Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS haben verschiedene Erscheinungsformen, wie Flüchtigkeitsfehler, verkürzte Aufmerksamkeitsdauer, Taskwechselprobleme, Schwierigkeiten beim Zuhören und der Umsetzung von Anweisungen sowie Schwierigkeiten, Aufgaben zu Ende zu bringen. Es gibt drei Gruppen von Aufmerksamkeitsproblemen bei ADHS: Ablenkbarkeit, Aufmerksamkeitswechselprobleme (Taskwechselprobleme) und Konzentrationsprobleme.
Ablenkbarkeit kann durch äußere Reize oder interne Gedanken verursacht werden. Tagträumen / Gedankenwandern ist eine Form der Ablenkbarkeit, bei der die Aufmerksamkeit ohne äußeren Reiz abgedriftet.
Taskwechselprobleme beschreiben Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit auf eine andere Aufgabe zu lenken, wenn dies erforderlich ist. Hyperfokus ist ein Zustand intensiver Konzentration bei Themen, die den Betroffenen persönlich interessieren und ein Unterfall von Taskwechselproblemen.
Aufmerksamkeit ist die Zuweisung von Ressourcen des Bewusstseins auf Inhalte. Konzentration ist dagegen das Maß für die Intensität und Dauer der Aufmerksamkeit.
Die Aufmerksamkeit bei ADHS ist nicht insgesamt “defekt”. Sie unterliegt eher einem abweichenden Aktivierungsprofil, wie es bei schwerem, lebensbedrohlichem Stress hilfreich wäre, außerhalb dessen aber sehr nachteilig ist.
Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS entstehen aus einer mangelhaften Aufmerksamkeitsregulation. Da Aufmerksamkeit ganz wesentlich motivationsgesteuert ist (Aufmerksamkeit folgt Interesse), sind die Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS, die hauptsächlich bei subjektiv als wenig interessant empfundenen Tätigkeiten auftreten, maßgeblich eine Folge der Motivationsdefizite, die durch den Dopaminmangel im Verstärkungssystem des Gehirns ausgelöst werden.
Während die Erkenntnis, dass Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS primär ein motivationales Problem darstellen, sich weitgehend durchgesetzt hat, ist es häufig noch unbekannt, dass dies auch auf motorische Unruhe zutrifft. Ein Zeitraffervideo, das einen Betroffenen bei der Beobachtung eines intrinsisch interessierenden und eines intrinsisch nicht interessierenden Videos zeigt, verdeutlicht, dass auch Hyperaktivitätsprobleme motivational verursacht sind.
ADHS geht normalerweise mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen einher. Es gibt jedoch die ADHS-HI-Präsentation (früher: Subtyp), bei der Aufmerksamkeitsprobleme weniger ausgeprägt sind oder sogar ganz fehlen können und Hyperaktivität und Impulsivität überwiegen. ADHS-HI tritt vor allem bei Kindern auf und wird oft als Vorstufe zu ADHS-C betrachtet, bei der zusätzlich zur Hyperaktivität Aufmerksamkeitsproblemen hinzutreten. Dennoch kennen wir etliche erwachsene ADHS-Betroffene ohne starke Aufmerksamkeitsprobleme, aber mit ausgeprägten anderen ADHS-Symptomen. Auch bei Erwachsenen sollte die Möglichkeit von ADHS ohne Aufmerksamkeitsprobleme in Betracht gezogen werden.
Die Altersentwicklung von Aufmerksamkeitsproblemen zeigt, dass Unaufmerksamkeit nicht von Anfang an vorhanden ist und im Erwachsenenalter weniger zurückgeht als Hyperaktivität und Impulsivität. Es ist umstritten, ob im Erwachsenenalter Aufmerksamkeitsprobleme nachlassen können, während Hyperaktivität/Impulsivität und andere Symptome bestehen bleiben. Wenn ADHS im Erwachsenenalter nicht mehr besteht, remittiert auch die Unaufmerksamkeit. Grundsätzlich ist ein Verschwinden von Aufmerksamkeitsproblemen also möglich. Statistische Daten legen jedoch nahe, dass Aufmerksamkeitsprobleme seltener remittieren als Hyperaktivität.
Probleme damit, bei Aufgaben oder Freizeitaktivitäten länger die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, ist eines der 9 treffsichersten Symptome von ADHS bei Erwachsenen.
Aufmerksamkeitsprobleme können auch ein Symptom von Stress sein und treten bei vielen psychischen Störungen auf. Aufmerksamkeitsprobleme sind das zweithäufigste Symptom aller Störungsbilder im DSM 5. Stress verringert die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu steuern. Eine verminderte Konzentrationsfähigkeit kann auch außerhalb von ADHS auftreten.
4.1. Formen von Aufmerksamkeit¶
Es existieren verschiedene Formen von Aufmerksamkeit, z.B.:
-
selektive Aufmerksamkeit
- anhaltende Aufmerksamkeit
- fokussierte Aufmerksamkeit
- wechselnde Aufmerksamkeit
- verdeckte Aufmerksamkeit
- verdeckte freiwillige (endogene) Aufmerksamkeit
- verdeckte unfreiwillige (exogene) Aufmerksamkeit
- Beide erhöhen die Kontrastsensitivität, verbessern die räumliche Auflösung, beschleunigen die Informationsaufnahme und verändern sogar das Erscheinungsbild von Reizen
Die verschiedenen Aufmerksamkeitsformen haben unterschiedliche neurologische Grundlagen.
ADHS-Betroffene scheinen bis auf die voll funktionsfähige verdeckte Aufmerksamkeit bei allen Aufmerksamkeitsformen Defizite aufzuweisen.
4.2. Erscheinungsformen von Aufmerksamkeitsproblemen bei ADHS¶
-
Flüchtigkeitsfehler
- bei Kindern:
- Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder anderen Tätigkeiten (DSM IV, DSM 5)
- bei Erwachsenen:
- Aversion gegen Handlungsanweisungen
- mangelnde Konzentration beim Durchlesen längerer Aufgaben
- längere Anweisungen überfordern
-
Aufmerksamkeitsdauer verkürzt bzw. beeinträchtigt
- bei Kindern:
- Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei einer Aufgabe / einem Spiel aufrechtzuerhalten (DSM IV / 5)
- vermeidet häufig / hat eine Abneigung gegen / beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (DSM IV / 5)
- bei Erwachsenen:
- langweilige Aufgaben erhöhen Ablenkbarkeit
-
Taskwechselprobleme
- bei Kindern:
- scheint nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen (DSM IV / 5)
- in Gedanken noch woanders
- bei Erwachsenen
- Geschwindigkeit des Wechsels zwischen Aufgaben (Taskwechsel) verringert
- sind noch mit eigenen Gedanken aus vorangegangener Aufgabe beschäftigt
- kommen aus Gedankenschleifen nicht mehr heraus
-
Zuhören fällt schwer
- Aufmerksamkeitsspanne ist zu kurz, um Anweisungen bis zum Ende zu folgen
(Tendenz zu unterbrechen ist dagegen Impulsivitätsproblem)
-
Umsetzung von Anweisungen fällt schwer
- Erwachsene: Überforderung aufgrund fehlender Fähigkeit, Aufgaben zu gliedern
- beim Aufgaben gliedern wandert die Aufmerksamkeit bereits in die Details
-
Aufgaben werden häufig nicht zu Ende gebracht
- Kinder:
- Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (DSM IV / 5)
- Erwachsene:
- mitten in Aufgabe wechselt der Fokus auf eine andere Sache
- Beispiel Putzen
- Der Boden wird gewischt, bis zum Tisch
- dort wechselt der Fokus darauf, diesen leerzuräumen
- Beim Gang in ein anderes Zimmer, um etwas wegzuräumen, findet man den offenen Kleiderschrank und die Kleider davor und beginnt diese einzuräumen.
- Das Boden wischen fällt einem erst wieder ein, als man ins Wohnzimmer kommt und überrascht am Tisch auf den Eimer und den Mob trifft…
- Während der Arbeit sucht man etwas im Internet und bleibt dort auf magische Art und Weise gefangen…
-
Konzentrationsprobleme
- Aufmerksamkeit kann nicht lange aufrechterhalten werden und ist nicht intensiv genug, um die Konzentration lange aufrechtzuerhalten
- Aufgaben mit kurzen und häufig wechselnden Anforderungen werden bevorzugt
- Aufgaben, die länger andauernde Konzentration und Anstrengung erfordern, sind unangenehm und werden gerne vermieden
4.3. Gruppen von Aufmerksamkeitsproblemen bei ADHS¶
Wir unterteilen Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS ins 3 Gruppen:
- Ablenkbarkeit: erhöhter Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus; Probleme, die Aufmerksamkeit bei einem Gegenstand zu belassen, wenn dies erforderlich ist
- Aufmerksamkeitswechselprobleme: Probleme, die Aufmerksamkeit von einem Gegenstand zu lösen, wenn es erforderlich ist
- Konzentrationsprobleme: Probleme, die Aufmerksamkeit länger oder dauerhaft auf einen Gegenstand zu reichten, wenn dies erforderlich ist, selbst wenn keine Ablenkung erfolgt
Diese drei Gruppen repräsentieren unterschiedliche Ausformungen der Aufmerksamkeitsprobleme, die alle für ADHS typisch sind. Alle drei Gruppen treten bei ADHS häufiger auf als bei Nichtbetroffenen.
4.3.1. Ablenkbarkeit¶
Ablenkbarkeit ist je nach Ursache zu unterscheiden in solche
- in Bezug auf externe, äußere Reize
- Ablenkbarkeit
- lässt sich öfter durch äußere Reize ablenken (DSM IV / V)
- Gespräche am Nachbartisch nicht überhören können
- nicht wegschauen können, wenn in einer Kneipe ein Fernseher läuft
- durch interne nebensächliche Gedanken (Gedankenwandern, Tagträumen, Wegdriften, Autopilot)
- zu unterscheiden vom Phänomen der Dissoziation, das eine Trennung von Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln darstellt
Ablenkbarkeit ist eines der 9 treffsichersten Symptome von ADHS bei Erwachsenen.
Eine größere Studie (n = 1.289) Metastudie fand, dass Ablenkbarkeit bei Erwachsenen mit ADHS überwiegend durch Gedankenwandern und weniger durch äußere Reize entsteht.
4.3.1.1. Ablenkbarkeit durch äußere Reize¶
Ablenkbarkeit ist ein Schwanken der Aufmerksamkeit aufgrund äußerer Reize. ADHS-Betroffene zeigen häufiger eine erhöhte Ablenkbarkeit als Nichtbetroffene.
Diese Form der Ablenkbarkeit durch äußere Reize scheint zunächst eine unmittelbare Folge des zu weit offenen Reizfilters (erhöhte Sensibilität) zu sein. Vor dem Hintergrund des abweichenden Regimes der Aufmerksamkeitslenkung ist jedoch fraglich, ob die Reizfilterstörung die wesentliche Ursache ist. Zum einen bestimmt vornehmlich das Maß des persönlichen Interesses bzw. der daraus folgenden Motivation, ob die Aufmerksamkeit gerichtet oder ablenkbar ist. Weiter ist nicht nur die Ablenkbarkeit, sondern auch die Gerichtetheit zeitweilig erhöht ist (Taskwechselprobleme) während zugleich die grundsätzlichen Mechanismen der Aufmerksamkeit und ihrer Lenkung technisch gesehen funktionieren. Dies könnte unserer Ansicht nach darauf hindeuten, dass die Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS eher Folge einer Änderung der motivationalen Steuerung sind als echte Defizite der Aufmerksamkeit selbst oder bloße Folge einer verringerten Wahrnehmungsfilterung.
ADHS-Betroffene werden zwar von unwichtigen Reizen aus der Umwelt abgelenkt, die selektive Aufmerksamkeit sei dagegen kaum beeinträchtigt. Letzteres wird von den Ergebnissen unseres Symptomtests nur zum Teil gedeckt. Taskwechselprobleme (Probleme mit dem Wechsel / der Selektion von Aufmerksamkeit) treten bei ADHS zwar seltener auf als Ablenkbarkeit, sind jedoch bei Nichtbetroffenen ebenso seltener, sodass die Häufigkeitsdifferenz von Ablenkbarkeit und Taskwechselproblemen zwischen ADHS-Betroffenen und Nichtbetroffenen ungefähr identisch ist.
Kinder mit ADHS zeigten auf
- visuelle Ablenkungsreize eine stärkere Abnahme der anhaltenden Aufmerksamkeit und der hemmenden Kontrolle (Impulskontrolle).
- auditive Ablenkungsreize eine unveränderte Leistung, während Kontrollen eine Leistungssteigerung zeigten.
4.3.1.2. Geistige Unruhe¶
4.3.1.2.1. Tagträumen / Gedankenwandern / Gedankenabwesenheit¶
Tagträumen ist keine Form der Ablenkbarkeit durch externe Reize. Die Aufmerksamkeit wandert vielmehr ohne externen Anlass. Gedankenwandern oder Gedankenabwesenheit sind äquivalente Begriffe. Gedankenwandern umfasst eine Reihe von mentalen Phänomenen, die eine Verlagerung der Aufmerksamkeit von einer Aufgabe hin zu “unzusammenhängenden inneren Gedanken, Fantasien, Gefühlen und anderen Grübeleien” mit sich bringen.
Tagträumen kann mit dem Mind Wandering Questionnaire (MWQ) gemessen werden.
Es wird zwischen spontanem Gedankenwandern und absichtlichem Gedankenwandern unterschieden.
Eine ausgeprägtere ADHS-Symptomatik geht mit häufigerem spontanem (ungesteuertem) Gedankenwandern einher und mit weniger absichtlichem (gerichtetem) Gedankenwandern als bei schwächerer ADHS-Symptomatik. Gedankenwandern ist ein Kernsymptom von ADHS.
255 erwachsene ADHS-Betroffene wurden nach dem MWQ Ergebnis von mehr oder weniger als 24 in Hi-Level-Gedankenwanderer und Low-Level-Gedankenwanderer unterschieden. Tagträumen ist demnach nicht spezifisch mit dem ADHS-I-Subtyp ohne Hyperaktivität (“Träumerle”) verbunden, sondern korreliert signifikant mit
- höherer Unaufmerksamkeit
- höherer Hyperaktivität
- schlechteren Exekutivfunktionen
- mehr allgemeinen psychischen Problemen
- höherer emotionaler Dysregulation
- stärker beeinträchtigter Lebensqualität
also mit verstärkter ADHS-Symptomatik allgemein.
Bei Kindern mit ADHS wurde ebenfalls ein erhöhtes Mind wandering (Tagträumen) festgestellt. Tagträumen konnte ADHS in einer Gruppe von ADHS-Betroffenen und Nichtbetroffenen mit einer Sensitivität von 0,71 und einer Spezifität von 0,81 ermitteln.
Ein interessanter Bericht nennt ein partielles Schlafen des Gehirns als mögliche Ursache von manchen SCT-Symptomen oder dem Tagträumen.
Eine Studie fand Tagträumen bei Erwachsenen als ein von ADHS unabhängiges Symptom, das mit Angst, nicht aber mit Depression korrelierte.
Eine Studie mittels ereigniskorrelierter EEG-Messungen während Aufgaben mit hohen und niedrigen Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis und die Daueraufmerksamkeit sowie während Phasen von Gedankenwandern und Aufgabenfokus fand bei ADHS-Betroffenen:
- schwächere Abnahme der Alpha-Leistung
- bei hohen Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis
- bei Anforderungen an die anhaltende Aufmerksamkeit
- schwächere Zunahme der Theta-Leistung und schwächere Phasenkonsistenz
- bei Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis
- bei geringen Anforderungen an die anhaltende Aufmerksamkeit
- schwächere Abnahme der Beta-Leistung
- bei geringen Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis
- schwächere Abnahme der Alpha-Leistung während Gedankenwanderungs-Episoden
- bei der Aufgabe der anhaltenden Aufmerksamkeit
- geringere Konsistenz der Theta-Phase während Gedankenwanderungs-Episoden
- bei der Aufgabe des Arbeitsgedächtnisses
Gedankenwandern korrelierte mit allgemeiner Beeinträchtigung und emotionaler Dysregulation, nicht aber mit risikofreudigem Verhalten und Hausaufgabenproblemen.
4.3.1.2.2. Rasende Gedanken¶
Rasende Gedanken umfassen drei Arten des Denkens:
- Gedankenüberaktivierung (eine übermäßige Menge und Geschwindigkeit der Gedanken)
- Last der Gedankenüberaktivierung (eine überwältigende Wirkung der Gedankenüberaktivierung)
- Gedankenübererregbarkeit (die Ablenkbarkeit, die durch rasende Gedanken hervorgerufen wird)
Subjektive Beschreibungen rasender Gedanken sind (bei einer manischen Störung in ihrer dortigen starken Ausprägung):
- eine subjektive Beschleunigung und Überproduktion von Gedanken
- Ideenflucht
- ein Sturzbach von nahezu unaufhaltsamem Reden; die Gedanken springen von Thema zu Thema, nur durch einen dünnen Faden erkennbarer Assoziationen gehalten. Ideen fliegen heraus, und während sie das tun, reimen sie sich, machen Wortspiele und fügen sich auf unnachahmliche Weise zusammen. Der Geist ist lebendig, elektrisch.
- Gedankenflucht
- subjektive Erfahrung, dass die Gedanken rasen
- Die Gedanken können rasen, oft schneller, als sie artikuliert werden können
- Diese Erfahrung ähnelt dem gleichzeitigen Anschauen von zwei oder drei Fernsehprogrammen
- Gedanken-Logorrhoe, mit abrupten Themenwechseln, sodass die Sprache desorganisiert und inkohärent sein kann
Eine Studie unterschied geistiger Unruhe in rasende Gedanken (Racing and Crowded Thoughts) und Gedankenwandern (Mind wandering). Geistige Unruhe wird hauptsächlich mit übermäßigem Umherschweifen der Gedanken erklärt. Die drei Facetten der rasenden Gedanken korrelierten mit emotionaler Labilität. Absichtliches wie spontanes Gedankenwandern und Tagträumen korrelierten weder mit den ADHS-Symptomen noch mit funktionellen Beeinträchtigungen. Die Autoren schlossen daraus, dass Rasende Gedanken und Gedankenwandern unterschiedliche Phänomene seien und rasende Gedanken möglicherweise die geistige Unruhe bei Erwachsenen mit ADHS erklären könnten.
Eine frühere Studie der Autorengruppe fand, dass rasende Gedanken stärker mit ADHS als mit Hypomanie oder Euthymie assoziiert waren und mit zyklothymen Merkmalen und Angstzuständen korrelierten. Bei ADHS nahmen die rasenden Gedanken abends und vor dem Schlafengehen zu und korrelierten mit der Schwere der Schlaflosigkeit.
4.3.2. Aufmerksamkeitswechselprobleme¶
4.3.2.1. Taskwechselprobleme / Set-Shifting-Probleme¶
Taskwechselprobleme (Probleme beim Set-Shifting / Task-Switching) beschreiben eine Schwierigkeit, auf eine externe Anforderung hin die Aufmerksamkeit einem anderen Gegenstand zuzuwenden, also auf eine extrinsische Anforderung hin eine gerade ausgeübte Tätigkeit oder Beschäftigung einzustellen, um sich der neuen Anforderung zu widmen. Folge ist die Schwierigkeit, eine Aktivität oder ein Verhalten zu beenden, wenn man es sollte.
Aufgabenwechsel oder Set-Shifting wird in der Psychologie als Fähigkeit beschrieben, die Aufmerksamkeit unbewusst von einer Aufgabe auf eine andere zu verlagern. Taskwechsel beschreibt dagegen den bewussten Wechsel von einer Aufgabe oder Anforderung zu einer anderen.
Taskwechselprobleme sind ein ADHS-Symptom. Von Dingen, die den Betroffenen persönlich so interessieren, dass sie ihn motivieren, kann er seine Aufmerksamkeit nur schwer lösen – und zwar ganz besonders, wenn die Anforderung zum Taskwechsel extrinsisch erfolgt und der Gegenstand der neuen Anforderung nicht das persönliche Interesse des Betroffenen adressieren.
Taskwechselprobleme sind daher eine Folge des veränderten Aufmerksamkeitslenkungsregimes, das wiederum von der Motivationslage gesteuert wird.
Taskwechselprobleme sind eines der 9 treffsichersten Symptome von ADHS bei Erwachsenen.
Erscheinungsformen von Taskwechselproblemen bei ADHS:
- Probleme, spontan etwas wegzulegen, was gerade beschäftigt und sich anderem zuzuwenden
- Schwierigkeiten, nach externer Aufforderung den Task zu wechseln
- Schwierigkeiten, Aufmerksamkeit auf extern vorgegebenes neues Thema zu richten
- Für eine neue Aktivität wird eine Vorankündigung bevorzugt
- 10/15 Minuten Vorankündigungszeit können helfen
- Schwierigkeiten, bisherige Tätigkeit aus dem Kopf zu bekommen
- Schwierigkeiten, die Beschäftigung mit einem Gedanken/Thema/Problem abzuschließen
- Neue Anforderung von außen, während man noch mit etwas anderem innerlich beschäftigt ist, löst leicht Stress / impulsive Reaktionen aus
Ein Betroffener bat seine Mitarbeiter, wenn sie zu ihm ins Büro kommen, ohne anklopfen einzutreten, ihn dann aber nicht anzusprechen, sondern einfach auf einem Stuhl neben der Tür Platz zu nehmen, aus dem Fenster zu sehen und zu warten, bis er das, was er gerade tut, beenden kann.
Diese (ohne solche Absprache sicherlich unhöfliche) Verhaltensweise bewahrte ihn davor, unmittelbar reagieren zu müssen und ersparte ihm, wie früher kurz tief und genervt zu schnaufen, wenn Mitarbeiter hereinkamen und etwas von ihm wollten, obwohl er noch mit etwas anderem beschäftigt war.
Die Symptomatik der Taskwechselprobleme blieb selbst unter Stimulanzien noch deutlich erhalten.
4.3.2.2. Hyperfokus: extreme Konzentration¶
Hyperfokus ist eine sehr starke Konzentrationsfähigkeit bei der Ausübung von Tätigkeiten, die Dinge betreffen, die den Betroffenen persönlich sehr interessieren. Damit geht häufig eine herabgesetzte Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber ablenkenden Reizen einher.
Hyperfokussierung ist ein bekanntes Symptom von ADHS, das auch bei Autismus und Schizophrenie auftritt. Hyperfokus korreliert stark mit ADHS.
Hyperfokus ist nicht wirklich ein Problem, soweit nicht eine stark mangelnde Wahrnehmung von externen Reizen in diesem Zustand besteht. Es ist durchaus von Vorteil, sich auf bestimmte Dinge besonders intensiv konzentrieren zu können. Gleichwohl ist es ein Spezifikum von ADHS, weshalb es ein Symptom darstellt. Zudem können die Betroffenen die Hyperfokussierung nicht steuern.
ADHS-Betroffene können bei bestehendem persönlichem Interesse eine sehr gute Aufmerksamkeit und Konzentration zeigen (bis hin zum Hyperfokus), wenn sie einmal mit einer Tätigkeit begonnen haben, die ihnen Befriedigung verschafft, weil die dann sofort eingehende Belohnung das Verstärkungszentrum aktiv erhält. Wer einmal einen ADHS-Betroffenen im Hyperfokus erlebt hat, in dem stundenlang auch höchst monotone Tätigkeiten sehr konzentriert ausgeübt werden können, sofern das persönliche Interesse des Betroffenen geweckt ist, und bei dem die für das aktuelle Interesse irrelevanten externen Reize sehr gut ausgeblendet werden, kann dies aus eigener Anschauung bestätigen.
Dieses Interesse ist allerdings aufgrund der geringeren Anzahl von Dopamin D2- und D3-Rezeptoren im Striatum deutlich schwerer zu erreichen.
Vor diesem Hintergrund könnte man annehmen, dass bei ADHS nicht die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit an sich, sondern die Lenkung der Aufmerksamkeit gestört ist. Doch auch diese Beschreibung greift unserer Ansicht nach noch etwas zu kurz. Wir meinen, dass bei ADHS auch die Mechanismen der Aufmerksamkeitslenkung nicht beeinträchtigt sind, sondern dass die Steuerung der Aufmerksamkeitslenkung beeinträchtigt ist. Verglichen mit einem Auto ist weder das Fahren an sich (die Aufmerksamkeit) noch der Lenkmechanismus (wohin fährt es) beeinträchtigt, sondern der Fahrer ist das Problem – er steuert das (voll funktionierende) Auto (die Aufmerksamkeit) auf ein unpassendes Ziel zu. (Der Fahrer ist hier nicht der Betroffene, sondern ein Symbol für die bei ADHS beeinträchtigte Instanz der Aufmerksamkeitssteuerung des Betroffenen). Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit unterliegt einem unpassenden Regime: dem einer Daseins-bedrohlichen Stresssituation. In einer solchen wäre die ADHS-typische Aufmerksamkeit nämlich hilfreich (Stressnutzen). Hierzu unten mehr.
Der sogenannte Hyperfokus – eine andere Bezeichnung ist “Flow” – ist ein Zustand, in dem sich ADHS-Betroffene (entgegen der typischen Symptome) ausdauernd, konzentriert und frei von Frustrationsintoleranz oder Ablenkbarkeit mit einem Thema beschäftigen können.
Hyperfokus ist der Zustand, aus dem sich Betroffene von Autismusspektrumsstörungen zu wenig lösen und in den sich ADHS-Betroffene zu wenig hineinbringen können. Die beiden Störungsbilder verbindet, dass die Selbstregulationsfähigkeit der Aufmerksamkeitslenkung beeinträchtigt ist.
Geht es um Themen, die den jeweiligen Betroffenen besonders faszinieren, können diese sich problemlos stunden-, tage-, nächtelang mit einem ganz spezifischen Thema beschäftigen und haben hier (wie Nichtbetroffene auch) eine sehr steile Lernkurve. Bei weniger interessierenden Themen ist die Lernkurve bei ADHS dagegen typischerweise verlangsamt bzw. verzögert.
Ein ADHS-Betroffener berichtete: “Ich war einmal in einem Großraumbüro mit einer Aufgabe befasst, die mich sehr faszinierte. Dabei bekam ich nicht einmal mit, dass Kollegen mich mehrfach angesprochen hatten. Bei einer weniger spannenden Aufgabe wäre mir das ganz sicher nicht so passiert.”
Viele ADHS-Betroffene kennen den Zustand des Hyperfokus, wenn sie etwas wirklich interessiert, sehr gut. Sie können sich in diesem Zustand dauerhaft mit einem Thema beschäftigen können, ohne von Konzentrationsproblemen, Aufmerksamkeitsproblemen, Ablenkbarkeit oder Frustrationsintoleranz belastet zu sein. Das Problem ist, dass das erforderliche Interesse nicht ausreichend steuerbar ist.
Alle Menschen können sich auf Dinge, die sie interessieren, besser konzentrieren. Nichtbetroffene können sich jedoch sehr viel besser motivieren, sich auch auf weniger spannende Dinge zu konzentrieren als ADHS-Betroffene. Dies ist keine Frage des Charakters oder des Bemühens, sondern schlicht eine Frage der Fähigkeit. In dem Maße, wie diese Fähigkeit ADHS-Betroffenen fehlt, ist dies ein Symptom von ADHS. Brown, der Leiter der Yale Clinic for Attention and Related Disorders in New Haven, Connecticut, zitiert einen Betroffenen mit dem schönen Bild einer geistigen erektilen Dysfunktion. Wenn etwas ausreichend interessant ist, um zu motivieren, kann man agieren. Wenn kein persönliches Interesse besteht, kann man machen, was man will – es wird nicht funktionieren.
Die Interpretation von Barkley, Hyperfokus sei eine Form von Perseveration, also eine Form von Begleitstörung, teilen wir nicht. Eine Störung erfordert stets einen subjektiven Leidensdruck der Betroffenen. Den Hyperfokus empfindet kaum ein ADHS-Betroffener als belastend. Als belastend wird allenfalls die damit einhergehende eingeschränkte Fähigkeit zu Taskwechseln beschrieben, was aber vom Hyperfokus selbst zu unterscheiden ist.
Zudem widerstrebt es uns, etwas, das zu stundenlanger konzentrierter Arbeit befähigt, wenn das Thema nur spannend genug ist, als “Begleitstörung” zu bezeichnen. Der Hyperfokus ist vielmehr eine gesunde Reaktion auf ein intensives Interesse. Wir interpretieren das erhöhte Auftreten von Hyperfokus bei ADHS-Betroffenen als Hinweis darauf, dass die Interessenintensität bei ADHS von Nichtbetroffenen abweicht. Sie kann deutlich geringer sein (was Aufmerksamkeitsprobleme zur Folge hat) oder deutlich erhöht (was Taskwechselprobleme oder einen Hyperfokus zur Folge hat).
4.3.3. Konzentrationsprobleme als ADHS-Symptome¶
Konzentration ist die zielgerichtete Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand über einen längeren Zeitraum, im Gegensatz zur Ablenkbarkeit bei Aufmerksamkeitsproblemen.
Konzentrationsprobleme können aus einer zu geringen Aufmerksamkeitsspanne resultieren. Diese zu geringe Aufmerksamkeitsspanne scheint unabhängig von den Problemen der Ablenkbarkeit zu bestehen.
Konzentrationsprobleme sind ein Hauptsymptom von ADHS. Probleme damit, bei Aufgaben oder Freizeitaktivitäten länger die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, ist eines der 9 treffsichersten Symptome von ADHS bei Erwachsenen. Nach anderer Auffassung seien Konzentrationsprobleme im Vergleich zu Aufmerksamkeitsproblemen bei ADHS weniger anzutreffen.
Eine Folge einer verkürzten Aufmerksamkeitsspanne kann sein, dass die Betroffenen es vermeiden oder eine Abneigung dagegen haben, sich mit Aufgaben zu beschäftigen, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern. Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne erhöht zugleich die Schwierigkeiten, Anweisungen bis zum Ende zu folgen.
4.4. Ursache von Aufmerksamkeitsproblemen bei ADHS – Motivationsprobleme?¶
Die grundsätzliche (technische) Funktionalität der Aufmerksamkeit und der Aufmerksamkeitslenkung ist bei ADHS nicht beeinträchtigt. Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS sind Folge einer anderen Motiven folgenden Aufmerksamkeits- und Motivationslenkung. Das Regime, die Maßstäbe, anhand derer die Aufmerksamkeitslenkung erfolgt, ist verändert. Sie entspricht der von Menschen, die extremen, lebensbedrohlichen Stressoren unterliegen und ist insofern “technisch” gesund, als ein solches Reaktionsmuster bei existenzieller Bedrohung Überlebens-hilfreich ist. Man kann die veränderte Aufmerksamkeit als eine gesunde Reaktion auf starke Stressoren betrachten, so wie Fieber eine gesunde Immunantwort auf Erreger ist. Die Störung bei ADHS liegt darin, dass dieses Aufmerksamkeitsregime angewendet wird, obwohl keine adäquaten Stressoren bestehen. Vergleichbar wäre in diesem Bild eine Fieberreaktion ohne einen vorhandenen Erreger oder Auslöser.
Kinder mit ADHS zeigen oft normale Aufmerksamkeitsfähigkeiten, wenn sie Dinge tun, die sie mögen (intrinsische Motivation), haben aber Schwierigkeiten bei extern gestellten Anforderungen, die nicht ihr Interesse wecken (extrinsische Motivation). Die Steuerung unterliegt verstärkt persönlichen Motiven. Nicht die grundsätzliche Fähigkeit zur Aufmerksamkeit ist gestört, sondern die Fähigkeit, diese zu steuern (auf etwas zu lenken ebenso wie von etwas zu lösen).
Dieses Muster erinnert an “Kinesia paradoxa” bei Parkinson. Parkinsonbetroffene mit schwersten Bewegungseinschränkungen, aufgrund derer sie sich kaum noch bewegen - geschweige denn laufen - können, können z.B. in schweren Gefahrensituationen (die naturgemäß eine hohe intrinsische Motivation hervorrufen) plötzlich in der Lage sein, sich fließend zu bewegen und sogar aus Gefahrenbereichen wegzurennen.
Ein Betroffener: “Der Satz – Siehst Du, Du kannst doch, wenn Du willst – ist einer der meistgehörten Sätze meiner Kindheit und Jugend. Es war furchtbar: ich wollte ja, aber ich konnte einfach nicht. Erst ab einem bestimmten Level – sei es an Interesse oder sei es an Ärger mit meinen Eltern – brachte ich es endlich fertig, das zu tun, was ich ja eigentlich auch wollte, was mich aber zu meinem eigenen Leid so wenig interessierte: Hausaufgaben hinter mich bringen, oder andere langweilige Dinge erledigen. Und natürlich fühlte ich mich dafür unendlich schuldig.”
ADHS schwankt zwischen einer zeitweilig verringerten Ablenkbarkeit (Taskwechselprobleme oder, eher selten, der sogenannte Hyperfokus) und einer zeitweilig erhöhten Ablenkbarkeit. Wann welche Abweichung auftritt, hängt entscheidend davon ab, ob ein ausreichendes persönliches Interesse an der gerade ausgeübten Tätigkeit oder Beschäftigung besteht. ADHS-Betroffene benötigen höhere Anreize, um dasselbe Maß an Motivation verspüren zu können wie Nichtbetroffene. Sind intrinsische Interessen oder extrinsische Anreize wie z.B. Belohnungen hoch genug, um die Motivation auszulösen, ist die Aufmerksamkeitsleistung und die Inhibitionsleistung von ADHS-Betroffenen zuweilen nicht mehr von der Nichtbetroffener zu unterscheiden.
Das Modell der intrinsischen und extrinsischen Motivation korreliert grob mit der Unterscheidung zwischen automatischer (passiver) Aufmerksamkeit und gesteuerter Aufmerksamkeit. Automatische Aufmerksamkeit wird insbesondere durch neuartige Reize (unbekannte oder unerwartete in einer bestimmten Umgebung) und Signalreize (in der Regel emotionale: bekannte und sogar erwartbare, aber für das Individuum kritische Reize, wie Nahrung, Paarungspartner oder Gefahr) ausgelöst. Die automatischen Aufmerksamkeitsmechanismen laufen unbewusst und reizgesteuert ab (Bottom-up) und scheinen in der Gehirnregion des ACC beheimatet zu sein.
Gelenkte Aufmerksamkeit (directed attention) wird Top-down gesteuert und ist mit Konzentration und Anstrengung bei schwierigen oder wenig interessanten Aufgaben verbunden (z.B. Steuererklärung, Badezimmer putzen, langweilige Hausaufgaben). Gesteuerte Aufmerksamkeit wird durch Exekutivfunktionen vermittelt, die nicht automatisch abgerufen, sondern kognitiv koordiniert werden. Exekutivfunktionen sind bei ADHS gestört.
Unaufmerksamkeit kann – insbesondere bei Erwachsenen – durch Angst oder zwanghafte Copingstrategien maskiert sein.
4.5. Altersentwicklung von Aufmerksamkeitsproblemen bei ADHS¶
Aufmerksamkeitsprobleme treten nicht bereits im Kindergarten oder den ersten Schuljahren auf. Manche Quellen nennen sogar 14 oder 15 Jahre für die Erstmanifestation. Eine sehr frühe Erstmanifestation von Aufmerksamkeitsproblemen wird bei fetalem Alkoholsyndrom beschrieben.
Aufmerksamkeitsprobleme remittieren im Erwachsenenalter seltener und schwächer als Hyperaktivität und Impulsivität. Die Ansicht, Aufmerksamkeitsprobleme würden im Erwachsenenalter stets unverändert hoch bleiben halten wir daher in dieser dogmatischen Formulierung für fraglich.
4.6. ADHS ohne Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme¶
Aufmerksamkeitsprobleme sind eines der auffälligsten ADHS-Symptome nach Hyperaktivität.
Dennoch liegen diese nicht bei allen Betroffenen vor. DSM IV, der (anders als der aktuelle DSM 5) noch Subtypen definierte, beschrieb mit dem ADHS-HI-Subtyp Betroffene, die vorwiegend hyperaktiv-impulsive Symptome und kaum Aufmerksamkeitsprobleme hatten. Dieser Subtyp ohne Aufmerksamkeitsprobleme ist vornehmlich bei Kindern anzutreffen und dürfte häufig eine Vorstufe zu ADHS-C sein. Denn grundsätzlich werden Aufmerksamkeitsprobleme aufgrund der Gehirnentwicklung des Menschen erst im Alter ab 7 Jahren, nach mancher Auffassung sogar erst im Alter ab 14 oder 15 Jahren erkennbar, es sei denn als Symptom anderer Störungen, z.B. bei fetalem Alkoholsyndrom.
Dies wurde zuweilen so interpretiert, dass der reine ADHS-HI-Subtyp (nur Hyperaktivität, keine Unaufmerksamkeit) nur bis zu diesem Alter auftrete. Wir vermuten eher, dass der reine ADHS-HI-Subtyp zwar bei Kindern häufig eine Vorstufe zu ADHS-C darstellt, es unter Erwachsenen aber immer noch einen nennenswerten Anteil (knapp 10 %) an Betroffenen ohne starke Aufmerksamkeitsprobleme gibt, jedoch mit erheblichen übrigen ADHS-Symptomen.
Von 1433 Probanden unseres ADxS.org-Symptomtest (Stand Juni 2020) mit einem positiven ADHS-Test(Screening)-Ergebnis (davon 1390 20 Jahre und älter) wurden bei 102 (7,1 %) keine Konzentrations-/Aufmerksamkeitsprobleme gefunden (davon 1 jünger als 20 Jahre). 21 (1,5 %) zeigten keine Ablenkbarkeit, 162 (11,3 %) keine Taskwechselprobleme.
Bei den Nicht-ADHS-Betroffenen war die Quote der von Ablenkbarkeit Betroffenen deutlich höher als bei Konzentrationsproblemen oder Taskwechselproblemen, sodass die Diagnostikgenauigkeit (die Differenz der Maße von Konzentrationsproblemen, Ablenkbarkeit und Taskwechselproblemen) zwischen ADHS-Betroffenen und Nichtbetroffenen jeweils ungefähr gleich war.
Umstritten ist, ob einmal aufgetretene relevante Probleme mit Unaufmerksamkeit im Erwachsenenalter wieder nachlassen oder remittieren können. Wenn ADHS nicht zwingend lebenslang fortbesteht, also bei 30 % aller im Kindesalter Betroffenen im Erwachsenenalter zumindest so weit remittiert, dass keine Diagnose mehr gegeben werden kann, remittiert damit zwar nicht zwingend zugleich auch die Unaufmerksamkeit. Statistische Daten bestätigen, dass Unaufmerksamkeit seltener remittiert als Hyperaktivität bzw. dass das Nachlassen der Symptomschwere bei Unaufmerksamkeit niedriger ist. Gleichwohl wurde bei 18-20-jährigen, die noch ADHS hatten, bei 10 bis 15 % eine Remission der Aufmerksamkeitsprobleme festgestellt. Eine Studie an 144 Erwachsenen, bei denen als Kinder ADHS diagnostiziert worden war, stellte bei 3,3 % eine rein hyperaktive ADHS-Form fest, also Hyperaktivität ohne Aufmerksamkeitsprobleme.
Möglicherweise ist die Unaufmerksamkeit eines der Symptome, das am längsten zu spürbaren Beeinträchtigungen beiträgt.
Wir kennen etliche Betroffene, die zwar eine große Fülle der typischen ADHS-Symptome zeigen und auch auf Stimulanzien positiv ansprechen, im Bereich der Aufmerksamkeit jedoch wenig bis keine Probleme haben. Betroffene, die mehrere Symptome eines überreagiblen (d.h. der äußeren Situation unangemessen überreagierenden) Stressreaktionssystems zeigen, leiden an den verbleibenden Symptomen auch dann, wenn Aufmerksamkeitsprobleme nicht darunter sind.
Zweifelsfrei gibt es (ehemals) Betroffene, bei denen die Unaufmerksamkeit und die Hyperaktivität ihrer Kindheit und Jugend remittiert sind. Denn nur bei etwa 50 % aller Betroffenen bleiben die Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen.
Unbestritten gibt es Betroffene, die keinerlei Hyperaktivität haben (ADHS-I).
Andersherum:
Hyperaktivität wandelt sich im Erwachsenenalter meist zu einem inneren Getriebensein. Dies ist etwas weniger unangenehm auffällig, jedoch für die Betroffenen nicht minder belastend.
Menschen, die als Kinder und Jugendliche eine reine ADHS-HI (ohne Aufmerksamkeitsprobleme) hatten, und deren Hyperaktivität sich erwachsenentypisch zu einer reinen inneren Unruhe gewandelt hat und somit nun nicht mehr durch Hyperaktivität negativ auffallen, und seit jeher keine Aufmerksamkeitsprobleme hatten, mögen für ihre Umgebung angenehmer sein und stehen deshalb wahrscheinlich häufiger nicht im Verdacht einer belastenden Störung. Sofern die Belastung durch die übrigen Symptome jedoch weiterbesteht, haben auch diese Menschen ein Recht auf Hilfe und Behandlung.
Wir vertreten daher die Hypothese, dass es einen (kleinen) Kreis von ADHS-Betroffenen gibt, bei denen Aufmerksamkeitsprobleme eher schwach ausgeprägt sind oder auch ganz nachgelassen haben. Die von einigen Ärzten und Therapeuten betriebene Testdiagnostik, die allein auf Daueraufmerksamkeitsfehler abzielt, oder die ADHS ohne Aufmerksamkeitsprobleme ausschließt ist deshalb nach diesseitiger Auffassung irreführend und könnte knapp 10 % der Erwachsenen ADHS-Betroffenen nicht erfassen.
Entscheidend ist nach diesseitiger Auffassung nicht, ob bestimmte einzelne Symptome des Symptomclusters vorhanden sind, sondern ob
- eine große Menge der Symptome aus der Symptomgesamtheit auftreten
und
- deren Auftreten unabhängig (außerhalb) von akuten Stresssituationen (z.B. Mobbing, familiäre Probleme) eine Diagnose rechtfertigt.
Dies entspricht dem von Barkley dargestellten Modell, wonach sich ADHS-Betroffene von Nichtbetroffenen recht zuverlässig anhand der Anzahl des häufigen Auftretens von 18 Symptomen identifizieren lässt. Siehe hierzu den Text in der Einleitung dieses Beitrages.
In aller Regel sind Aufmerksamkeitsprobleme ein zentrales Symptom von ADHS. Doch auch wenn dies eher die Ausnahme ist, sollte die Möglichkeit von ADHS ohne Aufmerksamkeitsprobleme auch bei Erwachsenen nicht außer Acht gelassen werden.
⇒ Neurophysiologische Korrelate von Aufmerksamkeitsproblemen bei ADHS
4.7. Aufmerksamkeitsprobleme als Stresssymptome¶
Ablenkbarkeit, Aufmerksamkeitsprobleme und Störanfälligkeit sind typische Symptome von schwerem Stress. Konzentrationsstörungen sind ein typisches Symptom von schwerem Stress, auch außerhalb von ADHS.
Fast jede psychische Störung geht mit Aufmerksamkeitsproblemen einher, z.B.:
- Depressionen
- Psychose
- Tourette
- Manie
- Panikstörungen
- Zwangsstörungen
Stress verringert die willentliche Steuerungsfähigkeit der Aufmerksamkeit (das “searchlight of attention”). Im Extremfall eines Schocks ist die Steuerbarkeit nahezu aufgehoben.
Eine verständliche Übersicht über Aufmerksamkeit findet sich unter http://www.neuropaedagogik.de/html/aufmerksamkeit.html.