Tyrosin bei ADHS
Tyrosin ist ein Vorstoff bei der Dopaminsynthese. Obwohl das ratenbegrenzende Enzym der Katecholaminsynthese nicht Tyrosin, sondern die Tyrosinhydroxylase ist, stimuliert eine Erhöhung des Tyrosin-Spiegels im Gehirn die Katecholaminproduktion, jedoch ausschließlich bei aktiv feuernden Neuronen.12
Mehr hierzu unter Tyrosin im Beitrag Dopaminbildung und Einlagerung
- 1. Tyrosin erhöht Dopamin und Noradrenalin
- 2. Eiweißreiche Nahrung erhöht Tyrosin
- 3. Konkurrierende Aminosäuren verringern Tyrosin und dadurch Dopamin
1. Tyrosin erhöht Dopamin und Noradrenalin
Eine Tyrosin-Gabe erhöhte bei Ratten das extrazelluläre Dopamin im Striatum und Nucleus accumbens.3 Eine andere Quelle berichtete dies für das Striatum ebenfalls, jedoch nur, wenn die Tiere zuvor einen Dopamin-Rezeptor-Antagonisten (Halperidol) erhalten hatten.4 Tyrosin-Gabe erhöhte (nur bei Licht) auch die Umwandlung von Tyrosin zu L-Dopa (Teil des Dopaminsynthesepfade) in der Retina von Ratten deutlich5 und erhöht in der Folge Dopamin in der Retina.6 Da Dopamin Melatonin unterdrückt, könnte dieser Pfad den circadianen Rhythmus beeinflussen. Mehr hierzu unter Melatonin und Dopamin und der circadiane Rhythmus im Beitrag Melatonin bei ADHS
Bei Ratten variiert der Tyrosin-Spiegel im Hypothalamus linear mit einer Spanne des Proteinanteils in der Nahrung zwischen 2 und 10 %. Bei 20 % stieg der Tyrosinspiegel im Hypothalamus kaum noch weiter an.1
Eine Tyrosingabe bei Menschen
- verbesserte die Impulskontrolle in einem Stop Signal Task eine Stunde nach Einnahme.7
- erhöhte die kognitive Flexibilität / erleichterte Taskwechsel8
- bewirkte bei DRD2-Gen C957T (rs6277) T/T-homozygoten Trägern (die mit einem niedrigeren striatalen DA-Spiegel assoziiert sind) größere Verbesserungen in einer Stoppsignal-Aufgabe und der Aktualisierung des Arbeitsgedächtnisses in einer N-Back-Aufgabe als C/C-Homozygote Träger (die mit einem höheren striatalen DA-Spiegel assoziiert sind). Tyrosin wirkte also bei niedrigem striatalem Dopamin besser als bei höherem.9
- verbesserte die kognitive Leistung in stressigen oder anspruchsvollen Situationen bei verringerten Dopamin- / Noradrenalinspiegeln10111213
- verringertes Temporal discounting und verringertes Arousal, verkürzte Antwortzeiten bei gleichbleibender Antwortqualitätl14
- verschlechterte Taskwechsel unter hoher kognitiver Last15
- dies ließe sich unserer Ansicht nach möglicherweise erklären, wenn die hohe kognitive Last bereits stressbedingt erhöhte Dopamin- und Noradrenlinspiegel verursachte, die dann durch Tyrosin-Gabe noch weiter erhöht wurden, und sich damit noch weiter vom optimalen Spiegel entfernten (Inverted-U-Effekt bei Katecholaminen).
Ratten, denen Glutamat ins Striatum gegeben wurde, zeigten eine erhöhte Dopaminsynthese aus Tyrosin und nur mäßige Veränderungen der Dopaminfreisetzung.1617
2. Eiweißreiche Nahrung erhöht Tyrosin
Eiweißreiche Nahrung erhöht den Tyrosinspiegel im Gehirn. Theoretisch könnte eine eiweißreiche Nahrung also einen Dopaminmangel verbessern und ADHS-Symptome verbessern, wenn diese aufgrund Dopaminsyntheseproblemen durch Tyrosinmangel entstehen. Dies dürfte zwar nur selten der Fall sein, wir halten es jedoch für denkbar, dass dies einer der vielen Entstehungspfade von ADHS sein und daher diesen Betroffenen helfen könnte.
Einige wenige Betroffene berichteten uns eine Verbesserung der ADHS-Symptomatik durch ketogene Diät oder Tyrosineinnahme. Mehr hierzu unter Ketogene Ernährung im Beitrag Ernährung und Diät bei ADHS
Bei der SHR, dem meistgenutzten Tiermodell für ADHS, das zugleich als Tiermodell für Bluthochdruck dient, bewirkte Tyrosin eine Verringerung des Blutdrucks und eine Erhöhung des extrazellulären Noradrenalinspiegels.18 Dies soll, wie auch die durch Tyrosin verursachte Hemmung der Prolaktinausschüttung bei mit Reserpin vorbehandelten Ratten auf einer Stimulierung der Dopamin- und Noradrenalinsynthese beruhen.1
Weiter soll Tyrosin unter Kälte-Stressbedingungen beim Menschen das Arbeitsgedächtnis verbessern.19
Die Verabreichung von L-Tyrosin an Ratten erhöhte das extrazelluläre Dopamin im mPFC und Striatum2021 und die Noradrenalinfreisetzung im Hippocampus.22
3. Konkurrierende Aminosäuren verringern Tyrosin und dadurch Dopamin
Die Menge des im Gehirn verfügbaren Tyrosins wird auch durch andere große neutrale Aminosäuren beeinflusst, die mit Tyrosin um denselben Transporter durch die Blut-Hirn-Schranke konkurrieren, z.B.:123
- Tryptophan
- Phenylalanin
- L-Methionin
- Histidin
- Threonin
- L-Glycin
- anders24
- L-Lysin
- L-Arginin
- L-Leucin
- L-Isoleucin
- L-Valin
- DOPA24
- Cystein24
- Histidin24
- Glutamin24
- Asparagin24
- Serin24
- nicht aber
Daher kann eine Gabe einer Kombination dieser großen neutralen Aminosäuren (ohne Tyrosin und ohne Phenylalanin, da Phenylalanin in der Leber sofort zu Tyrosin verstoffwechselt wird) binnen 2 Stunden den Gehirn-Tyrosin-Spiegel im Hypothalamus und in der Retina verringern.23 In der Folge sinkt auch der Dopaminspiegel im Gehirn, allerdings nicht im PFC.125
In anderen Gehirnregionen verringerte sich binnen 2 Stunden nach Gabe der konkurrierenden Aminosäuren lediglich der Tyrosinspiegel, nicht aber der Dopamin- oder Noradrenalinspiegel:26
- Cortex (Tyrosin um 50 % verringert, Dopa um 20 bis 24 % verringert)
- Hippocampus (Tyrosin um 50 % verringert)
- Striatum (Tyrosin um 50 % verringert, Dopa um 44 % verringert)
- Nucleus accumbens (Dopa um 34 % verringert)
Der Tyrosinspiegel erholte sich vollständig nach 6 Stunden.26
Soweit die Studien an Nichtbetroffenen erfolgten, ist bei ADHS-Betroffenen aufgrund des ADHS-bedingten Dopamin- und Noradrenalindefizits mit einer noch deutlicheren Wirkung zu rechnen. Nichtbetroffene zeigten wenige Stunden nach Einnahme der konkurrierenden Aminosäuren:
- neurophysiologische Veränderungen
- frontostriatale Konnektivität beeinträchtigt34
- verringerte Deaktivierung in Bereichen, die bei aufmerksamkeitsfordernder Aufgaben unterdrückt werden, einschließlich:34
- mPFC
- posteriorer cingulärer Kortex
- Hippocampus
-
Verhaltensveränderungen
- räumliches Arbeitsgedächtnis
- episodisches Gedächtnis unverändert, aber damit verbundene ERP zeigten neurophysiologische Verschlechterung39
- Befinden / Stimmung
- Schmerz- und Temperaturempfinden unverändert4132
- sonstige Planungs- und Gedächtnisleistungen
- unverändert38
- Go/no-go Task: erhöhte Fehleranzahl bei gesunden Erwachsenen31
- Simon Task: Ergebnisse unverändert, aber N-40 verändert45
- Timing beeinträchtigt33
- Zeitwahrnehmung in Abhängigkeit vom Tyrosinbasiswert verändert46
- Belohnungsreaktion (Delay discounting und Arbeitsgedächtnis)
- Wirkung nur in Abhängigkeit vom COMT-Gentyp; erhöhte Wahlimpulsivität bei COMT val/val (der erhöhten Dopaminabbau im PFC bewirkt)47
- Gewohnheitsmäßige Kontrolle (nur bei Frauen) stärker als zielgerichtete Kontrolle, wenn zielgerichtete und gewohnheitsmäßige Systeme um die Kontrolle im “Slips-of-Action”-Test konkurrierten48, ebenso bei Tryptophan Depletion49
- Lernen aus positiver und negativer Verstärkung (probabilistische Selektionsaufgabe) bei Frauen mit Low-Fat/Low-Sugar-Ernährung wie bei High-Fat/Hig-Sugar-Ernährung verbessert37
- gerichtete Aufmerksamkeit verschlechtert bei gleichzeitiger Serotonindepletion50
- Reaktionszeit bei geteilter Aufmerksamkeit unverändert51
Zum Vergleich: Tryptophandepletion, Exekutivfunktionen und Impulsivität
In ähnlicher Weise hat eine Depletion von Tryptophan, das ein Vorstoff bei der Entstehung von Serotonin ist, eine Verringerung von Serotonin im Gehirn und Auswirkungen auf Exekutivfunktionen und Impulsivität zur Folge:
- Go-/NoGo-Task52
- unverändert (3 Studien)
- verbesserte Genauigkeit und Reaktionszeiten (1 Studie)
- erhöhte Fehleranzahl (1 Studie)
- Continuous Performance Test52
- Impulsivität erhöht (4 Studien)
- unverändert (1 Studie)
- Four-choice Serial reaction time task52
- Impulsivität erhöht (1 Studie)
- Wisconsin card sorting test52
- unverändert (2 Studien)
- Tower of London52
- erhöhte Beantwortungszeit (1 Studie)
- unverändert (2 Studien)
-
Stroop Test52
- (fokussierte) Aufmerksamkeit verbessert (3 Studien)
- unverändert (1 Studie)
- Probabilistic reversal learning52
- unverändert (2 Studien)
Die Verringerung von Tryptophan durch eine Tryptohan-freien Aminosäure-Mix konnte durch Blockade von Proteinbildung unterbunden werden. Offenbar wird die Tryptophanverringerung durch Bildung von Proteinen (aus Tryptophan) vermittelt.53 Möglicherweise wird dabei der Tryptohanabbau verhindert.54
Wir halten es für überlegenswert, ob eine Tyrosindepletion (unter passender Dosierung) nicht eine hilfreiche oder auch nur unterstützende Behandlungsmethode von Störungsbildern sein könnte, die auf einem erhöhten Dopaminspiegel (wie Autismus oder Schizophrenie und den seltenen Fällen von ADHS, die (entsprechend dem DAT-KO-Modell) auf einem überhöhten Dopaminspiegel basieren) oder einem erhöhten Noradrenalinspiegel basieren, wie PTSD.
Eine Studie berichtet eine Verbesserung der manischen Symptome bei Manie-Betroffenen.55 Eine Case-Study berichtet von einer Heilung (!) eines autistischen Betroffenen durch eine gluten- und kaseinfreie Diät.56 Studien, die gluten- und kaseinfreie Diät in Bezug auf Autismus systematisch verglichen, fanden jedoch keinen relevanten Einfluss.5758
Produkte, die viel Kasein beinhalten, enthalten auch viel Tyrosin. Eine Studien an Kindern mit ASS fand verringerte Tyrosin-Blutwerte.59 Es wäre unserer Ansicht nach zumindest theoretisch vorstellbar, dass verringerte Tyrosin-Blutwerte nicht eine Mitursache von ASS, sondern die Folge einer Ernährung sein könnte, die die Betroffenen unbewusst als hilfreich zur Verminderung ihrer Symptome wahrgenommen haben.
Auch wenn die Hintergründe interessant sind, wäre es völlig illusorisch, eine tyrosin- und phenylalaninarme Diät als Heilmittel für Autismus zu betrachten. Ein Einzelfall ist kein Beleg für eine Behandlung eines gesamten Störungsbilds.
Das große Risiko ist, dass es noch weitere (ggf. bisher unbekannte) Aminosäuren oder andere Stoffe gibt, die über dieselben Transporter durch die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn aufgenommen werden, Eine längerfristige Einnahme einer Aminosäurenmischung, die die Blut-Hirn-Schranken-Transporter besetzt, würde Mangelzustände dieser Aminosäuren/Stoffe bewirken, was erhebliche Schäden verursachen könnte.
In Anbetracht der Möglichkeit erheblicher Nebenwirkungen ist daher von nicht ärztlich begleiteten Experimenten dringend abzuraten.
Theoretisch hielten wir es auch für denkbar, dass eine Einnahme von Tyrosin depletierenden Aminosäuren 2 Stunden vor dem Schlafengehen beim Schlafen hilfreich sein könnte.
Diese Option wurde bislang medizinisch nicht diskutiert und sollte daher mit besonderer Vorsicht betrachtet werden. Auch wenn diese Stoffe rezeptfrei erhältlich sind, sollte deren Einnahme keinesfalls ohne ärztliche Rücksprache erfolgen.
Wie oben dargestellt, kann eine Tyrosineinnahme Dopamin und Noradrenalin erhöhen und eine Tyrosindepletion Dopamin und Noradrenalin verringern.
Um zur Ruhe zu kommen, ist jedoch ein niedrigerer Noradrenalinspiegel hilfreich.
Eine kombinierte Einnahme der Aminosäuren, die mit Tyrosin um dieselben Transporter durch die Blut-Hirn-Schranke konkurrieren, kann dazu beitragen, Dopamin und Noradrenalin zu verringern.
Eine Einnahme einer Kombination der genannten Aminosäuren (ohne Tyrosin und Phenylalanin) könnte daher möglicherweise ADHS-Betroffenen mit erhöhtem Arousal helfen, zur Ruhe zu kommen.
Um Nachteile tagsüber zu vermeiden, sollte dies mit einer morgendlichen Einnahme von Tyrosin und Phenylalanin kombiniert werden.
Umgekehrt wurde eine Gabe von Tyrosin zur Verringerung von Schlafproblemen durch bestimmte Stressformen, die mit einer verringerten Noradrenalinspiegeln einhergehen, diskutiert.60 Ebenso fand eine Studie an Nichtbetroffenen, dass Tyrosin das Arousal verringerte.14
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