Viloxazin (±)-2-[(2-ethoxyphenoxy)methyl]morpholin Hydrochlorid; C13H20NO3Cl) (SPN-812) wird in den USA seit April 2021 zur Behandlung von ADHS bei Kindern von 6 bis 17 Jahren und von Depression zugelassen. Es war von 1976 bis 2006 in Europa als Antidepressivum zugelassen und wurde off-Label gegen Enuresis und Narkolepsie eingesetzt.
Markennamen: Viloxazin, Emovit, Viloxazina, Viloxazinum, Vivarint, Vicilan, Vivalan, Catatrol
Viloxazin-Kapseln mit verlängerter Wirkstofffreisetzung: Qelbree®, Supernus
Viloxazin moduliert die Serotonin- und Noradrenalinaktivität. Viloxazin erhöht den Serotoninspiegel im präfrontalen Cortex, erhöht jedoch nicht die Noradrenalinausschüttung. Es hat eine schwache Wirkung auf Dopamin und zeigt eine geringe Antriebssteigerung im Vergleich zu anderen ADHS-Medikamenten.
Viloxazin ist gut verträglich und hat Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit, verminderter Appetit und Kopfschmerzen.
Es sollte nicht bei Epilepsieneigung, schwerer Leberinsuffizienz oder während der Schwangerschaft eingenommen werden.
1. Wirkmechanismen von Viloxazin¶
Viloxazin unterscheidet sich von anderen ADHS-Medikamenten, die auf die Wiederaufnahme von Noradrenalin abzielen, und wird besser als ein Serotonin und Noradrenalin modulierendes Mittel beschrieben. Es hat eine antagonistische Aktivität an 5-HT-2B- und eine agonistische Aktivität an 5-HT-2C-Rezeptoren und erhöht den Serotoninspiegel im PFC. Es hat eine mäßige hemmende Wirkung auf den Noradrenalin-Transporter und eine mäßige Wirkung auf das noradrenerge und dopaminerge System. Dieser Befund steht im Einklang mit der geringen Rate kardialer Wirkungen in der klinischen Praxis.
Viloxazin besitzt keine Bindungsaffinität für den Dopamintransporter (DAT) und interagiert nicht direkt mit den Dopaminrezeptoren D1 und D2. Aufgrund seiner minimalen Wirkung auf Dopamin im Nucleus accumbens ist davon auszugehen, dass es eine geringe Gefahr des Substanzmissbrauchs darstellt. Die sofort freisetzende Viloxazin-Formulierung wurde zunächst als Antidepressivum in Europa vermarktet und später aus Gründen, die nicht mit der Sicherheit oder Wirksamkeit zusammenhängen, wieder eingestellt. Daten aus mehr als zwei Jahrzehnten Forschung an Erwachsenen haben gezeigt, dass Viloxazin im Vergleich zu den TCAs sicher und verträglich ist und weniger kardiovaskuläre Wirkungen und minimale Auswirkungen auf den Blutdruck hat.
Viloxazin wirkt als
- stark:
- selektiver Serotonin-5-HT2B-Rezeptor-Antagonist
- Serotonin-5-HT2C-Rezeptor-Agonist
- moderat:
- selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (Ki: 0,63 μM)
- dadurch Erhöhung von Dopamin und Noradrenalin im PFC
- keine zusätzliche Ausschüttung von Noradrenalin
- schwach:
- Serotonin-5-HT7-Rezeptor-Antagonist
- α1B-Adrenozeptor-Antagonist
- β2-Adrenozeptor-Antagonist
- sehr schwach:
- kompetitiver und reversibler Inhibitor der Monoaminoxidase A und B.
Viloxazin interagiert nicht mit dem DAT oder Dopaminrezeptoren.
Viloxazin erhöht nachweislich den Dopaminspiegel, Noradrenalinspiegel und Serotoninspiegel im PFC. Es scheint jedoch nicht als Serotoninwiederaufnahmehemmer zu wirken.
Es erhöht die Noradrenalinausschüttung nicht.
Viloxazin erhöht den Dopaminspiegel im Nucleus accumbens deutlich weniger als Stimulanzien. Die Behauptung der Autoren, dass Nichtstimulanzien geringere Nebenwirkungen zeigen würden, betrachten wir als verfehlt. Nichtstimulanzien (Atomoxetin, Guanfacin) haben im Vergleich zu Stimulanzien deutlich höhere Nebenwirkungen bei zugleich deutlich geringerer Effektstärke.
Andere In-vitro-Studien fanden keine Dopaminfreisetzung im Striatum und nur eine geringe Wirkung auf Dopaminrezeptoren oder DAT. In Nagetieren erhöhte Viloxazin Dopamin in vivo im PFC deutlich, in der Amygdala mäßig und im Nucleus accumbens minimal. Die Dopaminerhöhung im PFC dürfte eine Folge der NET-Wiederaufnahmehemmung sein. Die minimale Wirkung von Viloxazin auf Dopamin im Nucleus accumbens könnte auf eine geringe Missbrauchsanfälligkeit hindeuten. Wir vermuten daher eine geringere Antriebssteigerung als Stimulanzien.
Viloxazin erhöht den Plasmaspiegel des Adenosin-A1- und A2-Antagonisten Theophyllin deutlich. Es ist denkbar, dass ein Teil der Wirkung von Viloxazin bei ADHS auf die Dopamin erhöhende Wirkung des Adenosin-Antagonisten Theophyllin zurückzuführen sein könnte.
Entgegen fast aller bisher stark genutzten ADHS-Medikamente verändert Viloxazin den Histaminspiegel nicht. Viloxazin scheint an den Histaminrezeptoren H1 und H2 eine schwache kompetitive Hemmung auszuüben (< 25 %).
Pharmakologische Daten:
- Bioverfügbarkeit ca. 88 %
- Tmax (Zeit bis maximale Plasmakonzentration): ca. 5 Stunden bei 200 mg; 6 bis 9 Stunden
- Wirkstoff ist stark proteingebunden (76-82 %)
- Mittlere Halbwertszeit von Viloxazin ER beträgt 7 Stunden (2,25 bis 11,75 Stunden)
- Abbau hauptsächlich durch die Enzyme CYP2D6, UGT1A9 und UGT2B15
- 90 % des Arzneimittels werden über die Nieren ausgeschieden. Davon 12-15 % in unveränderter Form, der Rest als inaktive Metaboliten
2. Viloxazin bei ADHS¶
Viloxazin mit verlängerter Wirkstofffreisetzung (Viloxazin ER; SPN-812) zeigte sich in mehreren Phase-2- und Phase-3-Studien mit 200 bis 400 mg / Tag als wirksame und gut verträgliche Alternative für einige Kinder mit ADHS. Der Wirkmechanismus von Viloxazin ist einzigartig, denn es moduliert sowohl die Aktivität von Serotonin als auch von Noradrenalin.
Die Effektstärke von Viloxazin wurde in verschiedenen Studien zwischen 0,46 bis 0,63 ermittelt und ist damit erheblich schwächer als die Effektstärke von Stimulanzien (1,1 bis 1,5).
Verschiedene Phase-II und Phase-III-Studien fanden eine gute Wirkung von Viloxazin bei ADHS bei
- 100 und 200 mg / Tag
- 100, 200 und 400 mg / Tag
- 200 bis 400 g / Tag
- 400 oder 600 mg / Tag
Die verschiedenen Veröffentlichungen zu Phase-III stammen von einer identischen Autorengruppe.
Die Symptomreduktion nach 2 Wochen sagte den Behandlungserfolg nach 6 Wochen recht gut voraus.
Eine Vergleichsstudie fand deutliche Vorteile von Viloxazin ER gegenüber Atomoxetin.
Dosierung:
- Alter von 6 bis 11 Jahre
- empfohlene Anfangsdosis 100 mg oral einmal täglich
- Aufdosierung in Schritten von 100 mg wöchentlich
- empfohlene Höchstdosis 400 mg einmal täglich
- Alter von 12 bis 17 Jahren
- empfohlene Anfangsdosis 200 mg oral einmal täglich in der ersten Woche
- Aufdosierung bis zur maximalen Tagesdosis von 400 mg.
Bei Erwachsenen mit ADHS fand eine Studie bei 40,2 % der Probanden eine Symptom-Reduktion von mehr als 50 % gegenüber dem AISRS-Ausgangswert.
Eine Kombination von Viloxazin ist möglich mit
- Methylphenidat
- Lisdexamphetamin.
3. Nebenwirkungen und Kontraindikationen¶
3.1. Nebenwirkungen von Viloxazin¶
Zu den häufigsten unerwünschten Wirkungen von Viloxazin ER gehören:
- Schläfrigkeit
- verminderter Appetit
- Die Appetitverschlechterung durch Viloxazin scheint deutlich stärker als durch Atomoxetin (Metastudie, k = 26)
- Kopfschmerzen
- Müdigkeit
- Oberbauchschmerzen
- Übelkeit
- Erbrechen
- Reizbarkeit
Eine andere placebokontrollierte Studie an n = 384 Erwachsenen mit einer freien Dosistitrierung führte zu einer durchschnittlichen Dosis von 500 mg. Die häufigsten behandlungsbedingten unerwünschten Nebenwirkungen waren:
- Schlaflosigkeit (14,8 %)
- Müdigkeit (11,6 %)
- Übelkeit (10,1 %)
- Appetitlosigkeit (10,1 %)
- Mundtrockenheit (9,0 %)
- Kopfschmerzen (9,0 %).
Die Abbruchrate aufgrund von Nebenwirkungen betrug 9,0 % im Vergleich zu 4,9 % in der Placebogruppe.
3.2. Kontraindikationen für Viloxazin¶
Viloxazin sollte nicht eingenommen werden bei
- Epilepsieneigung
- schwere Leberinsuffizienz
- während oder bei beabsichtigter Schwangerschaft. Viloxazin kann den Fötus schädigen.
- vor Ablauf von vierzehn Tagen nach letzter Einnahme eines Monoaminoxidase-Hemmers (MAOI).
Bei einem kleinen Anteil kindlicher Probanden wurden erhöhte suizidale Tendenzen berichtet.
4. Abbau von Viloxazin¶
Viloxazin wird durch CYP2D6, UGT1A9 und UGT2B15 metabolisiert, möglicherweise auch durch CYP1A2.
Viloxazin ist ein potenter CYP1A2-Inhibitor.
Bei gleichzeitiger Einnahme von durch CYP1A2 metabolisierten Medikamenten kann eine Dosisreduktion von diesen erforderlich sein.