Prokrastination (Aufschieberitis) bei ADHS
Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
Prokrastination, das stetige Aufschieben von Aufgaben, tritt bei Menschen mit ADHS häufiger und stärker auf als bei Nichtbetroffenen. Prokrastination bei ADHS korreliert mit Eigenschaften wie Aufgabenvermeidung, Aufgabenverzögerung, Selbstwirksamkeit, Gewissenhaftigkeit sowie schwächer mit Impulsivität. Prokrastination wird auch als Folge einer mangelhaften Selbststeuerungsfähigkeit und einer Bevorzugung kurzfristiger Belohnungen beschrieben.
Es besteht ein Zusammenhang zwischen Prokrastination und ADHS, der sich in Eigenschaften wie Ablenkbarkeit, Organisationsproblemen und Belohnungsaufschubaversion zeigt. Prokrastination korreliert negativ mit einer positiven Zukunftsperspektive und positiv mit einer gegenwartsbezogenen, hedonistischen und fatalistischen Einstellung.
Achtsamkeitsübungen können bei Prokrastination helfen. Es wurde festgestellt, dass ADHS-HI-Betroffene besser in der Lage sind, Aufgaben für andere zu erledigen und dies als Bewältigungsstrategie gegen Prokrastination empfohlen wird. Dies könnte durch die Affinität von ADHS-HI-Betroffenen zum Zugehörigkeitsmotiv erklärt werden.
- 1. Prokrastination – was ist das?
- 2. Prokrastination bei ADHS das häufigste Symptom
- 3. Prokrastination in der wissenschaftlichen Forschung
1. Prokrastination – was ist das?
Prokrastination ist das Phänomen des stetigen Aufschiebens von Aufgaben aus irrationalen Gründen. Prokrastination kann sich auch in der Erledigung von Alternativtätigkeiten zeigen, die relativ angenehmer erscheinen und oftmals unmittelbar verstärkend wirken.
Jeder Mensch schiebt zuweilen etwas vor sich her, das er eigentlich erledigen müsste. ADHS-Betroffene prokrastinieren deutlich häufiger und wesentlich stärker als Nichtbetroffene.
Das Symptom Prokrastination kann dabei extreme Züge annehmen – Post wird nicht mehr geöffnet, die Steuererklärung wird gar nicht mehr abgegeben und die Müllsäcke stapeln sich in der Küche.
Dieser Beitrag meint Prokrastination in einem Maße, wie es für ADHS relevant ist: nicht die “jeder-verschiebt-mal-was” Prokrastination, sondern die “ich habe ein Problem” – Prokrastination. Diese beginnt indes bereits deutlich unterhalb von Mülltütenhaufen und Vollstreckungsmaßnahmen des Finanzamtes.
2. Prokrastination bei ADHS das häufigste Symptom
Prokrastination ist nach den Daten des ADxS.org-Online-Symptomtests (Stand Juni 2020, n = 1.889) durch Betroffene das am häufigsten genannte Symptom mit der höchsten Symptomstärke. Es wurde häufiger genannt als Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS-I-Betroffenen oder als Probleme der Hyperaktivität, Impulsivität oder der Inneren Unruhe bei ADHS-HI-Betroffenen.
3. Prokrastination in der wissenschaftlichen Forschung
Prokrastination korreliert deutlich und konsistent mit den Eigenschaften Impulsivität, Aufgabenvermeidung, Aufgabenverzögerung, Selbstwirksamkeit (self-efficacy) und Gewissenhaftigkeit mit ihren Facetten Selbstkontrolle, Ablenkbarkeit, Organisation und Leistungsmotivation. Neurotizismus, Widerstandsgeist und Sensation seeking zeigten dagegen schwache Korrelationen. 12
Diese Ergebnisse decken sich (mit Ausnahme von Impulsivität) im Wesentlichen mit den Daten des ADxS.org-Online-Symptomtests (Stand Juni 2020, n = 1.889). Diese zeigen eine stärkere Korrelation von Prokrastination (bei ADHS) mit internalisierender Stressphänotypik (ADHS-I, 0,33) als mit externalisierender Stressphänotypik (ADHS-HI, 0,13). In Bezug auf die ADHS-Einzelsymptome korrelierte Prokrastination vor allem mit Organisationsproblemen (0,64), Antriebs- und Konzentrationsproblemen (je 0,58), Ablenkbarkeit (0,52), Leistungsunfähigkeit (0,49), Zeitproblemen (0,48), Frustrationsintoleranz (0,45), Anhedonie (0,40), Lernschwierigkeiten (0,39), Impulsivität und Ungeduld (je 0,34) und Taskwechselproblemen (0,33).
Andere Quellen beschreiben Prokrastination als Auswirkung einer mangelhaften Selbststeuerungsfähigkeit bei gleichzeitiger Bevorzugung kurzfristiger Belohnungen.3
Ohne in ihren Veröffentlichungen das Thema ADHS auch nur zu erwähnen, zählen die hier zitierten Autoren etliche ADHS-Symptome auf, wie Ablenkbarkeit, Selbststeuerungsprobleme, Organisationsprobleme oder Belohnungsaufschubaversion. Dies alles deutet auf einen starken Zusammenhang zwischen Prokrastination und ADHS hin.
Wenn Prokrastination eine Vermeidung unangenehmer Aufgaben darstellt (im Sinne einer Abwertung von deren Relevanz, entsprechend einer Abwertung von entfernteren Belohnungen), ist dies der Ausfluss einer veränderten Motivation und eines verringerten Antriebs. Dies könnte durch Dopaminmangel im Striatum induziert sein.
Prokrastination korreliert negativ mit einer subjektiv positiven Zukunftsperspektive und korreliert positiv mit einer gegenwartsbezogenen hedonistischen und fatalistischen Einstellung.4 Die negative Einschätzung der Zukunftsperspektive könnte als eigene Ausdrucksform des Symptoms der geringeren Wertschätzung von Genuss oder von entfernterer Belohnung verstanden werden.
Prokrastination korreliert weiterhin negativ mit Achtsamkeit, also gegenwartsorientierter Wahrnehmung.5. Achtsamkeitsübungen sind eine bei ADHS sehr hilfreiche Therapieform, die das subjektive Wohlbefinden steigern, Stress abbauen und den Serotoninspiegel langfristig anheben kann.
Ein weiterer faszinierender Aspekt von Prokrastination ist, dass es ADHS-HI-Betroffenen wesentlich leichter fällt, diejenige Tätigkeit, die sie für sich selbst nicht ausüben können, für einen anderen auszuüben. Dies geht so weit, dass Passig, Lobo als Copingstrategie für Prokrastination empfehlen, dass Betroffene die von Ihnen prokrastinierten Tätigkeiten gegenseitig füreinander erledigen.6
Diese auf den ersten Blick sehr verwunderlich erscheinende Vorgehensweise könnte sich nachvollziehbar und schlüssig durch die besondere Affinität von ADHS-HI-Betroffenen zum (dopaminerg gesteuerten) Zugehörigkeitsmotiv erklären.7
Steel (2007): The nature of procrastination: A meta-analytic and theoretical review of quintessential self-regulatory failure; Psychological Bulletin, Vol 133(1), Jan 2007, 65-94 ↥
Blunt, Pychyl (2000): Task aversiveness and procrastination: a multi-dimensional approach to task aversiveness across stages of personal projects; Personality and Individual Differences; Volume 28, Issue 1, 1 January 2000, Pages 153–167 ↥
Sirois, Pychyl, (2013): Procrastination and the Priority of Short-Term Mood Regulation: Consequences for Future Self. Social and Personality Psychology Compass, 7(2), 115-127. doi:10.1111/spc3.12011 ↥
Sirois, Pychyl, (2013): Procrastination and the Priority of Short-Term Mood Regulation: Consequences for Future Self. Social and Personality Psychology Compass, 7(2), 115-127. doi:10.1111/spc3.12011 mit Verweis auf Ferrari & Díaz-Morales, 2007 und Jackson, Fritch, Nagasaka, & Pope, 2003 ↥
Sirois, Pychyl, (2013): Procrastination and the Priority of Short-Term Mood Regulation: Consequences for Future Self. Social and Personality Psychology Compass, 7(2), 115-127. doi:10.1111/spc3.12011 mit Verweis auf Sirois & Tosti, 2012 ↥
Passig, Lobo (2010): Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin. Äußerst unterhaltsames und lesenswertes Buch über Prokrastination für Betroffene. ↥
McClelland, Patel, Stier, Brown (1987): The relationship of affiliative arousal to dopamine release; In: Motivation and Emotion. Volume 11, No. 1, March 1987 ↥