Die Stresshormone der HPA-Achse (CRH, Vasopressin, ACTH) vermitteln nicht nur Immunreaktionen, sondern auch Verhaltensweisen. Diese Verhaltenstrigger der Stresshormone erklären einige der ADHS-Symptome, jedoch vermutlich nicht alle.
Proinflammatorische und antiinflammatorische Zytokine des Immunsystems, die durch die verschiedenen Stresshormone aktiviert werden, weisen ebenfalls Verhaltensaspekte auf. Die Vermittlung von Verhaltensauswirkungen durch Entzündungsreaktionen basiert auf verschiedenen neurophysiologischen Mechanismen. Dazu gehören die Aktivierung von Gliazellen, neuronale Schäden, erhöhter oxidativer Stress, verringerte BDNF-Spiegel, Störungen der Blut-Hirn-Schranke und veränderte Neurotransmitter-Stoffwechsel wie Serotonin, Dopamin, Noradrenalin und Glutamat. Die Auswirkungen auf diese Systeme führen zu Veränderungen von Motivation, Motorik, Angst, Erregung und Alarmbereitschaft.
Entzündungen haben direkten Einfluss auf das dopaminerge System und vermindern die Dopaminspiegel im Gehirn. Dopamin beeinflusst seinerseits die Freisetzung von entzündungsbezogenen Zytokinen. Entzündungsprozesse können über den Glutamathaushalt oxidativen Stress und neurotoxische Effekten verursachen. Ein Mangel an Tetrahydrobiopterin (BH4), einem Enzym-Kofaktor, der für die Synthese von Serotonin und Dopamin erforderlich ist, kann zu einer Beeinträchtigung der Serotoninsynthese führen.
Bei etlichen neuropsychiatrischen Störungen sind Entzündungsmarker erhöht:
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ADHS
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ASS
- Depression
- bipolare Störung
- posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD)
- Zwangsstörung
- Tourette-Störung
- Schizophrenie
Weiter fanden sich Korrelationen zwischen atopischen Immunsystemlagen und ADHS.
Eine erhöhte Reaktionsintensität des Immunsystems könnte zu einem größeren Rückzugsverhalten führen. Immunsystemaktivierungen aufgrund von Infekten führen zu sozialem Rückzug. Bei Menschen mit hohem sozialem Rückzugsverhalten fand eine (sehr kleine) Studie eine erhöhte Immunaktivierung proinflammatorischer Zytokine bei zugleich verringerter B-Lymphozytenfunktion und IFN-α-Reaktion. Entzündungshemmende Glucocorticoid-Antwortelemente waren verringert und Antwortelemente für proinflammatorische NF-κBRel-Transkriptionsfaktoren waren erhöht. Dies könnte sich evolutionsbiologisch dadurch begründen, dass eine höhere Reaktivität des Immunsystems mehr Ressourcen kostet. Da jede Aktivierung der Immunabwehr Aufwand erfordert, wäre es schlüssig, wenn Individuen mit einer leichter/schneller aktivierten Immunabwehr eher Abstand zu Infektionsherden (anderen Individuen) halten als diejenigen mit einem geringeren Risiko einer (aufwandsträchtigen) Immunsystemaktivierung. Daraus könnte gefolgert werden, dass Sozialphobie mit einem leicht aktivierbaren Immunsystem korreliert.
Indes haben Individuen mit hoher Extraversion ein stärker aktiviertes Immunsystem als Individuen mit hoher Verträglichkeit. Eine weitere Studie fand eine erhöhte proinflammatorische Genexpression für Extraversion, während sie für Gewissenhaftigkeit verringert war.
1. Neurophysiologische Mechanismen der Vermittlung von Verhaltensauswirkungen durch Entzündungsreaktionen¶
Als grundsätzliche neurophysiologische Mechanismen der Vermittlung von Verhaltensauswirkungen durch Entzündungsreaktionen werden diskutiert:
- Glia-Aktivierung
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neuronale Schäden und Neurodegeneration
- erhöhter oxidativer Stress
- verringerte BDNF-Spiegel
- Störungen der Blut-Hirn-Schranke
- veränderte Neurotransmitter-Stoffwechsel
2. Verhaltensveränderungen durch Zytokinwirkungen auf Neurotransmitter¶
Entzündungen beeinflussen verschiedene Neurotransmittersysteme des Gehirns, darunter Serotonin-, Dopamin-, Noradrenalin und Glutamatwege sowie den Kynureninweg, der den neurotoxischen Metaboliten Chinolinsäure erzeugt. Störungen der Neurotransmittersysteme korrelieren mit entzündungsbedingten Veränderungen, die Motivation und Motorik sowie Angst, Erregung und Alarm vermitteln.
Das angeborene Immunsystem sowie proinflammatorische Zytokine haben unmittelbaren Einfluss auf das Dopamin in den Basalganglien und beeinflussen dadurch die Motivation (Verringerung) und die Motorik (Verlangsamung). Entzündungsreaktionen bewirken eine Bevorzugung der Vermeidung von Verlusten gegenüber der Erzielung von Gewinnen. Endotoxin verringert die Aktivität des Striatums auf angebotene Belohnungen.
Dopamintransporter, die prominent in die Pathogenese von ADHS involviert sind, sind auf menschlichen T-Zellen reichlich vorhanden.
Bei Mäusen mit STAT6-Defizit sind die DAT im Striatum verringert, was Hyperaktivität induziert (wobei STAT6 eng mit Zytokinen und Wachtumsfaktoren interagiert).
Dopamin hat die ungewöhnliche Eigenschaft, die Hochregulierung von Zytokinen um 500 % auszulösen:
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TNFα binnen 24 Stunden, über den D3-Rezeptor
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IL-10 binnen 72 Stunden, über den D2-Rezeptor
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TNFα binnen 24 und IL-10 binnen 72 Stunden über die D1 / D5-Rezeptoren
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IFN-γ blieb unverändert
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IL-4 blieb unverändert
Entzündungen und Krankheiten belasten das Arbeitsgedächtnis, indem sie die Fähigkeit des Kurzzeitgedächtnisses, Umweltreize zu verarbeiten, verringern. Dieser Effekt ist wahrscheinlich für die durch Entzündungen verursachten Veränderungen in der Kognition verantwortlich. Bei ADHS ist das Arbeitsgedächtnis signifikant beeinträchtigt.
3. Entzündungsprozesse und Dopamin¶
Weite Teile der Darstellung der Verknüpfung zwischen den inflammatorischen Elementen des Immunsystems und Dopamin basieren auf der Arbeit von Felger.
Entzündungsprozesse haben unmittelbaren Einfluss auf das dopaminerge System.
3.1. Pro-inflammatorische Zytokine bewirken¶
- verringerte Reaktionen des ventralen Striatums auf hedonische Belohnungsanreize (Anhedonie)
- verringerte Dopaminspiegel im Striatum
- verringerte Spiegel von Dopamin und Dopaminmetaboliten in der Gehirnflüssigkeit
- durch CRP, IL-6, IL-1beta und IL-1 RA verringerte funktionelle Konnektivität von striatalen Belohnungssystemen. Eine verringerte Konnektivität zwischen Gehirnbereichen wird als eine (Mit-)Ursache von ADHS angenommen und wird durch Stimulanzien verbessert. Mehr hierzu unter ⇒ Wirkung auf Konnektivität zwischen Gehirnregionen im Beitrag*⇒ Methylphenidat (MPH) bei ADHS*.
3.1.1. Verhaltenssymptome durch pro-inflammatorische Zytokine¶
Die Wirkungen pro-inflammatorischer Zytokine korrelieren mit (depressiven) Verhaltenssymptomen
- Anhedonie
- Müdigkeit
- psychomotorischer Verlangsamung
3.1.2. Zytokinwirkungen auf das Dopaminsystem¶
Zytokine wirken durch verschieden Mechanismen auf das Dopaminsystem.
3.1.2.1. Verringerung von Tetrahydrobiopterin (BH4) hemmt Dopaminsynthese¶
BH4 ist daher für die Synthese von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin unerlässlich.
Dopamin wird aus Phenylanalin (mittels des Enzyms Phenylanalinhydroxlase) zu Tyrosin, was (mittels des Enzyms Tyrosinhydroxlase) zu L-Dopa und daraus zu Dopamin synthetisiert wird.
Tetrahydrobiopterin (BH4) ist (als Enzym-Kofaktor von Tyrosinhydroxlase) an der Synthese von Tyrosin aus Phenylanalin und (als Enzym-Kofaktor von Phenylanalinhydroxlase) an der Synthese von L-Dopa aus Tyrosin beteiligt. Dopamin ist wiederum ein Vorstoff von Noradenalin.
Ein Mangel an BH4 beeinträchtigt somit die Synthese von Dopamin (und Noradrenalin).
Vitamin B12 unterstützt die Generierung von Tetrahydrobiopterin (BH4).
Entzündungen und Zytokine, z.B. IFN-alpha, können die Verfügbarkeit von BH4 verringern. Dadurch wird die Synthese von Dopamin und Serotonin beeinträchtigt.
Entzündungen erhöhen die Aktivität der induzierbaren NOS (iNOS), was das (als Cofaktor für Stickoxidsynthasen (NOS) dienende) BH4 bindet. Dies bewirkt eine Bildung von ROS (Sauerstoffradikale) anstelle von NO. BH4 reguliert damit die Bildung von Superoxiden. ROS bewirken oxidativen Stress, der wiederum zur oxidativen Reduktion von BH4 selbst beiträgt. BH4 oxidiert sehr leicht.
Diese Mechanismen verringern die BH4-Verfügbarkeit, was die Dopaminsynthese einschränkt.
Peripher injiziertes IFN-α senkt bei Ratten die BH4-Spiegel in Amygdala und Raphekernen durch erhöhte NO-Synthese. Wird die NO-Synthese gehemmt, verliert IFN-α seine hemmende Wirkung auf die BH4- und Dopaminwerte im Gehirn.
Cardiotrophin-1 (CT-1) reduzierte ebenso wie Ziliärer neurotropher Faktor (CNTF) den BF4-Spiegel in Nervenzellen um 90 %, während IL-6 oder TNF-alpha keine signifikante Veränderung von BF4 bewirkten.
Bei ADHS scheint die Dopaminsynthese (z.B. mittels BH4) nicht beeinträchtigt, da eine Gabe von L-Dopa keinerlei Einfluss auf die ADHS-Symptomatik zeigt.
3.1.2.2. Erhöhung der Tyrosin-Hydroxylase¶
Eine Erhöhung der Tyrosin-Hydroxylase durch IL-1-beta deutet auf erhöhten Dopaminumsatz im Hypothalamus hin. Die Veränderung korrelierte mit erhöhten ACTH-Werten bei unveränderten Prolaktinwerten.
3.1.2.3. Verringerte Expression oder Wirkung von VMAT2 fördert oxidativen Stress¶
Der vesikuläre Monoamintransporter (VMAT, VMAT2) ist an der Einlagerung von Dopamin in die Vesikel beteiligt. Es existieren Geschlechtsunterschiede in der neuronalen VMAT2-Aktivität, die die unterschiedliche Antwort auf Methamphetamin erklären. Die Verpackung von Dopamin in dopaminergen Neuronen durch VMAT2 ist erforderlich, um Schäden durch oxidiertes Dopamin bei oxidativem Stress oder nach Methamphetamin-Zufuhr zu vermeiden. Mäuse mit nur 5 bis 10 % VMAT2 zeigten eine schnelle Schädigung solcher Neuronen.
3.1.2.4. Erhöhte Expression oder Wirkung von DAT¶
3.1.2.4.1. Erhöhte Expression oder Wirkung von DAT durch VMAT und MAPK¶
Dopamintransporter haben die Aufgabe, Dopamin, das von der empfangenden Synapse (Postsynapse) aufgenommen und danach in den synaptischen Spalt zurückgegeben wurde, wieder aufzunehmen, damit es zur erneuten Verwendung in die Vesikel eingelagert werden kann. Daneben können DAT auch umgekehrt wirken und Dopamin aus dem Zytoplasma in den Extrazellulärraum ausschütten (DAT-Efflux).
Sind die DAT zu aktiv oder zu viele (was bei ADHS häufig der Fall ist), saugen die DAT das von der sendenden Synapse frisch in den synaptischen Spalt gegebene Dopamin bereits wieder auf, bevor es an der Postsynapse das Signal übertragen konnte. Dies führt zu Signalübertragungsstörungen.
Eine Fehlregulation der DAT und der VMAT kann das Dopamin in der Zellflüssigkeit erhöhen, was Auto-Oxidation, die Entstehung von ROS (reaktive Sauerstoffspezies = Sauerstoffradikale) und die Entstehung von neurotoxischen Chinonen (englisch: Quinone) auslösen kann. Höhere ROS-Werte können zu oxidativem Stress führen.
Proteinkinase C (PKC) verringert die Dopaminwiederaufnahme und die DAT-Anzahl. Mitogen-aktivierte Proteinkinase (MAPK)-Pfade scheinen den Dopamintransporter (DAT) zu dagegen zu aktivieren. Striatale Zellen mit besonders aktiver MAPK zeigten eine erhöhte Dopamin-Wiederaufnahme, während sie bei gehemmte MAPK dosis- und zeitabhängig mit verringerter DA-Wiederaufnahme korrelierten.
3.1.2.4.2. Erhöhte DAT bei HIV-Enzephalitis¶
Bei Betroffenen von neuropsychiatrischen Störungen aufgrund einer HIV-Infektion wird als Folge einer daraus entstehenden Neuroinflammation eine erhöhte Expression von DAT angenommen, während bei HIV ohne Enzephalitis eine unveränderte DAT-Expression bei verringerte DAT-Aktivität gefunden wurde. Daneben wurden verringerte Werte von Tyrosinhydroxylase und phosphorylierter Tyrosinhydroxylase festgestellt. Weiter war der D2-Rezeptor verringert und der D3-Rezeptor erhöht ausgeprägt.
IFN-α, chronisch gegeben, zeigte bei Affen keine Veränderung der DAT-Bindung.
3.1.3. Verringerte Übertragung von Glutamat¶
IFN-γ (sowie, etwas geringer, IFN-α) aktivieren Indoleamin 2,3-Dioxygenase (IDO) in peripheren Immunzellen oder Mikroglia. IDO wandelt Tryptophan zu Kynurenin, dies (mittels Kynureninaminotransferase) zu Kynurensäure und Chinolinsäure. Kynureninsäure wirkt als Glutamat-Rezeptor-Antagonist, was die Glutamat-Neurotransmission verringert. Dies wiederum hemmt die Freisetzung von Dopamin im Striatum.
Eine überhöhte Freisetzung von Glutamat und Chinolinsäure durch Entzündungen kann oxidativen Stress und Exzitotoxizität erhöhen.
Dieser Wirkungspfad wird erfolgreich durch Glutamatrezeptorantagonisten wie z.B. Ketamin behandelt.
Eine detailliertere Darstellung findet sich unter ⇒ Wie IFN-α neurophysiologisch Depression auslöst im Abschnitt ⇒ Depression und Dysphorie bei ADHS im Kapitel ⇒ Diagnostik
4. Entzündungsprozesse und Serotonin¶
4.1. Zytokinwirkung auf das Serotoninsystem¶
IFN-γ sowie, etwas geringer, IFN-α, verringern Tryptophan, was für die Synthese von Serotonin erforderlich ist. Daher kann IFN den Serotoninspiegel verringern.
Die Stimulation von p38 mitogen-aktivierter Proteinkinase (MAPK) kann die Expression und Funktion des Serotonin-Transporters und damit die Serotonin-Wiederaufnahme erhöhen, was einen Serotoninmangel auslösen kann. MAPK und die dadurch vermittelte Serotonintransporteraktivierung wird durch IL-1-β und TNF-α dosis- und zeitabhängig aktiviert und durch IL-1-RA gehemmt.
BH4 ist zudem für die Aktivitäten von Tryptophanhydroxylase erforderlich, welches ein ratenbegrenzendes Enzym bei der Serotoninsynthese ist. BH4 ist daher für die Synthese von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin unerlässlich (siehe oben).
BH4-Mangel ist ein relevanter Pfad zum Verständnis von Depression. Bei einer Feststellung von erhöhtem IFN-alpha könnte sich eine Behandlung mit 5-HT empfehlen, einem Prodrug von Serotonin, um der Beeinträchtigung der Tryptophangenerierung entgegenzuwirken. Wir kennen Fälle behandlungsresistenter Depression, bei denen 5-HTP zumindest zeitweise eine unmittelbare Besserung bewirkte. Da 5-HTP ausschließlich zu Serotonin umgewandelt wird, ist 5-HTP lediglich in Bezug auf Stimmungsprobleme, nicht jedoch in Bezug auf die vornehmlich dopaminerg und noradrenerg verursachten ADHS-Symptome hilfreich.
Eine Untersuchung deutet darauf hin, dass bei erwachsenen ADHS-Betroffenen der Tryptophanspiegel verringert ist und dass das Maß der Verringerung des Spiegels von Tryptophan und seiner Metaboliten (= Abbauprodukte) mit der Schwere der ADHS-Symptome korreliert. Eine andere Untersuchung fand tendenziell erhöhte Tryptophanwerte bei Kindern mit ADHS.
Vitamin B12 unterstützt die Generierung von Tetrahydrobiopterin (BH4).
Endotoxin aktiviert die Serotonintransporter (was ein Serotonindefizit auslösen kann) und verringert die körperliche Aktivität von Mäusen in Stresstests. Die Endotoxin-induzierte Verringerung der körperlichen Aktivität tritt nicht auf bei Mäusen mit deaktivierten Serotonintransportern und bei Mäusen, deren IL-1-Rezeptoren durch einen Antagonisten gehemmt wurden.