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Nimmt die Häufigkeit von ADHS zu?

Inhaltsverzeichnis

Nimmt die Häufigkeit von ADHS zu?

Bei der Frage, ob ADHS zunimmt, muss unterschieden werden zwischen der Häufigkeit von ADHS als Störung und der Häufigkeit der Diagnose von ADHS. Eine Störung kann auch existieren, wenn sie nicht (oder zu wenig) diagnostiziert wird, eine Diagnose kann auch diagnostizieren, was nicht existiert.

Die Diagnosehäufigkeit von ADHS (und der Verbrauch von Methylphenidat (“Ritalin”)) hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Diese Zunahme ist indes keine Besonderheit von ADHS. Vielmehr hat die Aufmerksamkeit für, und die Akzeptanz von psychischen Störungen insgesamt zugenommen, was sich in einer ganz allgemein erhöhten Medikation in Bezug auf psychische Störungen niederschlägt. Die Häufigkeit der Verschreibung von Stimulanzien wächst sogar deutlich geringer als diejenige von Antidepressiva, Antipsychotika oder Angstmedikamenten (hier: in Neuseeland).1

1. ADHS ist bekannter geworden, nicht häufiger

Die Störung ADHS gibt es schon sehr lange – wahrscheinlich gab es sie schon immer. Mehr hierzu unter Historische Beschreibungen von ADHS im Beitrag ADHS – verschiedene Erklärungsmodelle früher und heute im Kapitel Entstehung.
In den 70er-Jahren war diese Störung indes wenig bekannt. Was nicht bekannt ist, kann nicht diagnostiziert werden. Gleichwohl nannte Wender bereits 1971 eine Prävalenz bei Schulkindern zwischen 5 und 10 %.2
Dass ADHS auch Erwachsene betrifft, ist erst seit dem Jahrtausendwechsel deutlich geworden.
In 5 Pädiatrischen Zeitschriften war zwischen 2002 und 2019 ADHS das zweithäufigste Thema.3
Durch die steigende Bekanntheit und die intensive Erforschung wurde das Wissen um und über ADHS immer verbreiteter. Die Erfahrung, dass Betroffene durch geeignete Medikamente und Therapien ein sehr viel besseres Leben erhalten können, hat sich verbreitet.

2. ADHS gibt es nicht häufiger, ADHS wird besser erkannt

Mit wachsendem Wissen um ADHS, das anfangs nur in extremen Fällen erkannt wurde, wurden immer weitere Störungsauswirkungen verstanden. Dieses gewachsene Wissen spiegelt sich in den Änderungen der statistischen Erfassungskataloge DSM und ICD wider.

Zu glauben, dass durch eine Änderung der Kriterien der statistischen Manuals eine Krankheit oder Störung zunimmt, ist jedoch irreal. Ob in einem Glas Erdbeermarmelade ist, entscheidet sich nicht anhand des Aufklebers. Selbst die Entscheidung, auch Mischungen aus 70 %-Erdbeer- und 30 %-Himbeermarmelade als Erdbeermarmelade zu bezeichnen, ändert allenfalls die Wahrnehmung von außen, nicht aber den Inhalt, der schon immer si war, wie er war. Das Leiden Betroffener ändert sich nicht durch eine neue Bezeichnung. Behandlungen, die keine Verbesserung der Lebensumstände der jeweils Betroffenen bewirken, disqualifizieren sich von selbst, unabhängig davon, welcher Aufkleber verwendet wurde.

Die Diagnose ADHS wird auch zukünftig noch erheblich häufiger werden, weil es etliche Erscheinungsformen von ADHS gibt, die noch nicht im Bewusstsein der Ärzte, Therapeuten, Lehrer, Eltern und Betroffenen angekommen sind.

Es ist kein Geheimnis, dass der Subtyp ADHS-I (ohne Hyperaktivität) aufgrund seiner internalisierten Symptomausprägung seltener diagnostiziert wird. Zum einen haben Eltern bei Kindern mit ADHS-I weniger Leidensdruck, einen extrem störenden Familienzustand zu beseitigen, als bei Kindern mit ADHS-HI. Zum anderen sind viele Ärzte und leider auch ADHS-Spezialisten noch erschreckend schlecht über die spezifische Symptomatik des ADHS-I-Subtyps informiert. Die Quote der falsch-negativen Diagnosen ist hoch.

Bis vor einigen Jahren war nahezu unbekannt, dass auch Erwachsene ADHS haben können.
Selbst heute noch ist vielen Ärzten nicht bekannt, dass sich die Symptome von ADHS verändern, wenn Betroffene älter werden. Die Kriterien des Statistikmanuals DSM IV zu ADHS bezogen sich ausschließlich auf Kinder, wie der an der Erstellung dieser Kriterien beteiligte ADHS-Spezialist Russel Barkley bestätigt. Barkley selbst hat Diagnosekriterien für Erwachsene entwickelt, die die Symptomatik bei Erwachsenen deutlich besser abbilden.

2.1. Die Diagnosetechniken für ADHS werden besser

Während lange nur mit der Erfahrung des Arztes, dann mit Fragebögen und schließlich immerhin mit Tests diagnostiziert wurde, stehen neue, objektivere Diagnosemethoden vor der Tür.

Die Diagnose mittels evozierter Potenziale, die bei standardisiertes Computertestaufgaben gemessen, mit statistischen mathematischen Mitteln aufbereitet und mit QEEG-Datenbanken abgeglichen werden, hat bereits heute eine Genauigkeit von 89 % erreicht (was der Diagnosegenauigkeit von geschulten Diagnostikern und klinischen ADHS-Experten entspricht). Genaueres hierzu unter ADHS-Diagnose und unter Neurofeedback. Da die Diagnosegenauigkeit der QEEG-Datenbanken mit der Menge der diagnostizierten Betroffenen weiter wächst, ist zu hoffen, dass sich hier in den kommenden Jahren ein objektives Diagnoseinstrument entwickelt.

Stand heute sind Diagnosemethoden anhand von Symptomen jedoch immer noch überlegen.

2.2. Die Behandlungsmöglichkeiten für ADHS werden besser

Wachsende Erfolge in der Behandlung von ADHS (bessere Medikamente, wachsendes Wissen zur Dosierung, Therapieinstrumente) machen es sinnvoller, die Störung als solche zu diagnostizieren.

3. Häufigere Verschreibung von ADHS-Medikamenten bei gleichbleibenden Verschreibungsmaßstäben

Eine Studie untersuchte, ob die Zunahme der Verschreibung von Methylphenidat, dem häufigst verwendeten ADHS-Medikament, zwischen mit veränderten Verschreibungsmaßstäben einherging. Das Ergebnis zeigte, dass sich die Maßstäbe der Verschreibung trotz der insgesamt zunehmenden Verschreibung zwischen 2008 und 2012 nicht geändert hatten.4 Demnach beruht die Zunahme der Verschreibung von MPH bei ADHS nicht auf einer lockereren Verschreibungspraxis, sondern dürfte allein der Tatsache zuzuschreiben sein, dass Ärzte heute ADHS häufiger erkennen.

4. Medienkonsum verursacht kein ADHS, aber macht ADHS sichtbarer

Um es ganz unmissverständlich auszudrücken: Wachsender Medienkonsum verursacht kein ADHS.
Vermutlich sind ADHS, Hyperaktivität und Impulsivität kausale Ursachen für einen problematischen Medienkonsum.5

Wachsender Medienkonsum bewirkt allerdings, dass der zu weit offene Reizfilter einer bereits bestehenden ADHS (noch schneller) überlastet wird und der Betroffene dadurch in Stress gerät.

Im Einzelnen:

ADHS beinhaltet einen zu weit offenen Reizfilter. Die Betroffenen können überflüssige Reize schlecht aussortieren, weshalb ihr Gehirn leichter überlastet wird. In den letzten 100 Jahren hat sich die Menge der Reize, die ein Mensch täglich aufnimmt, vervielfacht.
Während vor 100 Jahren noch die meisten Wege zu Fuß zurückgelegt wurden, beschleunigte die Motorisierung den Verkehr (und damit das Lebenstempo). Was danach kam:

  • 1895: erste Kinovorführungen
  • 1900: Kinos in Schaubuden
  • 1920er-Jahre: Kinopaläste entstehen in vielen Städten
  • 1930er-Jahre: Radio
  • 1940er-Jahre: Langspielplatte und Single
  • 1950er-Jahre: Fernsehen
  • 1960er-Jahre: Stereoschallplatte, 2 Fernsehprogramme in D, Farbfernsehen, Tonbandgerät
  • 1970er-Jahre: Fernsehen als Massenkonsumgut, erste Videospiele (Pong)
  • 1980er: Musikabspielgeräte (Kassettenrekorder, Walkman, CD-Spieler), Homecomputer, Mikrowelle, Gameboy, Tageslichtprojektoren, Kopierer, Teletext, Privatfernsehen (1984), MTV (1981 in den USA, 1987 in D)
  • 1990er: Bezahlfernsehen (Premiere), E-Mail, Internet (Modem/ISDN), digitale Anrufbeantworter, Faxgeräte, Mobiltelefone (GSM-Standard), SMS, Farbkopierer
  • 1996: 5,5 Mio. Mobilfunkanschlüsse in D, 0,1 Milliarden SMS in D (1,25 SMS/Einwohner/Jahr; 18 SMS/Handyvertrag/Jahr)
  • 2000: Breitband-Internet, MP3 Player, Handys für jeden, hunderte TV-Kanäle, Beamer, DVD, Digitalkameras, Videospiele, GPS und Navigationsgeräte; 48 Mio. Mobilfunkanschlüsse in D, 10 Milliarden SMS in D (125 SMS/Einwohner/Jahr; 208 SMS/Handyvertrag/Jahr)
  • 2007: Mobiles Internet, Smartphones.
  • 2010: Tablets, LTE, 3-D-Fernsehen, E-Bikes, 108 Milliarden Mobilfunkanschlüsse in D (40 Milliarden SMS in D, (500 SMS/Einwohner/Jahr; 370 SMS/Handyvertrag/Jahr)
  • 2012: 60 Milliarden SMS in D (danach Rückgang zugunsten Mails u.a.) (750 SMS/Einwohner/Jahr)
  • 2016 waren es nur noch 12,7 Milliarden SMS, die zwischenzeitlich durch Internetnachrichten (WhatsApp etc.) abgelöst wurden.

Diese Entwicklung kann nicht umgekehrt werden.

Insgesamt hat sich der Medienkonsum zwischen 1970 und 2014 in etwa verdreifacht. Selbst der an sich erstaunlich anpassungsfähige Homo sapiens dürfte bei diesem Tempo zuweilen überfordert sein.

ADHS ist temporär zu beheben, wenn Betroffene in einer sehr reizarmen Umgebung leben. Die Symptome kehren indes sofort und unverändert stark wieder, wenn sie in eine normale Umgebung zurückkehren.
Alle ADHSler auf einsame Berghütten zu verfrachten, ist sicherlich keine praktikable Lösung. Ebenso wenig macht es Sinn, Kinder von Medien fernzuhalten oder ihnen “nur” den Medienkonsum zu gestatten, wie er in der Elterngeneration üblich war: Dies würde zwar den momentanen Stress reduzieren, dürfte jedoch zugleich die Anpassungsleistung des Gehirns unterbinden, die erforderlich ist, um das Kind auf die Medienintensität vorzubereiten, die es in seinem späteren Leben zu erwarten hat. Der in den kommenden Jahrzehnten weiter wachsende Medienkonsum würde derart “künstlich” reizarm aufgewachsene Betroffene wahrscheinlich noch weiter überfordern. Zudem träte eine Ausgrenzung durch mangelnde Medienkompetenz hinzu, die ebenfalls massiven Stress verursachen würde – dann das nicht dazu gehören ist der stärkste Stressor, den es überhaupt gibt.