproblemen (Organisationsproblemen).
- Lernfähigkeit erfordert sofortige Rückmeldung
- durch Bestrafung wird kaum gelernt
- Strafen werden prinzipbedingt meist zeitverzögert erteilt
- Strafen sind daher grundsätzlich schlechtere Lernverstärker.
- Strafen hemmen Verhalten, sie wirken nicht als Verhaltensverstärker.
- (Schulisches) Lernen ist (neurophysiologisch betrachtet) ein Prozess der Verstärkung, weniger der Hemmung.
- Auch Nichtbetroffene lernen über Lob und Motivation besser als über Strafen.
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ADHS-Betroffene lernen mittels Bestrafung jedoch noch schlechter als Nichtbetroffene.
- Unabhängig davon reagierten ADHS-betroffene Kinder auf Strafen empfindlicher als Nichtbetroffene.
- Lernfähigkeit bei ADHS scheint unabhängig zu sein von Delay Aversion oder Arbeitsgedächtnisproblemen.
5.3. Schlechtes Erinnerungsvermögen an Kindheitsereignisse¶
Nach unserem Eindruck haben viele ADHS-Betroffene Schwierigkeiten, sich an Situationen oder Stimmungen aus der Kindheit zu erinnern. Es fällt schwer, Fragen nach Beispielen zum Umgang mit den Eltern oder den Geschwistern zu beantworten. Solche Erinnerungen sind allerdings prinzipiell schwierig und zumeist (positiv) verfälscht.
Dies könnte sich mit unserer Hypothese decken, dass ADHS-Symptome durch dieselben Neurotransmitterverschiebungen vermittelt werden wie chronischer Stress. Chronischer Stress bewirkt, dass das Gehirn Erfahrungen weniger bewusst rekonstruierbar abspeichert. Psychotherapeuten erleben häufig, dass Trauma-Betroffene dann eine gute Erinnerung an die Ereignisse vor dem Trauma haben, wenn es sich bei dem Trauma um ein singuläres, überraschendes Ereignis handelte. Traumata dagegen, die in einer belastenden Gesamtsituation (chronischer Stress) entstanden sind (wie z.B. anhaltender sexueller Missbrauch / anhaltende körperliche Misshandlung) sind deutlich schlechter erinnerbar. Dies könnte auch als ein Schutzmechanismus verstanden werden.
Wir kennen eine Erwachsene mit ADHS-HI, die - anders als die meisten uns bekannten ADHS-Betroffenen - eine hervorragende HRV aufweist, was ein Marker für niedrige Stresswerte des vegetativen Nervensystems ist. Diese Betroffene hat ein außergewöhnlich gutes Erinnerungsvermögen, das teilweise an einen Voice-Recorder erinnert. Wir suchen weitere ADHS-Betroffene mit einem besonders guten Gedächtnis und würden uns über eine Kontaktaufnahme freuen.
5.4. Gedächtnisprobleme als Stresssymptome¶
Vergesslichkeit und Gedächtnisprobleme sind typische Stresssymptome.
Stress beeinträchtigt
- das implizite Gedächtnis
- das deklarative Gedächtnis
- das Arbeitsgedächtnis
Beeinträchtigungen aller dieser Gedächtnisbereiche werden auch bei ADHS beschrieben, wobei nicht jeder ADHS-Betroffene Beeinträchtigungen in allen Gedächtnisbereichen zugleich aufweist.
Vergesslichkeit ist als typisches Symptom von schwerem Stress bekannt. Gedächtnisprobleme ebenso
Zu den Beeinträchtigungen des Gedächtnisses durch Stress siehe oben unter ⇒ Ablenkbarkeit und Aufmerksamkeitsprobleme sind Stresssymptome.