Melatonin ist ein Hormon. Es wird von der Zirbeldrüse durch Umwandlung von Tryptophan hergestellt. Eintretende Dunkelheit (der Wegfall von Helligkeit) wird über die Netzhaut registriert und regt über den Nucleus suprachiasmaticus im Hypothalamus die Melatoninproduktion an. Melatonin reguliert den circadianen Rhythmus. Blinde haben häufiger Schlafprobleme und profitieren von einer Melatoningabe. In Deutschland ist unretardiertes Melatonin bis zu einer Dosis von 1 mg frei erhältlich. In den USA ist Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel frei erhältlich. In anderen Ländern, wie z.B. Australien und Skandinavien ist Melatonin verschreibungspflichtig.
Melatonin scheint bei Erwachsenen wie bei Kindern mit ADHS ein wirksames, verträgliches und sicheres Mittel zur Behandlung komorbider Schlafstörungen zu sein. Berichte über unangemessene Nebenwirkungen sind uns nicht bekannt.
Einschlaf- und Durchschlafprobleme treten bei 15 % bis 25 % aller Kinder und Jugendlichen und bei 25 bis 50 % derjenigen mit ADHS auf. Etliche Studien und Reviews belegen den Nutzen von Melatonin bei Schlafstörungen für gesunde Kinder und Jugendliche sowie für solche mit ADHS, ASS und andere Störungsbilder, bei zugleich minimalen Nebenwirkungen. Es gibt nur wenige Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit der Langzeitanwendung von Melatonin. Andere berichten von 75 % circadianen Störungen bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS.
Ein systematischer Review von 62 Studien mit insgesamt 4.462 ADHS-Probanden fand konsistente Hinweise darauf, dass ADHS mit einem Abend-/Spät-Chronotyp und einer Phasenverzögerung von circadianen Phasenmarkern wie z.B. schwachem Melatonineintritt bei Dämmerlicht und verzögertem Schlafbeginn assoziiert ist. Es zeigten sich Hinweise auf eine wirksame Behandlung von Schlafproblemen bei ADHS durch Melatonin. Eine kleine Anzahl genetischer Assoziationsstudien berichtet Verbindungen zwischen Polymorphismen in circadianen Clock-Genen und ADHS-Symptomen. Insgesamt fanden sich konsistente Hinweise auf eine Störung des circadianen Rhythmus bei ADHS.
Etliche weitere Metastudien und Reviews zu Schlafproblemen bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS bestätigten ebenfalls, dass Melatonin ohne nennenswerte Nebenwirkungen die Einschlafzeit verkürzen und die Schlafqualität verbessern kann.
Bei Einschlafproblemen wird unretardiertes Melatonin zwischen 0,5 und 3 mg empfohlen (Wirkdauer 3 bis 4 Stunden(, wobei die Einnahme ca. 1 Stunde vor dem Schlafengehen und nicht nach Mitternacht erfolgen sollte.
Bei Durchschlafproblemen kann retardiertes Melatonin sinnvoll sein.
1. Melatonin und Dopamin und der circadiane Rhythmus¶
Melatonin unterdrückt Dopamin, während Dopamin Melatonin unterdrückt. Die Wechselwirkung zwischen Dopamin und Melatonin sind damit Teil des circadianen Systems. Störungen des Dopaminsystems schlagen damit leicht auf das Melatoninsystem durch und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund könnten bei ADHS der Dopaminmangel und die hohe Häufigkeit eines nach hinten verschobenen Tagesrhythmus bei ADHS (die mit Melatoninmangel einhergehen kann) unmittelbar miteinander verbunden sein.
Siehe hierzu unter ⇒ Dopamin und Melatonin: Wach-/Schlafverhalten, circadianer Rhythmus.
Ein Regelmechanismus verbindet Dopamin-D4-Rezeptoren und Melatonin:
D4R können in der Zirbeldrüse Rezeptor-Heteromere mit β1- und α1B-Adrenozeptoren (β1R und α1BR) bilden. In diesen Rezeptor-Heteromeren bewirkt eine D4R-Aktivierung eine deutliche Hemmung des Partner-Adrenozeptors. Im Ergebnis hemmt Dopamin in der Zirbeldrüse die Wirkung von Noradrenalin. Allerdings fehlen bislang eindeutigen Beweise für eine funktionell relevante Dopaminfreisetzung in der Zirbeldrüse.
Zu Beginn der Dunkelperiode wird durch die anfängliche noradrenerge Aktivierung von β1R und α1BR in der Zirbeldrüse die Melatoninsynthese und die D4R-Expression erhöht. Am Ende der Dunkelperiode führt die erhöhte D4R-Expression verstärkt zur Bildung von β1R-D4R- und α1B-D4R-Heteromeren, in denen Noradrenalin die β1R- und α1BR-Signalisierung hemmt, wodurch Melatonin verringert synthetisiert und freigesetzt wird.
2. Melatonin gegen Schlafstörungen bei Kindern mit ADHS¶
Melatonin ist nach verschiedenen Studien auch bei Schlafproblemen bei Kindern mit ADHS wirksam, während Melatonin auf die ADHS-Symptome selbst keinen direkten Einfluss zeigt.
In einer Studie mit 74 Kindern unter 12 Jahren mit ADHS, die MPH erhielten, zeigten 60,8 % auf eine Melatoninbehandlung eine große oder sehr große Verbesserung des Schlafverhaltens. Eine kleine Studie fand ein verbessertes Einschlafverhalten, weniger Durchschlafstörungen und mehr Schlaf durch Melatonin in einer Gruppe von Kindern mit psychischen Störungen, u.a. ADHS. Es traten keine ernsthaften Nebenwirkungen auf.
Ein systematischer Review zur Behandlung von Schlafproblemen bei ADHS fand für Melatonin einen positiven Einfluss auf das Einschlafverhalten, die Schlafdauer und die Schlafqualität. Clonidin verbesserte Schlaflosigkeit ebenfalls (weshalb wir dies auch für Guanfacin vermuten), Zolpidem und L-Theanin zeigten dagegen kaum Verbesserungen.
Eine Metaanalyse zur Nutzung von Melatonin zur Behandlung von Schlafproblemen bei Kindern mit bei ADHS berichtet, dass als ergänzende Pharmakotherapie häufig Melatonin verschrieben wird, wenn eine Optimierung der Stimulanzieneinstellung, Schlafhygiene und Verhaltenstherapie nicht ausreichten. Melatonin reguliert Schlafstörungen im circadianen Rhythmus, wie z.B. Einschlafstörungen bei Kindern mit ADHS. Vier Studien bei Kindern von 6 bis 14 Jahren mit ADHS und Schlaflosigkeit zeigten eine Verbesserung des Schlafbeginns und der Schlaflatenz. Unerwünschte Ereignisse waren in allen Studien vorübergehend und mild. Eine weitere Metaanalyse fand ebenfalls eine signifikante Verbesserung der Schlafdauer und des Schlaflatenzbeginns bei Kindern mit ADHS oder ASS im Vergleich zu Placebo, bei zugleich hoher Ansprechrate. Melatonin wurde im Dosisbereich von 2 bis 10 mg/Tag bei Kindern und Jugendlichen in kurzen wie langen Anwendungstests bei geringen Nebenwirkungen gut vertragen. Weitere Reviews stützen diese Ergebnisse.
Eine Kohortenstudie aus Schweden zeigte, dass 2017 rund 2 % aller Kinder von 0 bis 17 Jahren mindestens einmal Melatonin verschrieben erhalten hatten. Insgesamt nahm die Melatoninverschreibung von 2006 bis 2017 bei Mädchen um das 15-fache, bei Jungen um das 20-fache zu. 15 % der Mädchen und 17 % der Jungen, die 2009 im Alte von 5 bis 9 erstmals Melatonin verschrieben bekamen, erhielten dies über die folgenden 8 Jahre durchgängig weiter. Die Hälfte der Kinder, die Melatonin verschrieben bekamen, hatte mindestens eine psychische Störung. Die häufigste psychische Störung war ADHS, in allen Altersgruppen und bei beiden Geschlechtern.
Dies deckt sich mit einer anderen schwedischen Kohortenstudie, wonach 40 % der Mädchen und 50 % der Jungen im Alter von 5 bis 9 Jahren, die 2010 regelmäßig Melatonin erhielten, nach 3 Jahren weiterhin regelmäßig Melatonin bekamen. Bei den 15- bis 19-Jährigen waren 3 Jahre später nur noch etwa 10 % regelmäßige Nutzer. Im Jahr 2013 bekamen 65 % der Jungen und 49 % der Mädchen, die Melatonin regelmäßig einnahmen, zugleich regelmäßig ADHS-Medikamente. Die tägliche Dosierungshöhe von Melatonin schien sich zwischen 2006 und 2012 um fast 30 % verringert zu haben.
Ebenso zeigt eine norwegische Kohortenstudie einen kontinuierlichen Anstieg der Nutzung von Melatonin (in Norwegen off-label), wobei vornehmlich Schlafprobleme, die komorbid zu anderen Störungsbildern auftraten, behandelt wurden. Eine große Anzahl der Kinder setzte die Behandlung über 3 Jahre bei täglicher Einnahme fort. Die Dosierung im dritten Jahr lag bei Jungen im Schnitt bei 1.080 Milligramm (586 bis 1.800 mg) und bei Mädchen bei 90o Milligramm (402 bis 1.620 mg).
Eine sehr große Kohortenstudie mit 48.296 ADHS-Betroffenen zwischen 0 und 17 Jahren von 2008 bis 2012 fand, dass 30 % davon neben den ADHS-Medikamenten weitere Medikamente erhielten, wobei Melatonin das am häufigsten gegebene weitere Medikament war, vor Antidepressiva und Antipsychotika.
In Anbetracht dieser Dimensionen ist es schwer vorstellbar, dass Melatonin ohne entsprechenden Nutzen eingesetzt worden wäre oder dass schwerwiegende Nebenwirkungen von Melatonin nicht aufgefallen wären.
In einer kanadischen Umfrage war Melatonin mit 73 % das am häufigsten von Ärzten gegen Schlafstörungen bei Kindern eingesetzte Medikament, unabhängig von daneben bestehendem ADHS.
In einer japanischen Umfrage zeigte sich, dass knapp die Hälfte der Kinder mit Einschlafschwierigkeiten mit Melatonin behandelt wurden (n = 220). Die folgende Studie zeigte wirksame Dosen zwischen 0,2 und 8 mg, je nach Alter (n = 254).
Eine Metastudie fand bei Kindern und Erwachsenen mit Einschlafstörungen eine Vorverlegung der Einschlafzeit um 40 Minuten und eine Verringerung der Zeitdauer bis zum Einschlafen um 24 Minuten durch Melatonin.
3. Melatonin gegen Schlafstörungen bei Erwachsenen mit ADHS¶
Etliche Studien zeigen, dass retardiertes Melatonin bei älteren Menschen ab 55 Jahren Schlafprobleme beheben kann. Hierzu ist in Deutschland ein Melatoninpräparat zugelassen (Circadin, 2 mg retardiertes Melatonin).
Eine internationale Expertengruppe kam in einem Review von 41 Studien zu dem Ergebnis, das retardiertes Melatonin (2 – 10 mg, 1 – 2 Stunden vor der Schlafenszeit) bei Erwachsenen mit Schlaflosigkeitssymptomen oder komorbider Schlaflosigkeit bei affektiven Störungen, Schizophrenie, Autismus-Spektrum-Störungen, neurokognitiven Störungen oder während des Absetzens von Sedativa-Hypnotika hilfreich sein kann, während bei Erwachsenen mit Störungsbildern, die mit circadianen Schlafproblemen einhergehen (wie ADHS), eher unretardiertes Melatonin (1 mg und weniger) sinnvoll sei.
Eine französische Expertenkommission befand Melatonin als ein hilfreiches Medikament für Erwachsenen mit Schlafstörungen und komorbiden psychischen Störungen wie ADHS. Eine Metastudie fand bei Kindern und Erwachsenen mit Einschlafstörungen eine Vorverlegung der Einschlafzeit um 40 Minuten und eine Verringerung der Zeitdauer bis zum Einschlafen um 24 Minuten durch Melatonin.
4. Melatonin und Stimulanzien¶
Eine Studie fand bei Kindern mit ADHS, die Methylphenidat einnahmen, dass ca. 60 % auf Melatonin bei Schlafproblemen ansprachen. Es wurden keine unangemessenen Nebenwirkungen festgestellt.
Methylphenidat veränderte den Melatoninplasmaspiegel nicht, unabhängig vom ADHS-Subtyp.
Eine Studie fand bei Kindern mit ADHS, die ADHS-Medikamente erhielten, eine dreimal so häufige Medikation gegen Schlafprobleme, wobei Melatonin das häufigste gegebene Medikament war. Weiter erhielt ADHS-C 2,5 Mal so häufig Medikamente gegen Schlafprobleme wie der ADHS-I-Subtyp.
Eine Studie zur Einnahme von MPH und Melatonin fand neben einer verkürzten Einschlafdauer und verringerten Durchschlafstörungen eine Verbesserung des Längenwachstums und der Gewichtszunahme durch Melatonin. Appetit korrelierte mit der Schlafdauer, allerdings unabhängig von einer Melatonineinnahme.
5. Deaktivierung der HPA-Achse durch Melatonin¶
Eine Untersuchung an Ratten, die durch atopische Dermatitis (Neurodermitis) induzierten psychischen Stress hatten, fand Hinweise, dass hoch dosiertes Melatonin (20 mg / kg) die Stresswirkung auf die HPA-Achse, das autonome Nervensystem sowie die stressbedingten Veränderungen des Dopamin- und Noradrenalinspiegels egalisieren konnte und im Ergebnis die ADHS-Symptomatik beseitigte. Bei Menschen wird Melatonin in Dosierungen von 1 bis 5 mg insgesamt (und nicht pro kg) gegeben, sodass die in der Untersuchung verwendete Menge ein mehrhundertfaches der bei Menschen üblicherweise verwendeten Dosierung betrug. Eine Nutzung von Melatonin als Stressbremse ist daher vorerst nicht absehbar.
Dennoch würde es sich lohnen, die Frage einer Stressverringerung durch Melatonin näher zu untersuchen.
Melatonin verringert die Wirkungen von Cortisol in Bezug auf Dopamin und Noradrenalin:
Melatoninwirkung auf Dopamin:
Cortisol verringerte den Dopaminspiegel im Locus coeruleus, im PFC sowie im Striatum.
20 mg/kg Melatonin wirkte in allen drei Gehirnbereichen der Dopaminverringerung durch Cortisol entgegen.
Melatoninwirkung auf Noradrenalin:
Cortisol erhöhte den Noradrenalinspiegel im Locus coeruleus, im PFC sowie im Striatum.
20 mg/kg Melatonin wirkte in allen drei Gehirnbereichen der Noradrenalinerhöhung durch Cortisol entgegen.
Bei ADHS-Betroffenen wie bei Menschen mit Schlafproblemen ist der abendliche Anstieg von Melatonin verzögert. Bei Kindern zwischen 6 und 12 Jahren mit ADHS und Schlafproblemen war der Schlafbeginn um 50 Minuten verzögert, was der Verzögerung des Melatoninanstiegs entsprach. Im Übrigen unterschied sich der Schlaf nicht erheblich.
Da im Alltag der Schulbeginn für alle Kinder gleich ist, erklärt dies, dass ADHS-Betroffene mit Schlafproblemen erheblich größere Schwierigkeiten im Alltag haben.
Der nächtliche Melatoninanstieg korreliert mit dem nächtlichen Abbau von Cortisol und erfolgt bei Kindern später als bei älteren Menschen. Außerdem verschiebt sich der Schlafenszeitpunkt bei älteren Menschen im Verhältnis zum Zeitpunkt des abendlichen Melatoninanstiegs nach vorne.
Bei ADHS wurde ein erhöhter Serummelatoninspiegel festgestellt.
6. Melatonin und Verbesserung der ADHS-Symptomatik¶
Trotz der stresslindernden Wirkung von sehr hoch dosiertem Melatonin dürfte Melatonin nicht geeignet sein, die ADHS-Symptomatik unmittelbar (tagsüber) zu verbessern. Da jedoch Schlafprobleme einen erheblichen Beitrag zur ADHS-Symptomatik liefern können und Melatonin Schlafprobleme wirksam verbessern kann, kann Melatonin auf diesem Wege mittelbar zu einer Verbesserung der ADHS-Symptomatik beitragen. Auch hierfür bedarf es allerdings wohl einer gewissen Zeit.
Eine Studie fand zwar eine deutliche Verbesserung des Einschlafverhaltens (27 Minuten früher) und der Schlafdauer (20 Minuten länger) durch 3 oder 6 mg Melatonin bei Kindern mit ADHS und Einschlafverzögerung, jedoch keine Auswirkung auf problematisches Verhalten, Kognitive Leistungsfähigkeit oder Lebensqualität. Die gut 3 1/2 Jahre später durchgeführte Follow-Up-Studie zeigte aber, dass 65 % der Kinder weiterhin Melatonin täglich einnahmen. 88 % berichteten eine hohe Effektivität von Melatonin gegen Einschlafverzögerungsprobleme. 71 % berichteten Verhaltensverbesserungen, 61 % berichteten eine verbesserte Stimmung. Ein Abbruch der Melatonineinnahme führte bei 92 % wieder zur Einschlafverzögerung. Ernsthafte Nebenwirkungen der Langzeiteinnahme fanden sich nicht.
Eine einzelne Studie berichtet, dass Melatonin in einem Mausmodell die ADHS-Symptome verringerte, die durch psychischen Stress (mittels atopischer Dermatitis) hervorgerufen worden waren. Weitere Berichte, dass Melatonin unmittelbar ADHS-Symptome verringert, sind uns nicht bekannt.
7. Sonstiges zu Melatonin¶
Die Tagesdosen von Melatonin als Medikament reichen von 0,5 Milligramm bis 8 Milligramm.
Retardiertes Melatonin soll nur bei vollständigem Ausfall der Melatoninproduktion verwendet werden. Eine Einnahme von unretardiertem Melatonin ca. 1 Stunde vor dem Schlafengehen kann hilfreich sein.
7.1. Messung von Melatonin¶
Die Messung erfolgt im Serum, im ersten Morgenurin oder im Speichel.
Die Messung des ersten Morgenurins ist nicht geeignet, das Tagesprofil zu ermitteln.
Das Melatonin-Freisetzungs-Profil wird durch stündliche Messung ab dem Dunkelwerden bis 1 Uhr nachts sowie beim Aufwachen ermittelt. Bei einem stark nach hinten verschobenen Chronobiorhythmus kann eine noch spätere nächtliche Messung erforderlich sein. Mögliche Messziele sind
- die Geschwindigkeit vom Anstieg ab Beginn der Ausschüttung bis zu einem Spiegel von 4 pg/ml
- die Höhe des Anstiegs
- eine frühe Erschöpfung des Melatoninspiegels.
Melatonin wird ab dem Dunkelwerden ausgeschüttet, wobei die Ausschüttung zuerst langsam und idR zwischen 22 und 23 Uhr schneller ansteigt (Akrophase). Der hohe Melatoninspiegel sinkt ab ca. 2 bis 4 Uhr wieder ab.
Der sogenannte Dämmerlicht-Melatonin-Onset wird mit dem Erreichen eines Werts von 3 pg/ml im Speichel festgestellt. 2 bis 3 Stunden nach dem Erreichen dieses Wertes tritt idR der Schlaf ein.
7.2. Risiken und Nebenwirkungen von Melatonin¶
Melatonin scheint ein sicheres Mittel zur Verbesserung von Schlafproblemen bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS zu sein. Die große Menge der Verwendung, die lang anhaltende Nutzungsdauer bei den jeweiligen Betroffenen und die steigenden Verwendungszahlen deuten auf eine Evidenz für eine erfolgreiche Nutzung hin. Dass es nur wenige große klinische Studien zur Nutzung von Melatonin bei Schlafproblemen bei ADHS gibt, dürfte auch daran liegen, dass patentfreie Wirkstoffe (wie Melatonin) für Pharmaunternehmen verständlicherweise nicht von wirtschaftlichem Interesse sind. Es ist nicht die Aufgabe von Pharmaunternehmen, die Wirksamkeit oder Sicherheit patentfreier Wirkstoffe zu untersuchen. Im Gegenteil bestünde wirtschaftlich betrachtet eher ein Interesse, negative Aspekte von Melatonin festzustellen, um eine Konkurrenz durch Melatonin als gemeinfreien Wirkstoff zu vermeiden. Doch auch derartige Berichte fehlen.
Wir konnten keine Studien finden, die das Auftreten von relevanten Nebenwirkungen von Melatonin dokumentieren. In Anbetracht der hohen Nutzerzahlen und der bereits lange andauernden Verwendung zur Behandlung von Schlafproblemen auch bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS betrachten wir die Abwesenheit von Berichten über Nebenwirkungen als Hinweis auf eine gute Verträglichkeit.
Gleichwohl gibt es Berichte über Nebenwirkungen von Melatonin bei dauerhafter Einnahme. In diesen Fällen dürfte sich eine intermittierende Einnahme empfehlen, bis alle 1 bis 2 Wochen eine 1- bis 2-tägige Einnahmeunterbrechung beinhaltet.
Ein Review konstatiert, dass keine relevanten Nebenwirkungen von Melatonin bekannt sind.
Erwachsene produzieren täglich ca. 20- bis 60 Mikrogramm Melatonin. Melatonin wird beim ersten Durchgang durch die Leber schnell resorbiert und metabolisiert, mit einer Halbwertszeit von 30 bis 40 Minuten (bei 3- bis 8-jährigen Kindern ebenso wie bei Erwachsenen, während Neugeborene eine Halbwertszeit von bis zu 20 Stunden zeigten) und einer Bioverfügbarkeit von 1 bis 37 %. In der Leber wird es von CYP1A220 zu 6-Hydroxymelatonin metabolisiert. und dann zu 6-Sulfatoxymelatonin sulfatiert oder zu Glucuronid konjugiert und ausgeschieden.
Ein zu hoher Melatoninspiegel kann Depressionen verursachen (Winterdepression).
Mögliche Nebenwirkungen können sein:
- Nächtliche Schweißausbrüche
- Nächtliche Hitzewallungen
- Stimmungsänderungen
- Unruhe
- Nervosität
- Angst
- Lethargie
- Albträume
- gelegentlich (bei einem von hundert bis tausend Behandelten) bis selten (bei einem von tausend bis zehntausend Behandelten)
- sehr lebendige Träume
- gelegentlich (bei einem von hundert bis tausend Behandelten) bis selten (bei einem von tausend bis zehntausend Behandelten)
- Magenkrämpfe
- gelegentlich (bei einem von hundert bis tausend Behandelten) bis selten (bei einem von tausend bis zehntausend Behandelten)
- Schwindel
- gelegentlich (bei einem von hundert bis tausend Behandelten) bis selten (bei einem von tausend bis zehntausend Behandelten)
- Kopfschmerzen
- gelegentlich (bei einem von hundert bis tausend Behandelten) bis selten (bei einem von tausend bis zehntausend Behandelten)
- Reizbarkeit
- gelegentlich (bei einem von hundert bis tausend Behandelten) bis selten (bei einem von tausend bis zehntausend Behandelten)
- verringertes sexuelles Verlangen
- gelegentlich (bei einem von hundert bis tausend Behandelten) bis selten (bei einem von tausend bis zehntausend Behandelten)
7.3. Abbau von Melatonin¶
Aufgrund des Abbaus von Melatonin über CYP1A2 sowie (weniger) CYP2C19 sollte eine Kombination mit Medikamenten, die ebenfalls hierüber abgebaut werden, mit erhöhter Vorsicht erfolgen.
Dieser Mechanismus erklärt zugleich die müdigkeitsfördernde Wirkung von Imipramin/Desipramin, die bei starker Ausprägung dazu führt, dass Imipramin eher abends eingenommen werden sollte.
Ein Wirkungsabfall von Melatonin könnte auf einer CYP1A2-Unteraktivität liegen. In diesem Fall empfehle sich eine Dosierungsverringerung.
7.4. Wechselwirkungen mit Melatonin¶
Wechselwirkungen mit Antithrombosemitteln und Antiepileptika sind möglich.
7.4.1. Verringerung der Wirkung von Melatonin¶
- Manche Psychopharmaka
- Alphablocker
- Betablocker
- Alkohol
- Schon moderate Alkoholdosen, eine Stunde vor der Schlafenszeit, bewirkten bei jungen Erwachsenen eine deutliche Verringerung des Melatoninspiegels.
7.4.2. Erhöhung der Wirkung von Melatonin¶
Aufgrund des Abbaumechanismus erhöhen Inhibitoren von CYP1A2 und CYP2C19 die Plasmaspiegel und Bioverfügbarkeit von Melatonin:
- Fluvoxamin
- hemmt den Abbau von Melatonin in der Leber; verstärkt Wirkdauer und Wirkkraft von Melatonin
- Desipramin
- folglich auch Imipramin, da dies zu Desipramin umgewandelt wird
- Koffein
- Theophyllin
- Citalopram / Escitalopram als CYP2C19-Inhibitor
- Ciprofloxacin
- hemmt den Abbau von Melatonin in der Leber; verstärkt Wirkdauer und Wirkkraft von Melatonin
7.4.3. Erhöhung der Wirkung anderer Medikamente durch Melatonin¶
Melatonin verstärkt die dämpfende Wirkung von u.a.:
- Benzodiazepine
- Zaleplon
- Zopiclon
- Zolpidem
- Imipramin
- Thioridazin