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15. Langzeiteffekte: Keine Gewöhnungseffekte bei MPH¶
Eine Studie an ADHS-Betroffenen, die über 2 Jahre MPH einnahmen, zeigte eine deutliche Verschlechterung von Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit bei Absetzung von MPH, was einem Wiederauftreten der durch MPH verbesserten Symptome entspricht.1
Ein placebokontrollierter Auslassversuch bei Betroffenen, die über 2 Jahre MPH eingenommen hatten, zeigte, dass ein Absetzen von MPH einen erheblichen Anstieg der ADHS-Symptome verursachte.2 Gleichwohl scheint bei einzelnen Betroffenen nach einiger Zeit eine Fortsetzung der Medikation entbehrlich zu sein, was regelmäßige Auslassversuche rechtfertigt.
Eine Metaanalyse von 87 randomisierten placebokontrollierten doppelblinden Studien fand keine Hinweise auf ein Nachlassen der Wirkung von Methylphenidat, Amphetaminmedikamenten, Atomoxetin oder α2-Antagonisten bei längerer Einnahme.3
Eine Metastudie fand nur eine RCT, die die Wirkung einer Einzeldosis MPH mit der Wirkung einer längeren Einnahme (hier: 4 Wochen) verglich. Diese RCT fand eine signifikante Übereinstimmung der Wirkung einer Einzeldosis mit der Wirkung einer längeren Einnahme. Dies ist für die Bewertung von Studien über die Wirkung von Einzeldosen von MPH relevant.4
Eine Studie beobachtete einen höheren Dopaminanstieg im ventralen Striatum (u.a. Nucleus accumbens) bei Frauen als bei Männern. Der Anstieg im dorsalen Striatum war gleich.5
17. Anwendungsbereiche von Methylphenidat im Verhältnis zu anderen ADHS-Medikamenten¶
Nach dem aktuellen europäischen Konsensus ist Methylphenidat das ADHS-Mittel erster Wahl bei Kindern (vor Amphetaminmedikamenten) und bei Erwachsenen das Mittel zweiter Wahl (nach Amphetaminmedikamenten)67
Bei Kindern, die MPH-Nonresponder sind, die also auf MPH nicht ansprechen, ist die Wirksamkeit von Amphetaminmedikamenten zu testen.
Betroffene mit ausgeprägter Dysphorie bei Inaktivität oder mit komorbider Depression profitieren von Amphetaminmedikamenten besonders.
Daneben können Betroffene, die eine stärkere Aktivierung benötigen, mit Amphetaminmedikamenten möglicherweise besser zurechtkommen.
Hochbegabte sollen auf Amphetaminmedikamente besser ansprechen als auf MPH.8
Der aktualisierte europäische Konsensus über die Diagnose und Behandlung von ADHS von 2018 kommt zu dem Ergebnis, dass Stimulanzien während ihrer Einnahme das Risiko einer Sucht deutlich verringern.12 ADHS-Betroffene mit komorbider Kokainsucht zeigten bei Behandlung mit Stimulanzien eine erhebliche Verringerung des Suchtverhaltens. Diese entsprach dem Rückgang der ADHS-Symptome.13
Der internationale Konsensus zu Screening, Diagnose und Behandlung von Erwachsenen mit Sucht und ADHS empfiehlt eine Behandlung mit lang wirksamen Stimulanzien mit ansteigenden Dosen bis hin zu hoher Dosierung, in Kombination mit psychotherapeutischer Behandlung.14
Eine Metaanalyse über 6 Studien mit n = 1.014 Probanden ergab für die mit Stimulanzien (hier: MPH) medikamentierten Teilnehmer ein signifikant verringertes Risiko einer späteren Sucht.15 Das Risiko einer späteren Sucht, sei es durch Alkohol oder andere Substanzen, ist danach um das 1,9-fache geringer, also nahezu halbiert.16
Eine schwedische Kohortenstudie fand, dass 3 Jahre nach der Verschreibung von Stimulantien bei ADHS das Risiko einer Suchtdiagnose um 31 % verringert war.17
Diese Ergebnisse könnten dadurch gestützt werden, dass bei Jugendlichen mit ausgeprägtem Novelty-Seeking, bei denen im Alter von 14 Jahren eine verringerte verminderte BOLD-Aktivität in mesolimbischen (Nucleus accumbens (ventrales Striatum) und Mittelhirn) und präfrontalen kortikalen (dlPFC) Regionen während der Belohnungsantizipierung festgestellt wurde, im Alter von 16 häufiger ein problematischer Drogenkonsum eintrat.18 Dies könnte dahin gehend interpretiert werden, dass die den Dopamin- und Noradrenalinspiegel anhebenden ADHS-Medikamente wie MPH oder Amphetaminmedikamente auf direktem Wege dazu beitragen, das Suchtrisiko zu senken.
ADHS-Medikation verringerte den Einfluss von Bevorzugung kurzfristiger Belohnungen und Frustrationsintoleranz auf Internetsucht.19
Eine Studie fand keine erhöhte Suchtaffinität von erwachsenen Nagetieren durch eine Behandlung mit MPH in der Jugend.20 Auch andere Studien fanden Hinweise darauf, dass Stimulanzien das Suchtrisiko nicht erhöhen.21
Wir meinen, dass die 2 Komponenten ADHS und Sucht in verschiedenen Personen individuell sehr unterschiedlich stark gewichtet sein können, und der Erfolg medikamentöser Behandlung stark von dieser unterschiedlichen Gewichtung abhängt. Es dürfte daher ganz wesentlich darauf ankommen, in welchem Setting eine Medikation stattfindet, und ob diese von anderen Maßnahmen flankiert und intensiv begleitet wird oder nicht. Die Erfahrung aus der Praxis eines unserer Fachbeiräte ist, dass eine reine Substanzbehandlung ohne intensive, begleitende Co-Behandlung meist nur zum Gebrauch einer zusätzlichen Substanz führt.
Zudem liegen, dass bei einer Kombination Sucht und ADHS oft weitere Komorbiditäten wie Depression etc. vor, was die Behandlung zusätzlich erschwert, da Antidepressiva bei Abusus vieler Substanzen häufig nicht mehr wirken. Daher scheint es uns für den Erfolg der Behandlung wichtig, dass bei einer Kombination von Sucht und ADHS mit einer stationären Entgiftung und Drogen-Abstinenz für die medikamentöse Einstellung begonnen wird.
“Die medikamentöse Behandlung von Patienten mit ADHS, bei denen zusätzlich ein Substanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit besteht, sollte durch einen Spezialisten mit Kenntnissen in der Behandlung von ADHS und Sucht erfolgen.”22
Schließlich ist festzustellen, dass ADHS-Betroffene oft genug Schwierigkeiten haben, die ihnen verschriebenen Stimulanzien regelmäßig und rechtzeitig einzunehmen. Würden Stimulanzien ein Suchtverhalten auslösen, wäre dies nicht der Fall. Zudem erwachen ADHS-Betroffene keineswegs morgens mit einem “Craving” nach ihren Medikamenten. Derartige Fälle werden jedoch nicht berichtet.
Die Gerüchte, dass ADHS-Medikamente ein Suchverhalten auslösen würden, sind schlicht eine Folge unzureichender Kenntnisse der Unterschiede zwischen Droge und Medikament. Ärzte, die derartige Fehlannahmen verbreiten, schaden ihren Patienten und riskieren aus derart leitlinienwidriger Beratung Arzthaftungsfälle, falls daraus Schäden entstehen.
Es gibt eine große Anzahl von Methylphenidat-Präparaten.
Obwohl alle denselben Wirkstoff enthalten, sprechen Betroffene individuell unterschiedlich auf sie an. Individuell bedeutet, dass die einen das Präparat A sehr gut vertragen und es gut wirkt, während das Präparat B kaum wirkt und unangenehme Nebenwirkungen zeigt, während bei anderen die Wirkung genau umgekehrt ist.23
Eine solide MPH-Medikamenten-Einstellung sollte daher immer die Einnahme unterschiedlicher Präparate beinhalten, auch wenn ein Präparat bereits wirkt und keine unangenehmen Nebenwirkungen hat. Denn ob ein anderes Präparat nicht noch deutlich besser wirkt, kann erst nach dessen Testung festgestellt werden.
Eine stark fetthaltige Nahrungsaufnahme vor / bei der Einnahme kann je nach Präparat das Wirkmaximum verzögern oder beschleunigen und die Wirkintensität abmildern oder verstärken.23 Für die in Europa verfügbaren Präparate liegen uns hierzu keine konkreten Daten vor.
verzögertes Wirkungsmaximum bei Einnahme zu / auf fettreicher Mahlzeit23
Wirkungsdauer 2,5 – 4 Stunden
bei zweimaliger Einnahme ist Maximum der 2. Einnahme höher als das der ersten Einnahme25
Halbwertszeit 2,9 Stunden im Mittel (2 bis 4 Stunden)23
Präparate Schweiz:
Kein unretardiertes MPH zugelassen.26, jedenfalls für Erwachsene nur die retardierten MPH-Medikamente Concerta® und Medikinet MR® sowie das retardierte Dexmethylphenidat-Medikament Focalin® zugelassen.27
Eine (einzige) Apotheke in der Schweiz stellt MPH-Tropfen her. Diese lassen sich noch leichter dosieren, sodass auch für Betroffene, die sehr geringe Dosen benötigen, wie z.B. junge Kinder, eine exakte Dosierungseinstellung möglich ist. Über eine Anwendung berichtet Ryffel.2930
Mischung aus 70 % Serdexmethylphenidat (SDX, Prodrug von Dexmethylphenidat) und 30 % Dexmethylphenidat (d-MPH) mit sofortiger Wirkstofffreisetzung (IR)
26,1/5,2mg; 39,2/7,8 mg; 52,3/10,4 mg SDX/d-MPH
13 Stunden Wirkzeit
Zulassung 2021
keine Nahrungsaufnahme mit Einnahme erforderlich, verlängert aber Wirkung
Abbau von SDX: unbekannte Enzyme
Abbau von d-MPH: CES1
keine Interaktion mit CYP2D6, CYP1A2, CYP2C8, CYP2C9, CYP2C19, CYP2E1 oder CYP3A
keine Interaktion mit Alkohol
SDX verlängert das QT-Intervall nicht in einem klinisch relevanten Maß
Der Verlauf der Wirkkurve unterscheidet sich je nach MPH-Präparat erheblich. ADHSpedia zeigt eine Grafik, die verschiedene Wirkkurven miteinander vergleicht.39
Die zeitlichen Verläufe von Wirkstoffspiegeln verschiedener MPH-Präparate lassen sich in Wirkstoffkurven abbilden und vergleichen.4041
Eine Grafik veranschaulicht den Wirkstoffspiegelverlauf von:42
Concerta
Ritalin Adult / LA
Medikinet adult
MPH unretardiert
Eine Grafik veranschaulicht den unterschiedlichen Wirkstoffspiegelverlauf von Equasym mit und ohne Nahrungseinnahme.43
Die Fachinformation Ratiopharm vergleicht den Wirkstoffspiegelverlauf von Methylphenidat-Ratiopharm 40 mg mit Ritalin LA.44
Dies zeigt, dass auch bioäquivalente Präparate nicht vollkommen identische Wirkspiegelkurven haben.
Die Fachinformation von Novartis vergleicht den Wirkstoffspiegelverlauf von Ritalin LA 40 mg mit Ritalin unretardiert 2 x / Tag.45
23. Missbrauch durch Schüler und Studenten in Prüfungsphasen¶
Studien zeigen, dass ADHS-Medikamente bei Menschen ohne ADHS die kognitiven Leistungen, z. B. die Aufmerksamkeit, nur gering verbessern kann. Eine Anhebung der schulischen Leistung wurde bei Nichtbetroffenen nicht festgestellt.46
Aufgrund des Inverted-U-Profils der Auswirkungen von Dopamin ist eine Erhöhung des Dopaminspiegels bei Nichtbetroffenen (ausgehend von einem optimalen mittleren Spiegel) grundsätzlich nachteilig. Allenfalls bei hinzutretendem schwerem chronischem Stress, der den Dopaminspiegel senkt, kann bei Nichtbetroffenen eine Dopaminsmangel entstehen, bei dem ADHS-Medikamente auch Nichtbetroffenen helfen. Wir halten es für möglich, dass dies in Examenssituationen der Fall sein könnte. So gibt es reichlich Belege für den Missbrauch von Stimulanzien durch nicht betroffene Studenten in Examenssituationen. Es gibt indes keine Berichte über eine freiwillige dauerhafte Einnahme nach Beendigung der Examen durch nicht von ADHS betroffene. (Tatsächlich haben Studenten, die missbräuchlich Stimulanzien für Prüfungsphasen nehmen, überdurchschnittlich viele ADHS-Symptome47.)
24. Wirkstoffgleiche Präparate, Apotheken und Rabattverträge in Deutschland¶
Die von allen deutschen Krankenkassen geschlossen Rabattverträge können die Behandlung von ADHS mit Methylphenidat beeinträchtigen.
Die Verträge haben in der Regel eine Laufzeit von zwei Jahre.
Für erwachsene ADHS Patienten sind in Deutschland Stand 05/2023 folgende MPH-Präparate zugelassen:
Medikinet adult
Ritalin adult
Concerta
Verschiedene Generika für Ritalin adult und Concerta
Seit 2007 sind deutsche Apotheker verpflichtet, für das eingereichte Rezept genau wirkstoffgleiche Generika herauszugeben, für die die Krankenkasse des Patienten einen Rabattvertrag abgeschlossen haben. Bei einem BTM-Rezept muss zudem die genaue Stückzahl sowie die Wirkdauer des Ersatzpräparates identisch sein.
Ausgenommen hiervon sind Medikamente, die in der Substitutionsausschlussliste verzeichnet sind. MPH-Präparate stehen bisher nicht auf dieser Liste.
Medikinet adult wird derzeit nicht ausgetauscht, da es kein Alternativpräparat mit gleicher Stückzahl und Darreichungsform gibt.
Ritalin adult und Concerta unterliegen verschiedenen Rabattverträge, sodass Apotheken diese gegen das Rabattarzneimittel austauschen müssen.
Dieser Austausch kann von den Ärzten nur verhindert werden, wenn auf dem Rezept „Aut Idem“ (“Oder das Gleiche”) angekreuzt wird. Das Kreuz gilt hier als durchgestrichen und führt so zu “Non Idem” (“Nicht austauschen”). Ein durchgekreuztes “Aut Idem” erhöht für die Ärzte jedoch das Risiko von Regressforderungen seitens der Krankenkassen.
Es besteht die Möglichkeit, gegen Aufpreis das gewünschte Medikament zu erhalten. In diesem Fall ist in der Apotheke der volle Preis des entsprechenden Präparats zu zahlen. Der Patient erhält von der Krankenkasse den Preis des rabattierten Generikums erstattet, abzüglich eines Verwaltungskostenbeitrages und eines Abschlages für individuell mit dem Hersteller ausgehandelte Rabatte der Krankenkasse.
Die einzelnen Präparate unterscheiden sich oft auch bei gleicher Dosis hinsichtlich Bioverfügbarkeit, Wirkung, Wirkdauer und Nebenwirkungen.
Oft ist es ein längerer Weg, bis das individuell passende Präparat und die für den Patienten richtige Dosierung gefunden wird. Wird ein Präparat aufgrund eines Rabattvertrages ausgetauscht, kann dies deutliche Konsequenzen für die Therapie, bis hin zu Therapieabbrüchen haben.
Vor diesem Hintergrund ist eine Aufnahme von Stimulanzien auf die Substitutionsausschlussliste dringend geboten.
Methylphenidathaltige Arzneimittel können - insbesondere bei Immunoassay-Methoden - zu einem falsch positiven Laborwert für Amphetamine führen.48
26. Verschiedene MPH-Präparate wirken individuell verschieden – trotz identischem Wirkstoff¶
Bisher wissenschaftlich nicht begründet, jedoch empirisch zweifelsfrei anerkannt ist die Tatsache, dass Methylphenidat-Präparate bei verschiedenen Individuen sehr unterschiedlich wirken können.49 Wir vermuten einen Zusammenhang mit den unterschiedlichen Wirk(zeit)profilen und verschiedenen Füllstoffen.
Wir kennen Betroffene, die auf das eine MPH-Präparat mit Aggressionen reagierten und auf ein anderes Präparat ganz hervorragend ansprachen – und andere Betroffene, die mit genau vertauschten Reaktionen auf die beiden Präparate reagierten.
In Betroffenenforen ist das Phänomen weithin bekannt und das Testen verschiedener MPH-Präparate wird von Betroffenen untereinander regelmäßig empfohlen.
Unter Erwachsenen wird allerdings seit der Zulassung von Elvanse Adult im Mai 2019 Methylphenidat mehr und mehr durch Elvanse ersetzt. Bei Erwachsenen sind Amphetaminmedikamente das Mittel erster Wahl vor Methylphenidat.
Eine detaillierte grafische und erläuterte Darstellung des Wirkwegs von Methylphenidat findet sich bei www.pharmgkb.org.50 Eine weitere umfassende Darstellung von Methylphenidat findet sich bei drugbank.com.51