Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
Bei ADHS wird häufig eine veränderte Zeitwahrnehmung berichtet.
Daneben ist ADHS durch eine erhöhte Reaktionszeitvarianz in Reaktionstests gekennzeichnet. Die erhöhte Reaktionszeitvarianz unterscheidet ADHS deutlich von anderen psychischen Störungen wie Angst, PTBS, ODD, CD und typischen Entwicklungsstörungen.
Eine langsamere Reaktionszeit und eine größere Standardabweichung der Reaktionszeit können auf eine geringere Dekodiergenauigkeit des Gehirns zurückzuführen sein. Die Reaktionszeitvarianz ist besonders hoch bei ADHS-Betroffenen, die viele commission errors (Verwechslungsfehler, falsch-positive Fehler) machen. Zudem korrelieren erhöhte Cortisolausschüttungen mit einer erhöhten Varianz in der Antwortzeit.
ADHS zeigt eine spätere und weniger starke Verlangsamung der Reaktionszeit nach Fehlern im Vergleich zu Nichtbetroffenen. Eine erhöhte Reaktionszeit und Reaktionszeitvarianz scheinen zudem mit einer hohen Verfügbarkeit von Dopaminrezeptoren zu korrelieren, was mit einem verringerten Dopaminspiegel einhergeht.
Es gibt Hinweise auf eine kürzere Reaktionszeit bei ADHS, sowie noch stärker bei SCT. In einer Studie konnten die Reaktionszeit auf ein Stop-Signal, der Prozentsatz der fehlgeschlagenen Antwort-Hemmungen und die Standardabweichung der Reaktionszeit bis zum “Go”-Versuch (SDRT) ADHS-Betroffene und Nichtbetroffene erfolgreich unterscheiden. Die Ex-Gauß-Zerlegung der Reaktionszeit-Verteilung zeigte, dass sowohl ein größeres Tau als auch ein größeres Sigma die Ergebnisse für die SDRT beeinflussten. Die traditionellen Maße der hemmenden Kontrolle waren indes gleichwertige, wenn nicht sogar bessere Prädiktoren für den ADHS-Status als die ex-Gaußschen Parameter.
15.1. Reaktionszeitvarianz bei ADHS erhöht¶
ADHS ist gekennzeichnet von einer erhöhten Varianz der Reaktionszeit in Reaktionstests. Die erhöhte Reaktionszeitvariabilität soll insbesondere mit Problemen anhaltender Aufmerksamkeit korrelieren, was jedoch umstritten ist. Eine langsamere Reaktionszeit und eine größere Standardabweichung der Reaktionszeit scheint auch die Folge einer geringeren parieto-okzipitalen multivariaten Dekodiergenauigkeit zu sein, die etwa 240-340 ms nach Beginn der visuellen Suche auftrat.
Offenbar ist die Reaktionszeitvarianz bei der Gruppe von ADHS-Betroffenen, die besonders viele commission errors (Verwechslungsfehler, falsch-positive Fehler) machen, besonders hoch. Erhöhte Cortisolantworten auf einen Stressor korrelierten mit einer erhöhten Varianz in der Antwortzeit. Erhöhte Cortisolstressantworten sind beim ADHS-I-Subtyp sehr häufig und für den ADHS-HI-Subtyp untypisch.
Weiter wurde von einer späteren und verringerten Verlangsamung der Reaktionszeiten nach Fehlern als bei Nichtbetroffenen berichtet.
Erhöhte individuelle Reaktionsvarianz ist ein Zeichen von erhöhtem neuralem Rauschen. MPH verbessert dies. Neurales Rauschen wird durch arrhythmische Signale im Cortex repräsentiert, die als “1/f-Rauschen” im EEG messbar sind. Dopaminmangel verschlechtert den Signal-Rauschabstand. ADHS ist von verringerten Dopaminspiegeln im PFC und Striatum gekennzeichnet. Stimulanzien wie z.B. MPH heben den Dopaminspiegel dort an. Ein bis zum optimalen Maß steigender Dopaminspiegel verbessert den Signal-Rauschabstand.
Erhöhte Reaktionszeit und erhöhte Reaktionszeitvariabilität scheinen mit einer hohen Verfügbarkeit von Dopaminrezeptoren („leere Rezeptoren“) zu korrelieren, was mit einem verringerten tonischen Dopaminspiegel einhergeht.
Das Symptom der erhöhten Reaktionszeitvarianz unterscheidet ADHS zudem signifikant gegenüber anderen psychischen Störungen wie
- Angst
- Distress disorders (körperliche Stressstörungen, PTBS)
- Oppositionelles Trotzverhalten (ODD)
-
Störung des Sozialverhaltens (Conduct Disorder, CD)
- typische Entwicklungsstörungen
Wir testen derzeit einen Reaktionstest, um zu erforschen, ob die Reaktionszeitvariabilität zur ADHS-Diagnostik verwendet werden kann. Hier startet der ADxS.org – ADHS-Reaktionstest.
15.2. Reaktionszeitverkürzung bei ADHS?¶
Mehrere Untersuchungen und Berichte deuten auf eine kürzere Reaktionszeit bei ADHS hin. Nach Barkley sei insbesondere bei SCT (Sluggish Cognitive Tempo) die Reaktionszeit durchgehend verringert.
Nach einer anderen Untersuchung unterscheiden sich die Reaktionszeiten von ADHS-Betroffenen und Nichtbetroffenen nicht, jedoch sehr wohl die Sorgfaltsleistung.
ADHS-Betroffene, die den DRD4-7R-Gen-Polymorphismus trugen, der einer der Hauptkandidaten für erhöhte Sensibilität und ADHS ist, zeigten entgegen aller Erwartung keine schlechteren Reaktionszeiten als Nichtbetroffene. Wohl aber zeigten dies Träger anderer DRD4-Polymorphismen. Andere berichten von einer abweichenden audiovisuellen multisensorischen Verarbeitung.
Eine Untersuchung fand eine Korrelation von verlängerten Reaktionszeiten mit ADHS-I.
15.3. Rhythmusprobleme¶
Eine Studie berichtet, dass ADHS-Betroffene signifikant mehr Probleme haben, einen vorgegebenen Rhythmus mit den Fingern nachzuklopfen. Der Test zielt auf die Funktion des Cerebellums, das eine der bei ADHS involvierten Gehirnregionen ist.
Die Schwierigkeiten korrelierten mit dem Maß der Hyperaktivität/Impulsivität. Eine höhere Impulsivität korrelierte mit einer schnelleren Klopffrequenz,
15.4. Zeitwahrnehmung verändert¶
Bei ADHS ist die Zeitwahrnehmung verändert.
Dies betrifft die Wahrnehmung unterschiedlich langer Zeitabschnitte, obwohl die Wahrnehmung für diese verschiedenen Zeitfenster durch unterschiedliche Gehirnregionen erfolgt.
Während die Zeit in der Welt um uns eine einheitliche Geschwindigkeit hat, ist die Wahrnehmung dieser Geschwindigkeit individuell verschieden.
Bei ADHS bestehen Defizite bei der Reproduktion und Schätzung festgelegter Zeitdauern. Kinder mit ADHS neigen dazu, das Intervall eines bestimmten Zeitraums bei einer Schätzung länger anzugeben, als es war, während sie ihn zu kurz halten, wenn sie ihn reproduzieren sollen. ADHS-Betroffene haben demnach eine durchgängig abweichende innere Uhr. Die Geschwindigkeit kognitiver Funktionen, die auf zeitlicher Verarbeitung beruhen, sei erhöht. Dadurch vergeht für Menschen mit ADHS die Zeit subjektiv schneller als für Nichtbetroffene, sodass die reale Zeit als „schleppend“ empfunden wird. Diese Störung der subjektiven Zeitwahrnehmung soll nach den Autoren das verstärkte Vermeiden von Verzögerungen, die stärkere Wahrnehmung von Langeweile, das unangenehme Empfinden von Wartezeiten und die Abwertung entfernter Belohnungen erklären.
Wir halten dies für eine Fehlinterpretation. Vergeht die Zeit subjektiv schneller, müsste eine entfernte Belohnung im Vergleich zu Nichtbetroffenen relativ wertvoller werden, da die Belohnung subjektiv früher eintritt. Die Korrelation ist gleichwohl unbestritten, wir bezweifeln lediglich die Kausalität.
Eine Hypothese erklärt insbesondere Impulsivitätssymptome von ADHS mit interindividuellen Unterschieden in der Zeitwahrnehmung der ADHS-Betroffenen. Die Zeitschätzung von Kindern mit ADHS war noch schlechter, wenn diese eine besonders hohe Impulsivität hatten.
Eine Studie fand Hinweise, dass Hyperaktivität weniger auf eine verringerte Impulshemmung als auf eine veränderte Zeitwahrnehmung zurückzuführen sein könnten.
Eine schnellere subjektive Zeit bei ADHS wurde als zusätzlicher Faktor für eine Abwertung entfernter Belohnungen interpretiert. Dies scheint uns jedoch fragwürdig, denn wenn ein objektiver Zeitraum subjektiv schneller wahrgenommen wird, sollte dies mit einer subjektiv verkürzten wahrgenommenen Zeit einhergehen, was einer Abwertung entfernter Belohnungen eher entgegenstehen sollte.
Es besteht jedoch offenbar eine direktere Verbindung zwischen der Abwertung entfernterer Belohnungen und Impulsivität: Die subjektive Zeitwahrnehmung kann experimentell durch hyperbolische Verzögerungsdiskontierungsverfahren bewertet werden, um den Einfluss der Zeitwahrnehmung auf die Entscheidungsfindung zu modellieren. Die hyperbolische Verzögerungsdiskontierung beschreibt die (von ADHS bekannte) Tendenz, kleinere sofortige Belohnungen größeren, aber verzögerten Belohnungen vorzuziehen. Diese Methode geht damit von einer unmittelbaren Verknüpfung zwischen der Abwertung entfernterer Belohnungen und Impulsivität aus.
Auch aus der Suchtforschung wird eine Korrelation zwischen Impulsivität und einer Abwertung entfernterer Belohnungen berichtet, die auf eine veränderte Zeitwahrnehmung zurückgeführt wird.
Beim hyperbolischen Diskontierungsmodell sinken die Bewertungen zu Beginn relativ schnell (z.B. für Tage 1 bis 7), und für spätere Zeiträume langsamer (z.B. Tag 8 und später). IProbanden bewerteten es als gleichwertig, 15 USD sofort, 30 USD nach drei Monaten, 60 USD nach einem Jahr oder 100 USD nach drei Jahren zu erhalten. Die Abzinsungssätze sanken demnach mit zunehmender Dauer der Verzögerung von 277 % über 139 % auf 63 %.
Damit unterscheidet sich das hyperbolischen Diskontierungsmodell von einem linearen Diskontierungsmodell, bei dem die Bewertung für jede Zeiteinheit des Wartens um das gleiche Maß sinkt.
Bei einem Videospiel, in dem Belohnungen zeitlich von der Handlung entkoppelt waren, erzielten ADHS-Betroffene genauso gute Exekutivfunktionsleistungen wie Nichtbetroffene. Eine Studie berichtet, dass die Selbstwahrnehmung von Aufmerksamkeitsschwierigkeiten bei ADHS (und ASS) nicht mit der tatsächlichen Leistung in Aufmerksamkeitstests korreliert.
Die Zeitwahrnehmung wird im Gehirn durch ein komplexes Netzwerk aus Zeitgebern, Akkumulatoren und Vergleichselementen geregelt. Dabei sind der Hippocampus und der entorhinale Cortex für die längeren Zeitmaße und das Cerebellum für die Zeitmaße von Sekundenbruchteilen, wie sie insbesondere für die Gehirn-Muskel-Koordination erforderlich sind, verantwortlich.